Text: Luk Polleit
Zum Anfang meiner Oberschulzeit stritt ich gelegentlich über Erinnerungen. Für mich war es das Alter, in dem ich das erste Mal zurückblickte. Nicht bloß auf das letzte Treffen, sondern auf eine von meinem jetzigen Ich sonderbar abgetrennte Zeit, die dennoch zu mir gehörte. Meist stritt ich mit meiner Mutter, wenn ich Urlaubsgeschichten fortsetzte mit Anekdoten, an die sich sonst komischerweise niemand erinnerte. Einmal fragte ich einen Freund, den ich nun auf der Oberschule wiedertraf, ob er sich erinnerte, wie er mir im Kindergarten einmal eine Kanne Apfelsaft über den Kopf geschüttet hatte. Ein etwas kläglicher Versuch unsere alte Freundschaft aufzuwärmen, doch er erinnerte sich nicht. Komisch. Dabei war mir alles so plastisch vor Augen, die Längsseite des Tisches, die gebogene Kanne aus abgewetztem Kunststoff. Zunächst etwas ungläubig, ließ er sich doch schnell von meiner Geschichte begeistern und erzählte sie künftig selbst weiter. Mich hingegen überkamen Zweifel. Das war doch ein aus dem Alltag eines Kindergartenjungen herausragendes Ereignis. Wie konnte er das vergessen haben? Und müsste das nicht eine kanonisierte Familienlegende geworden sein, die man sich schmunzelnd auf Geburtstagen erzählte, wenn es sonst nichts zu sagen gab? War das Ganze wirklich passiert? Um die Verbreitung dieser durchaus schambehafteten Anekdote nicht unnötig zu befeuern, fragte ich nicht weiter nach. Meinen Freund hingegen hörte ich immer mal wieder amüsiert diese Geschichte erzählen, während sich meine Zweifel mit moralischen Einwänden zu mischen begannen. Konnte er sich wirklich erinnern oder war das bloß eine Fortführung meiner Erinnerung von nun fraglichem Status? Hatte ich ihn angelogen? Schlimmer noch, ihm, wie ein CIA-Folterer eine falsche Erinnerung eingepflanzt? Mich zum Herrn über seine Gedanken aufgeschwungen?
Wenn man doch bloß noch einmal nachschauen könnte. Pasolini fasste das Problem einmal in ein Bild aus dem Film. Er verglich das Leben mit einem einzigen Long-Take. Stets bloß einer aus vielen möglichen Winkeln, läuft unsere Perspektive unaufhaltsam fort. Es gibt kein Stoppen und Nachsehen. Erst der Tod erlaubt eine abschließende Montage. Aber was macht man nun mit diesen herumgeisternden Erinnerungen, die sich bei jedem Kontakt verformen?
In My Winnipeg gibt es eine Szene, in der der Regisseur Guy Maddin an sein altes Zuhause zurückdenkt, doch jedes Mal ist es ein anderes. Größer, kleiner, länger, breiter, nie ganz das Zuhause. Maddin, der versucht sich von seinem Geburtsort zu lösen, beginnt das Netz aus Familien- und Stadtgeschichte, Traum und Erinnerungen, das ihn in Winnipeg gefangen hält, aufzutrennen. Doch in der träumerischen Wanderung durch die Vergangenheit entwischt sie immer wieder. Die Erinnerungen sind zu weich, um sie zu packen. Maddin reicht es: «It’s time for extreme measures!» und er greift zu einer eigensinnigen Methode, sie in feste Materie zu bannen. «What if I film my way out of here?». Was, wenn ich die Erinnerungen wiederaufführe, um sie auf einem Filmstreifen zu fixieren? Maddin scheint völlig unbeeindruckt von der Unumkehrbarkeit der Zeit. Als stünde dieser zeitlichen Verschiebung nichts im Wege außer ihrer konkreten Umsetzung, mietet der Film-Maddin, vom Regisseur-Maddin gesprochen und von Darcy Fehr verkörpert, also einen Monat lang sein altes Kindheitshaus wieder an. Das quadratische Mehrgenerationenhaus mit dem „peinlichen“, integrierten Beauty-Salon füllt Maddin mit seiner Mutter, einem Schauspielensemble, das den Rest der Familie spielt, und den alten Möbeln. Alles wird akribisch, aber dennoch mit Maddin angenehmen Anpassungen in eine Zeit zurückversetzt, in der er ungefähr sieben Jahre alt gewesen sein muss. Der Chihuahua ist nun der Mops von Maddins Freundin und der verstorbene Vater sitzt ganz in Maddins Sinne beim gemeinsamen Fernsehen nicht mit auf der Couch, sondern – ein Kompromiss mit den Forderungen seiner Mutter – wird unter dem Teppich mitten im Wohnzimmer neu bestattet. Einziger Störfaktor: Die aktuelle Mieterin, die spontan beschließt, ihre Zeit auch im Wohnzimmer zu verbringen. Irgendwo müssen eben Abstriche gemacht werden.
Von hier aus übernimmt Maddin die Macht über die eigene Vergangenheit. Er wird selbst zugleich Regisseur und Akteur seiner Erinnerungen, die so in neuer Klarheit erscheinen können. Diese luzide Zwischenposition erlaubt die genaue Betrachtung und Neubewertung – einerseits ein Teil von ihr und zugleich betrachtend außerhalb. Zuerst reinszeniert Maddin eine unbeliebte Haushaltsaufgabe. Wobei sich die Arbeit mit seiner Mutter, die sich nicht an die «wahre Vergangenheit» erinnert – eine vertraute Erfahrung – schwierig gestaltet. Die Begradigung des Flurläufers scheitert daran die Schauspielenden in die dieser unmöglichen Aufgabe angemessene Frustration zu versetzen, was ebendiese bei Maddin selbst jedoch erfolgreich wiederaufkommen lässt. Als Nächstes steht die Wiederaufführung eines alten Familienstreits zwischen Maddins Mutter und Schwester an, in der die allwissende, rigide Mutter Sherlock-Holmes-artig Maddins Schwester «überführt», im Familienauto Sex gehabt zu haben. Die vorgeschobene Geschichte eines Wildunfalls, der das lange Wegbleiben erklären soll, durchschaut sie sofort. Während am Ausgangspunkt dieser Szenerie ein leichtes Unbehagen über die Härte der Mutter in dieser Situation stand, erlaubt die Reinszenierung abschließend einen klaren Blick auf ihre Rolle als freudianisch überzeichnete Mutterfigur, die allmächtig jeden Moment in Maddins Leben im Blick und damit die Kontrolle über das sexuelle Begehren ihrer Kinder behält.
Diese Reinszenierungen zeigen alle intensive persönliche Erfahrungen. Ihr Ziel ist nicht Objektivität, sondern persönliche Klarheit. Im Neuaufbau, im erneuten Vollzug der Szenerie verrät sich etwas, nicht in dem möglichst genauen Abgleich mit Vergangenem. Es ist das Aufbauen, das sie aus der Erinnerung heraus nach außen verlagert und neu sichtbar macht. Sichtbar für dasselbe Ich, aber zu einer anderen Zeit. Dabei verändert sich das Geschehene notwendig, wird gefärbt durch heutige Wünsche und Neubewertungen, aber erst durch diese Anpassungen leben die Erfahrungen in voller Intensität wieder auf.
Dass das Wiederaufleben filmisch geschieht, scheint mir kein Zufall. In derselben Flüchtigkeit erscheint das Erfahrene noch einmal und verschwindet sogleich wieder. Das Spannende an Maddin ist die Hierarchielosigkeit, mit der er seine Bilder verknüpft. Die Erzählung springt frei assoziierend von den inszenierten Erinnerungen zu städtischen Geschichten und Legenden, Träumen und Wünschen. Vom Generalstreik 1919 zu Maddins erstem kindlichen Begehren gegenüber den rebellischen Gymnasiastinnen. Die bewegten Filmbilder verschmelzen alles unterschiedslos miteinander. Traum und Wirklichkeit werden zum gleichen Rang erhoben, indem sie dieselbe Existenzweise teilen. In den Filmbildern stehen sie völlig gleichberechtigt in ihrer Wirksamkeit aufs Heute nebeneinander. Eines folgt auf das nächste, ohne eine klare Markierung von Differenzen. Nur wer so herrschaftslos mit seinen Bildern umgeht, kann Vergangenes wirklich neu aufleben lassen, ohne das notwendige Scheitern eines vollkommenen Blicks zurück.
Und meine Erinnerung? Jahre später drehte mein Freund den Spieß einmal um und fragte bei einem Treffen, meines Erachtens etwas zu erheitert und seine eigene Position als Gießbösewicht verkennend, ob ich mich an die Geschichte mit der Kanne erinnern könne. Ich? Ich war doch ihr Ursprung gewesen. Plagte ich mich etwa völlig umsonst und das Ganze war doch einfach ganz genau so geschehen? Alles geriet durcheinander. Die Erinnerung war mir entwischt. Sie hatte sich verselbstständigt, sich aus meinem Kopf verabschiedet und begann ein Eigenleben zu führen, völlig rücksichtslos gegenüber ihrem eigenen Ursprung. Mein persönlicher Anspruch auf besonderen Zugang zu ihr war erloschen. Was tun mit dieser entwischten Erinnerung? Sie weiter herumgeistern lassen oder doch den Versuch wagen, sie zu bannen?

