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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

The Woman Who Left von Lav Diaz

Around the World in 14 Films: The Woman Who Left von Lav Diaz

Seit dem Gewinn des Gol­de­nen Löwen bei den Film­fest­spie­len in Vene­dig mit The Woman Who Left ist Lav Diaz einer grö­ße­ren Öffent­lich­keit bekannt. Die Zei­ten, in denen er unter einer klei­nen, cine­phi­len Anhän­ger­schaft als Geheim­tipp galt, sind somit vor­bei. Darf man in sol­chen Fäl­len stut­zig wer­den, miss­trau­isch sein ob der Auf­merk­sam­keit und des Lobs von­sei­ten einer Bran­che, die sich jah­re­lang herz­lich wenig um die­se Fil­me geschert hat? Muss man fürch­ten, dass ein sol­cher Preis nur zu gewin­nen ist, wenn ein Fil­me­ma­cher sei­ne Kom­pro­miss­lo­sig­keit auf­gibt? Ist bei Diaz eine Ten­denz fest­zu­stel­len, wie man sie bei man­chen Can­nes-Dau­er­bren­nern, wie den Gebrü­dern Darden­ne in ihren letz­ten Fil­men gese­hen und gespürt hat?

Zwei­fel schie­nen mög­li­cher­wei­se berech­tigt, doch The Woman Who Left weiß sie zu ent­kräf­ten. Das Film­schaf­fen von Lav Diaz hat sich in den letz­ten Jah­ren etwas ver­än­dert, sei­ne Fil­me las­sen sich ein­fa­cher in einer kon­kre­ten Raum­zeit ver­or­ten, die Erzäh­lun­gen wir­ken oft­mals gestraff­ter und neh­men sich weni­ger Zeit zu mäan­dern; sie sind nun ein­fa­cher auf ein­zel­ne Aus­sa­gen oder ihre „poli­ti­sche Rele­vanz“ redu­zier­bar. Trotz allem kann man Diaz schwer vor­wer­fen, dass er sich der Logik einer Markt­för­mig­keit unter­wirft, zu sehr betont er auch in The Woman Who Left die fil­mi­sche Dau­er, in der sich sei­ne Erzäh­lun­gen ent­fal­ten, zu frei und unvor­her­seh­bar bewe­gen sich sei­ne Figu­ren, zu fein die Bruch­li­ni­en, die sich aus dem Drif­ten des Films erge­ben; alles Qua­li­tä­ten, die sich schon in sei­nen frü­he­ren Fil­men finden.

The Woman Who Left von Lav Diaz

Es ist schwie­rig über die Fil­me von Diaz zu schrei­ben; das Schrei­ben scheint der Monu­men­ta­li­tät nie gerecht zu wer­den. Das bezieht sich nicht nur auf die Lauf­zeit, son­dern auch auf die poli­ti­sche Dimen­si­on sei­ner fil­mi­schen Arbeit und vor allem auf die Hal­tung zu den Bil­dern und zur Welt, die durch den Film trans­po­niert wird – der Glau­be dar­an, dass auch im Kino ein Davor und ein Danach exis­tie­ren, dass das Leben (und das Leben ist auch die kleins­te Zel­le der Geschichts­schrei­bung) mit all sei­nen Kon­fron­ta­tio­nen und Kon­se­quen­zen berück­sich­tigt wer­den muss, auch wenn es gera­de nicht im Bild zu sehen ist; und der Umkehr­schluss – das gera­de die Rand­ge­stal­ten der Geschich­te, die mar­gi­na­len Vor­komm­nis­se des Lebens oft mehr über die Ereig­nis­se Bescheid wis­sen, als das kon­den­sier­te Spek­ta­kel (die Grund­fi­gur des kom­mer­zi­el­len Kinos). Es bleibt mir nur eine Flucht zu den eben genann­ten Momen­ten, eine Flucht ins Bei­spiel­haf­te, ein lücken­haf­tes Auf­zäh­len sub­jek­ti­ver Emp­fin­dun­gen und Beob­ach­tun­gen, ein Ver­such Emo­tio­nen zu tei­len. Fern von dem Punkt alle Fil­me von Diaz zu ken­nen, aber mitt­ler­wei­le mit sei­nem Werk eini­ger­ma­ßen ver­traut, stellt sich bei mir bei jedem sei­ner Fil­me ein Gefühl von Ver­traut­heit ein. Die­se Ver­traut­heit ist eng an wie­der­keh­ren­de Moti­ve und Bild­ty­pen gekop­pelt, die – wie auch zum Bei­spiel die immer glei­chen wei­ßen Let­tern auf schwar­zem Grund in den Fil­men von Woo­dy Allen – zu einem Proust’schen Rück­erin­nern füh­ren. Ein Gefühl von Nähe macht sich dann bemerk­bar, von Ver­traut­heit, von Mit­wis­ser­schaft. Natür­lich ist die­ses Gefühl nicht exklu­siv den Fil­men von Lav Diaz vor­be­hal­ten, son­dern hat wohl ins­ge­samt mit der Erfah­rung von Kunst zu tun, wie sie, für den fil­mi­schen Dis­kurs, vor allem von den gro­ßen pas­seurs beschrie­ben und vor­ge­lebt wurde.

Ein Gefühl des Mit­ein­an­ders, der Teil­ha­be, ent­steht. Zunächst ist das ganz prag­ma­tisch gedacht: Für vier, acht oder zehn Stun­den ver­bringt man Zeit im Kino­saal mit einer (meist über­schau­ba­ren) Anzahl ande­rer Kino­gän­ger und mit den Bil­dern auf der Lein­wand. Dar­über hin­aus tritt man selbst in die Welt ein, beob­ach­tet par­al­lel zur Kame­ra das Gesche­hen, ent­deckt Gerü­che, Geschmä­cker, fin­det Freun­de, See­len­ver­wand­te, arbei­tet, fei­ert – man wird selbst zum Film. Es geschieht eine Men­ge Din­ge in die­ser Zeit, denen man mal inten­si­ver, mal weni­ger inten­siv folgt; und wie im ech­ten Leben, ist man kaum in der Lage die Über­sicht über alle Vor­komm­nis­se zu behal­ten, um sie im Anschluss in chro­no­lo­gi­scher Rei­hen­fol­ge auf­zu­füh­ren. Einen Film von Lav Diaz zu sehen, oder bes­ser, zu erfah­ren, ist wie das Trei­ben, in einem Fluss, der mal auf­ge­staut wird, mal abebbt, aber immer wei­ter­fließt, bis man irgend­wann aus ihm steigt und in eine Welt zurück­kehrt, der die Mono­chro­mie fehlt.

The Woman Who Left von Lav Diaz

Dschun­gel­di­ckicht: Nur schwer fin­det sich das Auge im schwarz­wei­ßen Wirr­warr der Ran­ken, Sträu­cher, Bäu­me und Blät­ter zurecht. Das Schwarz­weiß gepaart mit gesto­chen-schar­fer Digi­tal­op­tik lässt das Bild flä­chig erschei­nen. Ohne Anhalts­punkt und ohne Bewe­gung ist es schwer unter­schied­li­che Bild­ebe­nen wahr­zu­neh­men. Für eini­ge Sekun­den steht der Dschun­gel meist für sich, bis es im Unter­holz zu rascheln beginnt, und sich über irgend­ei­nen ver­bor­ge­nen Pfad Men­schen ins Bild bewe­gen. Durch ihre Bewe­gung gewinnt das Tableau an Tie­fe, die Ori­en­tie­rung fällt leich­ter, das Such­bild­rät­sel löst sich auf. Die­ses Bild­mo­tiv kommt in The Woman Who Left nur ein ein­zi­ges Mal vor (wenn mich mei­ne Erin­ne­rung nicht trügt), erin­nert aber sofort an ähn­li­che Insze­nie­run­gen der phil­ip­pi­ni­schen Land­schaft in Fil­men wie From What Is Befo­re oder A Lul­la­by to the Sor­rowful Mys­tery, die in weni­ger urba­nem Ter­rain spielen.

Eine ein­sa­me Stra­ßen­la­ter­ne erleuch­tet ein Stück Stra­ße. Im har­ten Licht der Later­ne wer­fen die ste­hen­den, sit­zen­den, kau­ern­den Gestal­ten am Stra­ßen­rand har­te Schat­ten. Im Dun­kel der Nacht unter­hal­ten sich die Gestal­ten, albern her­um, strei­ten. In den Gesprächs­pau­sen brei­tet sich nächt­li­che Stil­le aus, unter­bro­chen von fer­nen Moto­ren­ge­räu­schen und zir­pen­den Insek­ten. Die Zeit dehnt sich in die­sen Momen­ten, denn in der Nacht fällt die Hek­tik des Tages ab. Unter Stra­ßen­la­ter­nen ver­han­deln Lav Diaz‘ Prot­ago­nis­ten den wei­te­ren Ver­lauf ihrer Geschich­te, unter Stra­ßen­la­ter­nen ver­brin­gen sie Zeit mit­ein­an­der. Die Nacht ist hier kei­ne Zeit düs­te­rer Stim­mung, kei­ne Zeit der letz­ten Ent­schei­dun­gen, kei­ne Zeit des Gru­sels, son­dern ein unauf­ge­reg­ter Teil des Lebens, dazu geeig­net neue Bekannt­schaf­ten zu machen, inti­me Gesprächs­si­tua­tio­nen her­bei­zu­füh­ren und sich in der Dun­kel­heit sei­ner Iso­la­ti­on zu erfreu­en. In The Woman Who Left sind es die Sze­nen zwi­schen Hora­cia und dem buck­li­gen Stra­ßen­ver­käu­fer, wie sie am Stra­ßen­rand unter Later­nen­licht sit­zen, die am stärks­ten das Gefühl der gelas­se­nen Beob­ach­tung evo­zie­ren, so wie auch schon die Sze­nen in den Win­ter­näch­ten New Jer­seys in Batang West Side, die irgend­wann zu Zuge­hö­rig­keit und Ver­traut­heit wird.

Es ist somit uner­heb­lich, ob The Woman Who Left kür­zer und strin­gen­ter ist als ande­re von Diaz› Fil­men, denn das ent­schei­den­de Gefühl der Ver­traut­heit, des Mit-dem-Film-seins, das ich ver­sucht habe zu skiz­zie­ren, stellt sich auch hier ein. Trotz die­ses Gefühls, kommt es mir nicht so vor, als wür­de ich die Regeln die­ser Welt voll­stän­dig ken­nen, als könn­te ich aus den gezeig­ten Welt­ein­drü­cken, die oft eine täu­schend getreue Wie­der­ga­be der Rea­li­tät sug­ge­rie­ren, ein Denk­sys­tem ablei­ten, eine ein­heit­li­che Idee von Huma­nis­mus dechif­frie­ren. Der Sog der Ver­traut­heit ist ein ande­rer, als jener der Mas­sen­me­di­en, die mich betäu­ben und mit einer fer­ti­gen Bot­schaft imp­fen wol­len. Es geht hier weni­ger um eine Deu­tung (zumin­dest um kei­ne, die im Vor­hin­ein fest­ge­legt ist), als um die Ges­te des Zei­gens. Dar­in liegt dann viel­leicht auch die (poli­ti­sche wie film­po­li­ti­sche) Hal­tung von Diaz, mit der sich erklä­ren lässt, wes­halb Sze­nen an- und aus­lau­fen dür­fen, wes­halb das Bild sel­ten durch Unschär­fen oder Kame­ra­be­we­gung kor­rum­piert wird, wes­halb die All­täg­lich­keit eine ver­gleichs­wei­se wich­ti­ge Rol­le spielt – es ist sei­ne Form der Kri­tik an ande­ren media­len Dar­stel­lungs­for­men und Bewegt­bild­in­sze­nie­run­gen. Ist The Woman Who Left etwas zugäng­li­cher, an man­chen Stel­len viel­leicht sogar deut­li­cher? Ganz bestimmt. Ist Lav Diaz des­halb von sei­nem Weg abge­kom­men? Mei­ner Ein­schät­zung nach ist er das nicht. Viel­mehr hat er etwas Ande­res ent­wi­ckelt, das dem Geist sei­ner frü­he­ren Arbei­ten ent­sprun­gen ist, sie in eine ande­re Rich­tung lenkt, aber nicht verrät.