Es gibt Filme, die Feuer fangen, lange bevor wir sie sehen. Sie richten sich nicht an bestimmte Menschen oder eine Sache, sondern gegen einen ungenannten Feind. Sie sind in gewisser Weise Filmkritiken und zwar in einem längst vergessenen Sinn des Wortes, nämlich jenem, der die Filmgeschichte hinterfragt und dadurch weiterträgt. Im Vergleich zu einer bloßen Kritik besitzen sie den Vorteil, es gleich besser machen zu können. Es sind also auch ohnmächtige Filme, Schreie in einen gleichgültigen Wald, der alles zu verschlucken droht. Radu Judes Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii ist eine solche Arbeit.
Man muss sich das folgendermaßen vorstellen (wenn man noch weiß, wie man sich irgendwas vorstellt im Kino): In der sich selbst anödenden und unendlich reproduzierenden Masse schöner, ideologischer anregender, mundgerecht verpackter, harmonischer, selbstwichtiger, inhalts- und zweckleerer Bilder regt sich eine Unzufriedenheit, die bemerkt, dass diese Bilder, diese Art zu Sprechen, diese verkappten Moralpredigten eigentlich nichts mit einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit zu tun haben. Die besseren Filme heute folgen vergangenen Ideen vom Kino, die schlechteren und meisten haben keine Ahnung, was sie da eigentlich machen. Ein wenig, so stelle ich es mir zumindest vor, entsteht Judes jüngster Film aus einem ähnlichem Gefühl wie jenem, das den großen polnischen Schriftsteller Witold Gombrowicz heimsuchte, als er die Texte seiner Landsleute las oder die staatlichen Museen betrat. Ein wenig so, wie es François Truffaut ergangen ist, als er die französischen Filme der 1950er Jahre sah.
Selten hat man einen derart überschäumenden, bewusst unausgewogenen, geradezu obsessiv nach der Gegenwärtigkeit eines zwischen Nostalgie und Selbstaufgabe hängenden Mediums suchenden Film gesehen wie diesen. Es ist davon auszugehen, dass er für die meisten, die ihn sehen, zu viel sein wird und genau darin liegt seine immense Kraft. Was nach dem Sehen bleibt, ist der gallige Geschmack einer Aufmerksamkeitsimplosion, die in einem widerwärtigen Netz aus neoliberalen Wirklichkeiten, Bildökonomien und einem unendlich verzweigten, nicht zwischen dem angeblichen kulturellen Wert einer Assoziation unterscheidenden Referenzrahmen ein unwahrscheinliches Zuhause für das Kino findet.
Man könnte sagen, dass das, was frühe Theoretiker des Kinos zwischen der Stadt und dem Kino sahen, hier übersetzt wurde ins Jetzt. Judes Stadt, auch wenn sie mit Bukarest noch benannt wird, ist nicht mehr begehbar, sie ist eine Erfahrung, eine Überfahrung, die wir alle kennen. Das Erfahren des Films wird da keine Abhilfe schaffen, er gliedert sich gewissermaßen sogar ein in diese Welt, die er beschreibt, aber doch macht er einen kleinen kritischen Überrest sichtbar, sei es durch ein Lachen oder eine aufkeimende Wut und genau diese Reste, pockets wie die Briten sagen, sind es, die das Kino noch einmal atmen lassen. Dabei lässt sich paradoxerweise auch sagen, dass dies nur ein Film ist. Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii möchte nicht mehr sein als ein Film. Wie selten einem das heute begegnet!
Normal schreibt man nun, um die Lesenden nicht zu verlieren, von den Strängen, denen der Filmemacher folgt, man beschreibt die Bilder und Handlungen und derlei, aber alle, die heute Tagebuch schreiben und versuchen, ihre Erlebnisse vor Bildschirmen, mit Menschen, in ihrem Kopf und Bauch in eine wie auch immer geartete Form zu gießen versuchen, wissen, dass das zwecklos ist. Wir leben in einer Zeit, in der das Bedeutende sich so mühelos mit dem Unbedeutenden verbindet, das Flüchtige und Bleibende ununterscheidbar geworden scheinen, sodass sich alles nur mehr in Fetzen beschreiben lässt. Jude findet dafür eine angemessen löchrige, überbohrende Struktur (eigentlich im Plural zu denken), die einem Fächer gleicht, der aus einer leeren Mitte nach außen wächst. Jede der Bewegungen in Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii dreht sich unentwegt um diese Leere, wird nie stoppen und rennt doch gleichsam gegen eine soziale und politische Ungerechtigkeit an, die das Fortlaufen der Geschichte als einzigen großen Witz begreift, als lächerlich, so lächerlich wie es nur Menschen aus jenen Völkern begreifen können, die bemerkt haben, dass die leuchtenden Sterne am Horizont die gleichen sind, die ehemals erloschen.
Da gibt es also einmal die von einer österreichischen Firma beschäftigte Angela, die durch Bukarest fährt und fährt und fährt (bis zu 20h lang ist ihr Arbeitstag), um einige Aufträge zu erfüllen und Protagonisten für ein Video über Sicherheit am Arbeitsplatz zu finden. Die zugleich ziellosen wie bestimmten Bewegungen der oft im Auto gefilmten Figur erinnern an jene in Judes Aferim! oder Babardeală cu bucluc sau porno balamuc, es sind letztlich Vorwände, um Orte und Begegnungen zu filmen. Schnell wird klar, dass die Arbeitsunfälle schlicht Folge einer untragbaren Arbeitssituation sind, also genau der gleichen, in der sich Angela befindet. Im Video, das die Protagonisten am Ende drehen, wird ihre Machtlosigkeit sichtbar, denn die Firma bestimmt letztlich, was gesagt werden darf und was nicht, aber im Kino Judes gibt es einen anderen Weg, einen Ausweg, eine Rache an der Wirklichkeit. Man spürt einen besorgten Humanismus, der sich aber nie in den Klischees eines sozial engagierten Kinos ausbuchstabiert. Jude ist näher an Makavejev als an Loach.
Gleichzeitig unterbricht der Filmemacher diese Bewegung mit der eines anderen Films, nämlich Lucian Bratus Angela merge mai departe aus dem Jahr 1981. Seltsames geschieht zwischen den beiden Angelas und das nicht nur weil Hauptdarstellerin Dorina Lazar später in ihre alte Rolle schlüpft, um der Angela von heute zu begegnen. Man könnte die wiederholten, stellenweise verlangsamten Bilder aus Bratus Film in jenen Kontext bringen, den Alexander Horwath, langjähriger Direktor des Österreichischen Filmmuseums, einmal in einer Reihe als „zweites Leben“ umschrieben hat, also auch als Rezidiv. Nicht nur schaut dabei das angeblich Neue auf das angeblich Alte, sondern das Alte blickt auch auf das Neue zurück. Geschwüre wachsen ineinander, nur weil wir die Geschichte verklären, heißt das nicht, dass wir nicht in deren Fußstapfen leben. Dabei offenbart sich nichts Eindeutiges, auch nichts Dialektisches, wobei ein wenig schon, schließlich ließe sich als Synthese ein gigantischer Haufen Scheiße erkennen, der eine sich selbst zersetzende Gesellschaft schonungslos gegen einen Spiegel fährt und zumindest in zunehmender Erschöpfung darauf zuhält.
Das titelgebende Ende der Welt ist wahrlich trostlos. Selbst wenn der Spiegel bricht und man durch ihn wandelt, wartet da keine Eurydike, sondern lediglich Bóbita, das satirisch der toxisch-vulgären Männlichkeit gewidmete Tik-Tok-Alter-Ego Angelas. Vielleicht sind ihre Rants ein wenig das, was Jude als möglichen Ausweg sieht, der große Mittelfinger gegen die sich immer irgendwie und irgendwo anpassende Kultur, die Freiheit, das zu sagen, was nicht mehr gesagt wird. Nischen gegen die erwartete Norm. So lässt sich auch der Auftritt Uwe Bolls erklären, jenes Filmemachers, der immer weiter macht, obwohl so viele ihm davon abraten. Kunst wird bei Jude zum Boxkampf gegen die Kräfte, die nicht an sie glauben. Sein eigener Film möchte lieber Tik-Tok sein als das von Geldgebern zensierte Schaffen der Arbeitssicherheitsvideos, man könnte sagen, Jude versucht Filme in den Fußnoten zu drehen, das Kino als Making-Of der anderen Bildformen. Das erinnert auch an seinen Imi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari, der hinter die Produktion einer Theaterperformance blickte. Es ist nur so, dass das, was wir im Deutschen die Blicke hinter etwas nennen, oft nur die Blicke direkt auf etwas sind. Man darf sich fragen, wo wir sonst hinschauen.
Dabei schleudert der Filmemacher nur so mit Bildformaten um sich, jede Form von Reinheit, von ästhetischer Kohärenz ist ihm fremd und auch wenn sie es nicht ist, möchte er sich nicht auf dem ausruhen, was das Kino auch ohne ihn könnte. Sein Kino denkt wie auf einem Trampolin, kein Sprung möchte dem vorherigen gleichen. Das gilt atemlos von Film zu Film, aber auch von Bild zu Bild. Ähnliches lässt sich über die unzähligen Zitate sagen, die durch den Film sprühen und an jene Liebe für Zitate denken, die bereits die Hauptfigur von Judes Inimi cicatrizate heimsuchte. Bei Jude sprechen die Figuren nie einfach einen Dialog, der ihnen in den Mund gelegt wird. Sie sprechen unfreie Worte, Worte, die sich auf etwas beziehen, die zitieren, imitieren, anspielen. Dabei fällt auf, dass die Arbeitenden mit intellektuellen Referenzen aufwarten, unbedingtes Begehren marxistischer Träume, und kein Unterschied gemacht wird zwischen dem sogenannten Hohen und Niedrigen in der Kunst. Den gerade in den Übersetzungen vorhandenen Bedeutungsverlust akzeptiert Jude, weil er das Kino nicht entfremden will von eben jenem Verlust, er will es darin ansiedeln. Sein Kino, der von Haikus und Desktoplogos durchzogene Abspann erzählt davon, träumt davon, eine Linksammlung zu sein, die Linksammlungen hinterfragt.
Über das Spiel des großen Fußballspielers Andrés Iniesta schrieben die katalanischen Zeitungen einst, dass er auf dem Platz Süßigkeiten verteile, über Jude ließe sich Ähnliches behaupten, wobei man nie weiß, ob die Süßigkeit auf der Zunge explodiert, verbrennt oder dahinschmilzt. Wer einen guten Film sehen will, muss anderswo suchen. Wer einen guten Film sehen will, kommt an diesem nicht vorbei.