Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Deals und Behauptungen in Cobre von Nicolás Pereda (cine amandi VIII)

Láza­ro lebt mit sei­ner Mut­ter Tere und sei­ner Tan­te Rosa unter einem Dach. Aga­ven und ein Hund sor­gen für Leben um die ansons­ten ver­ein­sam­te Häu­serfassa­de. Das Schlaf­zim­mer im Inne­ren wirkt über­di­men­sio­nal, gleicht einer Höh­le. Wie ein Hei­li­ger liegt Láza­ro dort, schwer atmend unter einer grü­nen, wär­men­den Decke. Die Arbeit in der Mine macht ihm auch nach Schich­ten­de noch zu schaf­fen, er befürch­tet unter Asth­ma zu lei­den und pocht auf eine Krank­schrei­bung. Aber die Betriebs­ärz­tin ist skep­tisch, er soll erst mal mit sei­nem gele­gent­li­chen Rau­chen auf­hö­ren, außer­dem gehe er ja nur ein bis drei­mal die Woche für ein paar Stun­den hin­un­ter. Seit sech­zehn Jah­ren. Láza­ro ist – oder spielt – über­zeugt, dass ihm nicht recht geschieht. Eine zwei­te Mei­nung von jenem Arzt im Kran­ken­haus, für das Rosa arbei­tet, soll Klar­heit schaf­fen. Auch er stellt jedoch kei­ne Asth­ma-Dia­gno­se, bie­tet aber einen Deal an: für ein Date mit Rosa darf Láza­ro den ersehn­ten Sau­er­stoff­tank lei­hen. Der wil­ligt ohne Rück­spra­che ein.

In Cob­re von Nicolás Pere­da, einem nicht nur zur 36. Aus­ga­be gern gese­he­nem Gast am FID Mar­seil­le, blei­ben so man­che Beweg­grün­de sei­ner Figu­ren unse­rer Spe­ku­la­ti­on über­las­sen. Kei­ne Sel­ten­heit bei Pere­da. Ob Láza­ro tat­säch­lich krank ist oder sei­ne Hilfs­be­dürf­tig­keit letzt­lich einen Ver­such dar­stellt, die Auf­merk­sam­keit sei­ner Tan­te auf sich zu zie­hen, bleibt offen. Es scheint trotz­dem von Anfang an gewiss, dass es zwi­schen den bei­den zu kei­ner wei­ter­füh­ren­den Annä­he­rung kom­men wird. Das könn­te an der unauf­ge­reg­ten Erzähl­wei­se des Films lie­gen, in dem auf bestimm­te Bli­cke sel­ten direk­te Kon­se­quen­zen fol­gen. So zum Bei­spiel Láza­ros Bli­cke auf Rosa, wenn sie, wie so oft, zu dritt mit ihrem Part­ner Harold durchs Brach­land schwei­fen, und immer wie­der ein beson­de­res Blit­zen in den Augen erkenn­bar wird. Eben­so fällt Rosa Láza­ros andau­ern­des Lächeln auf, wel­ches er auf ihren Kom­men­tar hin demen­tiert. Für Harold blei­ben die­se Nuan­cen im Ver­bor­ge­nen, wäh­rend er mit sei­nen Leder­hand­schu­hen das Lenk­rad des auf­ge­motz­ten Autos fest­hält. Für die ande­ren bei­den bleibt es ein harm­lo­ses Spiel, das kei­ne Bedeu­tung hat, solan­ge es sich nicht ver­än­dert und kei­nen Namen erhält. Weder Láza­ro noch Rosa, oder die nicht vor­han­den Passant*innen schen­ken Harolds Auto beson­de­re Auf­merk­sam­keit, der den tief­lie­gen­den Fah­rer­ses­sel genießt. Düsen, spa­zie­ren, zel­ten, in Oran­gen hin­ein­bei­ßen, viel mehr braucht oder gibt es nicht, um die freie Zeit zu füllen.

Láza­ros Mut­ter Tere hängt unter­des­sen in ihrem neben der Spü­le ein­ge­rich­te­ten Küchen­bü­ro die meis­te Zeit am Tele­fon. All­zu gut­mü­tig ver­pflegt sie auch ihren erwach­se­nen Sohn. Láza­ros Arbeits­platz wird nur in Form der Arzt­pra­xis und des Gesprächs mit dem Chef sicht­bar, der ihm vor­wirft, zu simu­lie­ren. Außer­dem sei er von einem sei­ner Kol­le­gen neben der Lei­che eines Minen­ar­bei­ters gesich­tet wor­den – Láza­ro ver­neint wie­der. Dies­mal wis­sen wir, dass er lügt, denn Cob­re beginnt mit der Begeg­nung zwi­schen Láza­ro und dem Toten am Stra­ßen­rand. Aber wie sich die Tat zuge­tra­gen hat, bleibt unklar, ledig­lich die Unschuld des Prot­ago­nis­ten mei­nen wir bezeu­gen zu kön­nen. Dass er auf jeg­li­che Mel­dung des Vor­falls ver­zich­tet, emp­feh­len Mut­ter und Tan­te – Selbst­schutz geht vor und es könn­te übel kom­men, in Din­ge hin­ein­ge­zo­gen zu wer­den. Im Radio heißt es, dass es sich in der Berg­bau­stadt bereits um den drit­ten Toten inner­halb kur­zer Zeit hand­le. Man legt sich bes­ser nicht mit dem lodern­den Feu­er an.

In Cob­re gelingt vor allem die Ver­knüp­fung von Schwe­re und Leich­tig­keit, die in ers­ter Linie in den Dia­lo­gen ent­steht. Auf indi­rek­te Wei­se erfah­ren wir über die Bezie­hungs­dy­na­mi­ken zwi­schen Láza­ro, Rosa, Tere und Harold durch ihre Gesprä­che. Beson­ders in der Sze­ne, in der Rosa und Tere auf Láza­ros Bett sit­zend das Date mit dem Dok­tor pro­ben: War­um sie denn mit einem Mecha­ni­ker zusam­men wäre, wenn sie doch einen Dok­tor haben könn­te, impro­vi­siert Tere neben Rosa, womit sie ihr eige­nes Leben in der Rol­le ihres Ver­eh­rers ihrem ima­gi­nier­ten Selbst gegen­über infra­ge stellt. Die Leicht­fer­tig­keit, mit der die Sät­ze her­vor­tre­ten, macht die bereits län­ger wäh­ren­de Prä­senz die­ser Gedan­ken klar. Láza­ro tritt lachend hin­zu und meint, dass sein gesund­heit­li­cher Zustand nicht erlo­gen sei. Tere sorgt dafür, dass ihre Haus­ar­beit, das Ein­kau­fen und Küm­mern um die Schwes­ter in die­sem Spiel auch Erwäh­nung fin­den. Láza­ro macht anschlie­ßend Rosa klar, er wür­de dem Dok­tor sagen, dass er zu alt für sie sei. Wor­auf Rosa, noch in ihrer Rol­le des abwe­sen­den Arz­tes, behaup­tet, dass sie viel­leicht alt, aber gesund und vol­ler Leben sei. Sie steht auf, um sich auf der ande­ren Sei­te des Bet­tes zu Láza­ro zu set­zen, der nun plötz­lich zu Rosa wird, und ihm bzw. ihr das locken­de Ange­bot zu unter­brei­ten, dass sie nie wie­der arbei­ten müs­se, wenn sie zusam­men wären. Mit einem Lachen löst sich die Sze­ne auf. Ernst neh­men die drei die durch­ge­spiel­te Sze­ne­rie viel­leicht nicht, doch in ihren Rol­len machen sie ihre Anlie­gen und Gedan­ken hörbar.

Wider­wil­lig, aber ihrem Nef­fen zulie­be, wird Rosa mit dem Ver­eh­rer aus­ge­hen. Und es wird nichts an ihrer Bezie­hung zu Harold, die in ers­ter Linie auf Zunei­gung und Lei­den­schaft zu beru­hen scheint und kei­nem Deal, ändern. Auch jene zu Láza­ro wird wie bis­her mit Zunei­gung und ohne Lei­den­schaft, als Teil der fami­liä­ren Wohn­ge­mein­schaft wei­ter­ge­hen. In Láza­ros Höh­le seufzt fort­wäh­rend der Sau­er­stoff­tank. So laut, dass Rosas Behaup­tung nicht schla­fen zu kön­nen, plau­si­bel erscheint. Cobres Erzäh­lung vom Zusam­men­le­ben sei­ner Protagonist*innen, von einem Minen­ar­bei­ter, der Gesund­heits­ri­si­ken aus­ge­setzt ist und sich zugleich selbst am nächs­ten ist, malt das humo­ris­ti­sche Bild eines Man­nes, der zwar im Klei­nen gegen sei­ne Lebens­be­din­gun­gen revol­tiert, dabei aber letzt­lich stets in der Bequem­lich­keit des müt­ter­li­chen Nes­tes, gewärmt durch die Prä­senz der umschwärm­ten Tan­te, Zuflucht findet.