Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Der gerade beginnende Film

Seit geraumer Zeit ist der gerade beginnende Film das einzige, was mich am Kino begeistert. Alles ist möglich in diesen ersten Sekunden, ein anderer Film, eine große Erfahrung, eine Erkenntnis, überhaupt ein Film ist möglich. Ich schaue wacher, aufmerksamer, geduldiger, neugieriger, weil ich noch nicht weiß, nach welchen Regeln der Film spielt. Ich kenne den Film nicht, begegne ihm wie einem Menschen beim ersten Mal. Das Unbewusste arbeitet dann ganz bewusst in mir, zwischen mir und den Bildern des Films. Ich kenne noch nichts, will nicht widersprechen, will aufsaugen. Mich nähern, ja das ist es. Ich nähere mich, der Film nähert sich. Wir tasten uns an oder überfallen uns, es ist ganz unterschiedlich, aber es gibt etwas Vertrautes darin. Ich kenne diese Anspannung vor dem gerade noch Unbekannten, die Freude am Möglichen. Sie wiederholt sich, aber nie gleich, das ist es ja gerade, sie wiederholt sich mit unbekannten Ausgang, zumindest bilde ich mir das ein.

Alles muss rituell sein! Der Film darf nicht den gleichen Bildern entspringen wie all die anderen Bilder. Er darf nichts mit mir zu tun haben, auch wenn er alles mit mir zu tun hat. Ich muss den Film aus dem Alltag erheben. Das Erlebnis muss abgesetzt werden, ausgesetzt. Ich kann diese Anfänge nicht beiläufig erleben.

Diese ersten Blicke finden vor meinem Zweifel statt, vor meiner Ermüdung, vor meiner Gleichgültigkeit. Wie zum ersten Mal (diese Romantik der Dinge, die man zum ersten Mal sieht, erlebt, macht…) sehe ich Farben, Formen, Menschen. Ich muss das Sehen erlernen mit dem Film, auf immer wieder neue Weise. Der Film schlägt mir etwas vor, einen Ton und ich muss lernen, ihn zu halten oder überhaupt zu erreichen mit meiner stummen Stimme, meinen Augen, meinen Ohren, meinen Gedanken und Gefühlen. Mich erinnert das an meine Kindheit, als mir Märchen vorgelesen wurden und ich mich so sehr konzentrierte, dass ich alles andere um mich ausblendete. Meine Vorstellung wusste damals, dass es Arbeit braucht, um eine andere Welt zu betreten. Heute kenne ich die Geschichten, ich habe die Bilder schon gesehen, ich durchschaue, schaue durch die Bilder, ich weiß, was ungefähr geschehen kann, wie dieses Ungefähr hergestellt wird.

Aus der Dunkelheit oder dem neutralen Licht leuchtet zunächst etwas Undeutliches, womöglich ein Gesicht, erste Stimmen, vertraut oder unvertraut, Bewegungen, Geräusche, eine Intensität, die darauf wartet, dass ich sie annehme. Es ist, als würde ich meine Hand in ein Eisfach halten und darauf warten, die Kälte zu spüren. Es ist nicht kalt oder warm in einem Film, aber es gibt eine Temperatur.

Alles könnte passieren, auch wenn ich manches vielleicht bereits weiß oder erwarte. Aber die Erwartung tritt kurz zurück in diesen Momenten, wenn überhaupt fragt sie sich, ob sie nun bestätigt oder enttäuscht wird. Ihre zur Schau getragene Selbstsicherheit taumelt beim Anblick der ersten Bilder. Eine Welt wird geboren, sie entsteht, sie setzt sich zusammen oder zerfällt oder beides zugleich. Ich muss das aushalten. Ich muss meinen Körper vergessen, mich vergessen. Ich muss vergessen, dass es mich gibt. Wenn ich mich daran erinnere, dass das nur ein Film ist, dann mache ich keine Erfahrung. Ich muss den Namen der Filmemacher vergessen, der Film darf keinen Namen haben, er darf nie produziert worden sein, muss einfach da sein.

So beginnen Filme: Jemand kommt wo an. Jemand geht. Jemand weint oder rennt. Eine Landschaft im ruhigen Morgenlicht. Bedrohliche Musik. Ein Statist, den ich nie wieder sehen werde, lacht mir entgegen. Das sind Bilder und Töne unberührt von Bedeutung. Eindrücke, Hammerschläge auf die Wahrnehmung, ein Kitzeln, ein Jucken. Ich muss noch nicht verstehen, erkennen, ich darf erleben. Eine Wirklichkeit zeigt sich, sie ist noch ohne Interpretation, ein unbewohntes Land. Ich sehe Räume, die ich bewohnen möchte, Menschen, mit denen ich Zeit verbringen möchte, eine Zeit, in der ich atmen möchte. Ich weiß, dass die üblichen Mechanismen des Schauens wieder einsetzen werden, ich weiß, dass der Film wieder nur ein Film sein wird, wahrscheinlich nicht besonders gut, ich weiß, dass dieses Ungewisse einer Gewissheit weicht früher oder später. Dann verliere ich die Lust am Sehen. Das weiß ich und ich kann nichts dagegen machen. Ich frage mich, was ich verlieren würde, wenn ich nur noch die Anfänge betrachtete, all diese schönen Türen, die in Versprechen führen, die ich nie kennenlernen würde.

Manchmal beginnt ein Film nur zwei oder drei Sekunden und dann ist bereits alles verpufft, manchmal aber beginnt er seine gesamte Laufzeit. Die besten Filme sind das, die beginnen immer weiter, selbst lange nach dem Abspann.