In Le samourai von Jean-Pierre Melville geht es um Jef Costello, einen Auftragsmörder, der bei der Durchführung einer Tat beobachtet wird und in der Folge von der Polizei genauso wie von seinen Auftragsgebern verfolgt wird. Dabei arbeitet Melville, wie für sein Schaffen typisch, mit Themen wie Loyalität, Einsamkeit und männlicher Prinzipientreue. Es gibt aber auch eine eher formalistische und doch mit narrativer Bedeutung aufgeladene Spur, die Melville schon zu Beginn des Films offenlegt: „Il n’y a pas de plus profonde solitude que celle de samouraï si ce n’est celle d’un tigre dans la jungle… peut-être…”, heißt es dort nach einer angeblichen Formulierung aus dem Bushido. Damit schlägt der Film eine metaphorische Lesart vor, eine die den Protagonisten Jef sowohl analog zu einem Samurai als auch zu einem Tiger versteht. Mit letzterer Metapher möchte ich mich in diesem Text befassen und aufzeigen inwiefern Melville seinen Protagonisten als Raubtier inszeniert mit filmischen Mitteln in einen Käfig sperrt und sowohl inhaltlich als auch formal ein Spiel zwischen Sehen und Nicht-Sehen entfaltet, das sich im finalen Twist schließlich auch auf den Zuseher selbst auswirkt. Dabei werde ich Parallelen zwischen dem Film und Rainer Maria Rilkes Gedicht Der Panther aufzeigen, beschäftigt es sich doch auch mit einem Raubtier hinter Gittern.
Der weiche Gang des Tigers
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Häufig folgt die Kamera Jef mit Schwenks. So auch unmittelbar vor und nach seinem Auftragsmord. Durch die Schwenks in Verbindung mit der gebückten Haltung von Jef und der ständigen, monotonen Bewegung, entsteht ein Bild, das dem Panther bei Rilke durchaus nahesteht. Durch das Casting von Alain Delon, eines zu jener Zeit angesehenen Stars, zu dessen Kennzeichen sein makelloses Äußeres gehört, betont Melville die Anmut der Bewegungen genauso wie durch eine gleichmäßige Kadrierung, die Jef nie aus den Augen verliert. Nicht nur bewegt sich der Protagonist wie ein Raubtier, sondern die Kamera mit ihm. Dadurch entsteht wie bei Rilke das Gefühl einer Drehung im Kreis. Bei Jef geht es auch narrativ zumeist um den animalischen Trieb des Überlebens. Zunächst befindet er sich auf der Jagd (Ausführung des Mordes) und in der Folge auf der Flucht. Als Jef von einem Unbekannten angeschossen wird, zieht er sich wie ein verletztes Raubtier in seinen Bau zurück. Als weiteres animalisches Merkmal können die ritualisierten Vorgänge beim Verlassen seiner Wohnung oder beim Klauen von Autos betrachtet werden. Beim Verlassen der Wohnung blickt Jef immer in den Spiegel und richtet säuberlich seinen Hut. Anschließend verlässt er die Wohnung und sperrt die Tür von außen doppelt ab. Die Auflösung der Szene entspricht dabei wieder dem Verhalten von Jef selbst, denn am Ende einer solchen Sequenz steht immer eine frontale Einstellung (Nahe oder Amerikanische) auf die Tür von innen. Ein ähnliches Ritual findet sich im riesigen Schlüsselbund, mit dem Jef geklaute Autos startet. Zweimal ist im Film zu sehen wie er den Schlüsselbund auf den Beifahrersitz legt und Schlüssel für Schlüssel durchprobiert, um den richtigen zu finden. Neben einem Spannungsgewinn und der durch die Ruhe des Protagonisten vermittelten Professionalität wird dadurch auch ein Ritual angezeigt, dass sich durch das ganze Verhalten von Jef zieht. Mit Rilke entfaltet sich so ein Tanz um eine Mitte, doch der Wille, der dahinter steht wird dem Zuseher bis zur letzten Szene des Films vorenthalten. Die Rituale, die Gleichmäßigkeit und die Makellosigkeit des Protagonisten lassen eine psychologische Annäherung auf den ersten Blick nicht zu. Etwas Humanes scheint dem Raubtier Jef lange nicht gegeben, der Wille ist betäubt. Konsequent, dass sich Jef für eine Frau interessiert, die genauso undurchschaubar wirkt wie er. Die Hauptzeugin, eine Pianistin trägt ein ähnliches Geheimnis in sich wie Jef. Dieses Geheimnis interessiert ihn zwar zunächst aus dem animalischen Überlebenstrieb heraus, aber er offenbart in einer flüchtigen Berührung ihrer Schulter beim Verlassen ihrer Wohnung eine sexuelle Regung, die weit über die Kälte seiner Beziehung zu Jane hinausgeht, einer Frau, die er lediglich als Alibi zu benutzen scheint. Daher ist es wenig überraschend, dass Melville die Pianistin einmal in einem Mantel mit Tigermuster zeigt und so ein weiteres Mal auf die Tiermetapher verweist.
Tausend Stäbe
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Von Beginn an findet Melville Bilder, die Jef hinter Gittern zeigen oder Gitter zu einem Bestandteil der mise-en-scène machen. Dabei deutet er sowohl auf die existentialistische Gefangenheit des Protagonisten hin, als auch auf dessen Isolation in der Welt. In einer Wende allerdings verweist die Verwendung des Gittermotivs nicht nur auf die fehlende Verbindung von Jef zu seiner Außenwelt, sondern auch auf die beschränkte Möglichkeit des Zuschauers und auch der Nebenfiguren sich Jef zu nähern, ihn wirklich zu verstehen. Überall im Paris von Melville existieren Gitterstäbe. Von Hof und Treppenhaus, die zu Jefs Wohnung führen, über die Untergrund-Bahnhöfe bis zur metallene Stuhllehne in Janes Schlafzimmer. Am Offensichtlichsten findet sich die Gittermetapher im Vogelkäfig in der Wohnung von Jef. Der Vogel des Protagonisten ist nicht nur das einzige Wesen, das sich im gesamten Film legal neben Jef in dessen Wohnung befindet, sondern auch ein Verbündeter, der den Verbrecher durch sein Verhalten bei Gefahr warnt. Schon in der ersten Einstellung des Films betont Melville die Bedeutung des Vogels im Käfig, da er diesen im Bildzentrum positioniert und Jef am rechten Bildrand, wo er auf den ersten Blick kaum sichtbar ist. Wie den Vogel zeigt der Film auch Jef immer wieder durch Gitterstäbe hindurch. Beispielsweise als es zu einem Schusswechsel mit einem Unbekannten kommt und die Kamera in einer Parallelfahrt hinter Gittern dem Geschehen folgt, oder als er zum ersten Mal bei der Pianistin zu Hause sitzt. Es folgt ein Schnitt in eine aufsichtige Einstellung auf die Frau, die auf allen Vieren (ähnlich einem Raubtier) sitzt. Auch als er seine Verletzung in der Küche verpflegt, verwendet Melville einen Zoom-Out, der zunächst unsichtbare Gitterstäbe in den Bildvordergrund bringt und Jef so erneut hinter Gittern zeigt.
Melville verwendet diese Kadrierung meist dann, wenn auch auf einer narrativen Ebene die Ausweglosigkeit der Situation für Jef deutlich wird. Es ist ein existentialistisches Gefängnis, indem der Protagonist tausend Stäbe sieht und dahinter keine Welt. Er bewegt sich als Gefangener in seiner eigenen Welt oder besser: Als Gefangener im kriminellen Kosmos von Melville, der außer flüchtigen Regungen keinen Ausweg erlaubt. Der fehlende Kontakt zur Umwelt wird durch die häufige Isolation einzelner Geräusche im Ton betont (Isolation im Sinn einer besonderen Hervorhebung). So sind oft nur Schritte zu hören und bezeichnenderweise auch nur das Piepen des gefangenen Vogels als Jef in seine Wohnung zurückkehrt und die Wanze hinter seinem Vorhang entdeckt. Gleichzeitig versperren die Gitter aber auch den Blick des Zusehers auf Jef. Sie dienen neben seinem Hut und dem Schatten als Versteck für Jef, der nicht gesehen werden darf und nicht gesehen werden will.
Vom Nicht-Sehen einer Figur
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Von der ersten Einstellung an misslingt es der Kamera zu Jef vorzudringen. Mit dem Vertigoeffekt in der ersten Einstellung deutet Melville die versuchte Bewegung hin zum Protagonisten an, aber sie wird von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten. Als er in das fremde Auto steigt, wird der Blick auf ihn von der regennassen Scheibe verdeckt. Melville lässt den Vorhang vor der Pupille seines Zusehers nur selten aufgehen. Als Jef den Tatort verlässt, sind die Gesichter der Zeugen zu sehen. In ihrem Gelingen und Misslingen etwas zu erkennen, vollzieht sich dasselbe Spiel wie bei der psychologischen Interpretation des Zusehers. In der Folge wird die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Jef zu einer plotrelevanten Frage. Manchmal geht es darum, nicht gesehen zu werden. So trägt Jef seinen Hut tief im Gesicht oder verschwindet in der illegalen Garage, in der er ein neues Autokennzeichen und Waffen bekommt in völliger Dunkelheit. Manchmal geht es darum gesehen zu werden, zum Beispiel als Jef im Wohnungsflur von Jane das Licht anmacht, damit ihr Lebensgefährte ihn beim Reingehen sehen kann oder wenn er den Zeugen bei der Polizei im Licht vorgeführt wird. Aus dem Käfig des Raubtiers entfaltet sich in der Folge eine Ambivalenz aus der Ausstellung, die mit einem Käfig im Sinne eines Zoos immer einhergeht und gleichzeitig einer versperrten Sicht, da man das Raubtier weder berühren, noch wirklich nachvollziehen kann. Melville unterstützt diese beschränkte Sicht der Nebenfiguren und des Zusehers auf seinen Protagonisten mit der häufigen Verwendung von Profilaufnahmen oder Einstellungen, die Jef von hinten zeigen. Außerdem schaut er neben den Gitterstäben oft durch andere Rahmungen wie Fenster, Spiegel oder Türen auf den Protagonisten. Auch Jef kann andere Personen nicht gut erkennen. So blickt er auf eine Frau im Straßenverkehr ebenfalls durch ein regennasses Fenster und der Eindringling in seiner Wohnung versteckt sich hinter einer Wand.
Diese Beschränkung der Sicht auf die Figur, mit der gleichzeitig die Unmöglichkeit einer psychologischen Interpretation einhergeht, wird immer wieder gebrochen und führt dadurch zu einem fatalen Ende. Im Polizeirevier ist Jef plötzlich einer extremem Sichtbarkeit ausgeliefert, die Melville sogar mit sichtbaren Lichtquellen direkt über dem Kopf von Jef betont. Mancher mag ihn dadurch zu durchschauen, so zum Beispiel der Kommissar, der sich nicht von der fehlenden Identifikation täuschen lässt. Dennoch verpasst auch er den Unterschied zwischen einem Tier, das im Herzen aufhört zu sein und dem tatsächlichen Tod. Die Kühle und Professionalität von Jef ist täuschend, in ihm lauert trotz aller Rituale und Prinzipien etwas Menschliches. Bei der Verfolgungsjagd am Ende geht es wieder um jene Sichtbarkeit. Im U-Bahnnetz versucht Jef alles, um den Blicken seiner Verfolger zu entgehen. Allerdings verkehrt sich hier das Bild zunehmend, denn die Frage nach der Sichtbarkeit bezieht sich nicht nur auf Jef, sondern auch auf seine Verfolger, die möglichst unerkannt bleiben müssen und von Jef gesucht werden. Auch hier bricht der Film mit der Frage der Sichtbarkeit und deutet so an, dass das Sehen und die Oberfläche der Dinge nicht ausreichen, um etwas wirklich zu begreifen. Mit seinem fatalen Ende zeichnet Melville ein ähnlich tragisches Bild von seinem Samurai wie Rilke von seinem Panther. Es ist ein Bild, das den psychologischen Tod nicht mehr vom tatsächlichen Tod unterscheiden kann. Als Jef am Ende erschossen wird, obwohl er ohne Munition vor seinem nächsten Opfer, der Pianistin, steht, zeigt sich das große Missverständnis, dem sowohl die Polizei als auch der Zuseher unterlegen ist. Die innere Abgestorbenheit von Jef bezieht sich nämlich nicht auf seine Umgebung, der er durchaus Zuneigung und Gnade entgegenbringt, sondern gegen sich selbst, in seinem inneren Gefängnis.
Dschungel
Der Hauptunterschied zwischen Le samourai und Der Panther ist wohl darin zu finden, dass Melville von einem Dschungel spricht, indem sich der Tiger befindet und Rilke von einem tatsächlichem Käfig. Dieser Käfig ist bei Melville lediglich in Form eines inneren Bilds vorhanden. Diese Innerlichkeit des Films erklärt womöglich den hohen Identifikationsfaktor der Figur, die trotz ihrer scheinbaren Leere eine gewisse Sympathie mit sich bringt und damit trotz der Gefahr, die von ihr ausgeht, trotz ihre Kühle die Faszination des Films ausmacht, ganz genau so wie ein Panther im Käfig.