Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Love Conquers All (cine amandi II)

„Lie­be ist die gehei­me Macht, die unser Leben beherrscht“ schrei­ben Bar­ba­ra Küh­ler und Ste­fan Beher in ihrem Sam­mel­band zur Sozio­lo­gie der Lie­be, den ich mir aus­ge­borgt habe, um mich die­ser omni­prä­sen­ten Idee ratio­nal zu nähern. Wenn die Lie­be die Herr­sche­rin der Welt sein soll, kann ich ange­sichts dem Gel­tungs­stre­ben der tat­säch­lich Herr­schen­den nur zu dem Schluss kom­men, dass ihr Geheim­nis vie­ler­orts wohl dar­in besteht, gänz­lich unbe­kannt zu blei­ben oder ver­wech­selt zu wer­den, mit Mani­pu­la­ti­on, Tra­di­ti­on oder ein­sei­ti­ger Lust­be­frie­di­gung. Als gehei­me Macht hat sie sich viel­leicht hin­ter ein oder zwei ver­reg­ne­ten Fens­tern zu viel ver­kro­chen, wenn der male­ri­sche Son­nen­un­ter­gang dem trü­ben Hori­zont zum Opfer fiel und sie der grau­en Kulis­se miss­trau­te. Lie­be meint vie­le Gefühls­la­gen. Sie (ver)fällt nicht nur, sie kann sich auch die Schwe­be hal­ten, erstar­ren, unter­schied­li­che Aggre­gat­zu­stän­de anneh­men. Mein Gefühl ist, dass ein Wort für die vie­len Lie­ben – in und zwi­schen uns – nicht aus­reicht. Die roman­ti­sche Lie­be, von der ich hier schrei­ben möch­te, ist eine, die tag­täg­lich vor unse­ren Augen und Ohren besun­gen, bespro­chen oder sonst wie aus­ge­drückt wird: „I will always love you“, „Love Con­quers All“, „We’ll always have Paris“. Sie wird ein Phan­tas­ma, her­bei­ge­schwo­ren, ersehnt. Kön­nen wir für das Kon­zept hin­ter den fünf Buch­sta­ben über­haupt ein Ver­ständ­nis ent­wi­ckeln, das sich los­löst von sei­ner Ver­wick­lung in unend­lich beacker­te Erzäh­lun­gen und Hand­lungs­bö­gen mit erre­gen­den Kon­flikt­si­tua­tio­nen? Film, Musik und Lite­ra­tur sind vol­ler Lie­bes­bil­der, vol­ler Mythen der Lie­be, deren roman­ti­sches, meist ober­fläch­li­ches Her­auf­be­schwö­ren wir ler­nen, sobald wir begin­nen Geschich­ten zu verstehen. 

Die Pop­kul­tur bringt uns die erfüll­te Lie­be als das Ent­fa­chen einer bis ins End­lo­se andau­ern­den Lei­den­schaft genau­so wie das Leid in Form einer ein­sei­ti­gen Lie­be oder deren Unmög­lich­keit bei. Letz­tes Mal habe ich über die Sehn­sucht geschrie­ben, über eine Sehn­sucht, deren Sinn dar­in liegt, Schutz und zugleich Aus­lö­ser für ein Emp­fin­den von Lie­be zu sein. Wenn Lie­be ent­flammt, stellt sich stets das Leid mit an und war­tet auf sei­nen Moment. Die drei gro­ßen L’s sind einen untrenn­ba­ren Pakt ein­ge­gan­gen: Leben, Lie­ben, Lei­den. Das Lei­den als kunst­vol­ler Aus­druck und als Qual unter dem Joch gesell­schaft­li­cher Regeln ergießt sich in Johann Wolf­gang von Goe­thes Die Lei­den des jun­gen Wert­her wie in Loui­sa May Alcotts Litt­le Women, Jane Aus­tens Stolz und Vor­ur­teil oder Gust­ave Flau­berts Madame Bova­ry. Die Lie­ben­den sind dar­in als Opfer ihrer Umstän­de bemer­kens­wert dem leid­vol­len Seh­nen aus­ge­setzt. Ihre roman­ti­sche Tra­gik ist ver­an­kert in den Regeln wohl­ha­ben­der Gesell­schaf­ten des 18. und 19. Jahr­hun­derts, die sich ob ihrer Domi­nanz nicht auf­lö­sen wol­len. Das ver­leiht die­sen lite­ra­ri­schen Stof­fen und ihren Ver­fil­mun­gen aus heu­ti­ger, west­lich-neo­li­be­ra­ler Sicht eine ange­neh­me Distanz und gleich­zei­ti­ge Gefühls­nä­he. Vom hohen, pro­gres­siv galop­pie­ren­den Ross des 21. Jahr­hun­derts hin­aus, bedau­ern wir die äuße­ren Umstän­de der Lie­ben­den und kön­nen uns über den Fort­schritt unse­rer Gesell­schaft in Ange­le­gen­hei­ten der Wahl roman­ti­schen Partner*innen erfreu­en. Wie gut, dass heu­te alles auf ein­mal geht: die Frei­heit der Lie­be und der Selbst­ver­wirk­li­chung, Lie­be über­win­det alle Gren­zen. Die Grün­de für das (fil­mi­sche) Lei­den in der Lie­be fin­den in der Wohl­stands­ge­sell­schaft meist auf einer indi­vi­du­el­le­ren Ebe­ne statt, denn sel­te­ner spre­chen expli­zi­te Vor­schrif­ten gegen eine Ver­bin­dung. Wenn die roman­ti­sche Lie­be schei­tert, dann liegt es an uns Selbst, oder eben am Gegen­über. Oder aber am eige­nen Anspruch der Selbst­ver­wirk­li­chung – die nicht als Uns-Ver­wirk­li­chung gedacht ist.

„Ich dach­te immer, wah­re Lie­be sei ein Mythos“, sagt Meral in der Eupho­rie einer frisch Ver­lieb­ten in Sev­mek Zama­ni. Merals Lie­bes­schwel­gen tritt nicht nach einer Lek­tü­re von Jane Aus­ten oder Emi­ly oder Char­lot­te Bron­të ein, son­dern nach Ovids Ars Ama­to­ria. In die­ser – zu Zei­ten Ovid skan­da­lö­sen – Lek­tü­re geht es vor allem um das Ein­üben von Erobe­rungs­tech­ni­ken, Sex­prak­ti­ken und dar­um Orte für neue Bekannt­schaf­ten aus­fin­dig zu machen, also nicht um jenes Kon­zept der roman­ti­schen Lie­be, das sich erst mit der zuneh­men­den Indus­tria­li­sie­rung und der damit ver­bun­de­nen Mög­lich­kei­ten sozia­ler Mobi­li­tät breit machen wür­de. Im 17. und 18. Jahr­hun­dert bot die Ehe kei­ne Pro­jek­ti­ons­flä­che für die Lie­be, roman­ti­schen Ver­bin­dun­gen fan­den viel mehr außer­halb der geweih­ten Bezie­hung statt und wur­den in die­ser Form auch gepflegt, beschrie­ben und besun­gen. Das Gefühl des Ver­liebt­seins in die Ehe zu inte­grie­ren und sie so um ihre Zweck­ge­bun­den­heit zu erwei­tern, kam erst in der Roman­tik um 1800 auf. Die roman­ti­sche Lie­be ist eigent­lich eine ‚recht jun­ge Erfin­dung‘, die mit Jean Jac­ques Rous­se­aus über­ra­gen­dem Erfolg von Julie ou la Nou­vel­le Héloï­se im Jahr 1761 in bür­ger­li­chen Sphä­ren erst in Mode kam und nach­fol­gen­de Autor*innen inspi­rier­te, schrei­ben Mabel A. Elliott und Fran­cis E. Mer­rill in Der roman­ti­sche Fehl­schluss. Von da an begann die Lite­ra­tur sich der Lie­be als Lei­den­schaft zu wid­men, deren Erzäh­lun­gen von Lei­den, von Sehn­sucht und Erwar­tun­gen die Gefühls­re­gun­gen der Leser*innen präg­te. Mit der Reli­gi­ons­frei­heit setz­te sich dann über die Phan­ta­sie hin­aus auch in der Rea­li­tät vie­ler Men­schen zuneh­mend eine Frei­heit in der Partner*innenwahl ein. So erober­ten das Lie­bes­ge­fühl und die Sehn­sucht nach einer lie­bes­er­füll­ten Partner*innenschaft – als gehei­me Mäch­te – die west­li­chen Gesell­schaf­ten. Wenn sie nicht gestor­ben sind, dann lei­den sie auch noch heute.