Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

What if I film my way out of here?

Text: Luk Polleit

Zum Anfang mei­ner Ober­schul­zeit stritt ich gele­gent­lich über Erin­ne­run­gen. Für mich war es das Alter, in dem ich das ers­te Mal zurück­blick­te. Nicht bloß auf das letz­te Tref­fen, son­dern auf eine von mei­nem jet­zi­gen Ich son­der­bar abge­trenn­te Zeit, die den­noch zu mir gehör­te. Meist stritt ich mit mei­ner Mut­ter, wenn ich Urlaubs­ge­schich­ten fort­setz­te mit Anek­do­ten, an die sich sonst komi­scher­wei­se nie­mand erin­ner­te. Ein­mal frag­te ich einen Freund, den ich nun auf der Ober­schu­le wie­der­traf, ob er sich erin­ner­te, wie er mir im Kin­der­gar­ten ein­mal eine Kan­ne Apfel­saft über den Kopf geschüt­tet hat­te. Ein etwas kläg­li­cher Ver­such unse­re alte Freund­schaft auf­zu­wär­men, doch er erin­ner­te sich nicht. Komisch. Dabei war mir alles so plas­tisch vor Augen, die Längs­sei­te des Tisches, die gebo­ge­ne Kan­ne aus abge­wetz­tem Kunst­stoff. Zunächst etwas ungläu­big, ließ er sich doch schnell von mei­ner Geschich­te begeis­tern und erzähl­te sie künf­tig selbst wei­ter. Mich hin­ge­gen über­ka­men Zwei­fel. Das war doch ein aus dem All­tag eines Kin­der­gar­ten­jun­gen her­aus­ra­gen­des Ereig­nis. Wie konn­te er das ver­ges­sen haben? Und müss­te das nicht eine kano­ni­sier­te Fami­li­en­le­gen­de gewor­den sein, die man sich schmun­zelnd auf Geburts­ta­gen erzähl­te, wenn es sonst nichts zu sagen gab? War das Gan­ze wirk­lich pas­siert? Um die Ver­brei­tung die­ser durch­aus scham­be­haf­te­ten Anek­do­te nicht unnö­tig zu befeu­ern, frag­te ich nicht wei­ter nach. Mei­nen Freund hin­ge­gen hör­te ich immer mal wie­der amü­siert die­se Geschich­te erzäh­len, wäh­rend sich mei­ne Zwei­fel mit mora­li­schen Ein­wän­den zu mischen began­nen. Konn­te er sich wirk­lich erin­nern oder war das bloß eine Fort­füh­rung mei­ner Erin­ne­rung von nun frag­li­chem Sta­tus? Hat­te ich ihn ange­lo­gen? Schlim­mer noch, ihm, wie ein CIA-Fol­te­rer eine fal­sche Erin­ne­rung ein­ge­pflanzt? Mich zum Herrn über sei­ne Gedan­ken aufgeschwungen?

Wenn man doch bloß noch ein­mal nach­schau­en könn­te. Paso­li­ni fass­te das Pro­blem ein­mal in ein Bild aus dem Film. Er ver­glich das Leben mit einem ein­zi­gen Long-Take. Stets bloß einer aus vie­len mög­li­chen Win­keln, läuft unse­re Per­spek­ti­ve unauf­halt­sam fort. Es gibt kein Stop­pen und Nach­se­hen. Erst der Tod erlaubt eine abschlie­ßen­de Mon­ta­ge. Aber was macht man nun mit die­sen her­um­geis­tern­den Erin­ne­run­gen, die sich bei jedem Kon­takt verformen?

In My Win­ni­peg gibt es eine Sze­ne, in der der Regis­seur Guy Mad­din an sein altes Zuhau­se zurück­denkt, doch jedes Mal ist es ein ande­res. Grö­ßer, klei­ner, län­ger, brei­ter, nie ganz das Zuhau­se. Mad­din, der ver­sucht sich von sei­nem Geburts­ort zu lösen, beginnt das Netz aus Fami­li­en- und Stadt­ge­schich­te, Traum und Erin­ne­run­gen, das ihn in Win­ni­peg gefan­gen hält, auf­zu­tren­nen. Doch in der träu­me­ri­schen Wan­de­rung durch die Ver­gan­gen­heit ent­wischt sie immer wie­der. Die Erin­ne­run­gen sind zu weich, um sie zu packen. Mad­din reicht es: «It’s time for extre­me mea­su­res!» und er greift zu einer eigen­sin­ni­gen Metho­de, sie in fes­te Mate­rie zu ban­nen. «What if I film my way out of here?». Was, wenn ich die Erin­ne­run­gen wie­der­auf­füh­re, um sie auf einem Film­strei­fen zu fixie­ren? Mad­din scheint völ­lig unbe­ein­druckt von der Unum­kehr­bar­keit der Zeit. Als stün­de die­ser zeit­li­chen Ver­schie­bung nichts im Wege außer ihrer kon­kre­ten Umset­zung, mie­tet der Film-Mad­din, vom Regis­seur-Mad­din gespro­chen und von Dar­cy Fehr ver­kör­pert, also einen Monat lang sein altes Kind­heits­haus wie­der an. Das qua­dra­ti­sche Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­haus mit dem „pein­li­chen“, inte­grier­ten Beau­ty-Salon füllt Mad­din mit sei­ner Mut­ter, einem Schau­spiel­ensem­ble, das den Rest der Fami­lie spielt, und den alten Möbeln. Alles wird akri­bisch, aber den­noch mit Mad­din ange­neh­men Anpas­sun­gen in eine Zeit zurück­ver­setzt, in der er unge­fähr sie­ben Jah­re alt gewe­sen sein muss. Der Chi­hua­hua ist nun der Mops von Mad­dins Freun­din und der ver­stor­be­ne Vater sitzt ganz in Mad­dins Sin­ne beim gemein­sa­men Fern­se­hen nicht mit auf der Couch, son­dern – ein Kom­pro­miss mit den For­de­run­gen sei­ner Mut­ter – wird unter dem Tep­pich mit­ten im Wohn­zim­mer neu bestat­tet. Ein­zi­ger Stör­fak­tor: Die aktu­el­le Mie­te­rin, die spon­tan beschließt, ihre Zeit auch im Wohn­zim­mer zu ver­brin­gen. Irgend­wo müs­sen eben Abstri­che gemacht werden.

Von hier aus über­nimmt Mad­din die Macht über die eige­ne Ver­gan­gen­heit. Er wird selbst zugleich Regis­seur und Akteur sei­ner Erin­ne­run­gen, die so in neu­er Klar­heit erschei­nen kön­nen. Die­se luzi­de Zwi­schen­po­si­ti­on erlaubt die genaue Betrach­tung und Neu­be­wer­tung – einer­seits ein Teil von ihr und zugleich betrach­tend außer­halb. Zuerst reinsze­niert Mad­din eine unbe­lieb­te Haus­halts­auf­ga­be. Wobei sich die Arbeit mit sei­ner Mut­ter, die sich nicht an die «wah­re Ver­gan­gen­heit» erin­nert – eine ver­trau­te Erfah­rung – schwie­rig gestal­tet. Die Begra­di­gung des Flur­läu­fers schei­tert dar­an die Schau­spie­len­den in die die­ser unmög­li­chen Auf­ga­be ange­mes­se­ne Frus­tra­ti­on zu ver­set­zen, was eben­die­se bei Mad­din selbst jedoch erfolg­reich wie­der­auf­kom­men lässt. Als Nächs­tes steht die Wie­der­auf­füh­rung eines alten Fami­li­en­streits zwi­schen Mad­dins Mut­ter und Schwes­ter an, in der die all­wis­sen­de, rigi­de Mut­ter Sher­lock-Hol­mes-artig Mad­dins Schwes­ter «über­führt», im Fami­li­en­au­to Sex gehabt zu haben. Die vor­ge­scho­be­ne Geschich­te eines Wild­un­falls, der das lan­ge Weg­blei­ben erklä­ren soll, durch­schaut sie sofort. Wäh­rend am Aus­gangs­punkt die­ser Sze­ne­rie ein leich­tes Unbe­ha­gen über die Här­te der Mut­ter in die­ser Situa­ti­on stand, erlaubt die Reinsze­nie­rung abschlie­ßend einen kla­ren Blick auf ihre Rol­le als freu­dia­nisch über­zeich­ne­te Mut­ter­fi­gur, die all­mäch­tig jeden Moment in Mad­dins Leben im Blick und damit die Kon­trol­le über das sexu­el­le Begeh­ren ihrer Kin­der behält.

Die­se Reinsze­nie­run­gen zei­gen alle inten­si­ve per­sön­li­che Erfah­run­gen. Ihr Ziel ist nicht Objek­ti­vi­tät, son­dern per­sön­li­che Klar­heit. Im Neu­auf­bau, im erneu­ten Voll­zug der Sze­ne­rie ver­rät sich etwas, nicht in dem mög­lichst genau­en Abgleich mit Ver­gan­ge­nem. Es ist das Auf­bau­en, das sie aus der Erin­ne­rung her­aus nach außen ver­la­gert und neu sicht­bar macht. Sicht­bar für das­sel­be Ich, aber zu einer ande­ren Zeit. Dabei ver­än­dert sich das Gesche­he­ne not­wen­dig, wird gefärbt durch heu­ti­ge Wün­sche und Neu­be­wer­tun­gen, aber erst durch die­se Anpas­sun­gen leben die Erfah­run­gen in vol­ler Inten­si­tät wie­der auf.

Dass das Wie­der­auf­le­ben fil­misch geschieht, scheint mir kein Zufall. In der­sel­ben Flüch­tig­keit erscheint das Erfah­re­ne noch ein­mal und ver­schwin­det sogleich wie­der. Das Span­nen­de an Mad­din ist die Hier­ar­chie­lo­sig­keit, mit der er sei­ne Bil­der ver­knüpft. Die Erzäh­lung springt frei asso­zi­ie­rend von den insze­nier­ten Erin­ne­run­gen zu städ­ti­schen Geschich­ten und Legen­den, Träu­men und Wün­schen. Vom Gene­ral­streik 1919 zu Mad­dins ers­tem kind­li­chen Begeh­ren gegen­über den rebel­li­schen Gym­na­si­as­tin­nen. Die beweg­ten Film­bil­der ver­schmel­zen alles unter­schieds­los mit­ein­an­der. Traum und Wirk­lich­keit wer­den zum glei­chen Rang erho­ben, indem sie die­sel­be Exis­ten­z­wei­se tei­len. In den Film­bil­dern ste­hen sie völ­lig gleich­be­rech­tigt in ihrer Wirk­sam­keit aufs Heu­te neben­ein­an­der. Eines folgt auf das nächs­te, ohne eine kla­re Mar­kie­rung von Dif­fe­ren­zen. Nur wer so herr­schafts­los mit sei­nen Bil­dern umgeht, kann Ver­gan­ge­nes wirk­lich neu auf­le­ben las­sen, ohne das not­wen­di­ge Schei­tern eines voll­kom­me­nen Blicks zurück. 

Und mei­ne Erin­ne­rung? Jah­re spä­ter dreh­te mein Freund den Spieß ein­mal um und frag­te bei einem Tref­fen, mei­nes Erach­tens etwas zu erhei­tert und sei­ne eige­ne Posi­ti­on als Gieß­bö­se­wicht ver­ken­nend, ob ich mich an die Geschich­te mit der Kan­ne erin­nern kön­ne. Ich? Ich war doch ihr Ursprung gewe­sen. Plag­te ich mich etwa völ­lig umsonst und das Gan­ze war doch ein­fach ganz genau so gesche­hen? Alles geriet durch­ein­an­der. Die Erin­ne­rung war mir ent­wischt. Sie hat­te sich ver­selbst­stän­digt, sich aus mei­nem Kopf ver­ab­schie­det und begann ein Eigen­le­ben zu füh­ren, völ­lig rück­sichts­los gegen­über ihrem eige­nen Ursprung. Mein per­sön­li­cher Anspruch auf beson­de­ren Zugang zu ihr war erlo­schen. Was tun mit die­ser ent­wisch­ten Erin­ne­rung? Sie wei­ter her­um­geis­tern las­sen oder doch den Ver­such wagen, sie zu bannen?