Die Bazin-Connection: Von Stroheim/Puiu

Hier gibt es bestimmt einige Überlegungen anzustellen und dieser kurze Text kann nur ein Anfang sein. Es scheint mir so als wäre Cristi Puiu in vielerlei Hinsicht tief mit dem Werk von Erich von Stroheim verwurzelt. Wie ich darauf komme? André Bazin. Der französische Filmtheoretiker hat Von Stroheim als einen jener, wenn nicht gar den Stummfilmregisseur neben F.W.Murnau und Robert Flaherty identifiziert, der die Realität respektieren würde und daher die Montage mehr als notwendiges Übel, denn als genuin filmische Methode akzeptierte, identifiziert. Die Kamera würde nicht alles auf einmal sehen, aber sicher stellen, dass sie nichts von dem verlieren würde, für das sie sich entschieden habe. Man könne sich vorstellen, dass Von Stroheim einen Film in einer Einstellung drehe und dabei all die Hässlichkeit, die sich unter der Oberfläche des Daseins befinde, offenlegen würde. Damit würde man Bazin bis heute kaum widersprechen können. Nun hat Cristi Puiu seine Abschlussarbeit an der Universität über André Bazin geschrieben und rumänische Filmtheoretiker wie Andrei Gorzo (zum Beispiel hier) argumentieren immer wieder mit Bazin, wenn sie sich Puiu nähern. Er lässt sich sehr leicht in jene Kategorie stecken, die Bazin Filmemacher der Realität nannte. Eigentlich ist es gar so, dass Puiu diesen Begriff, der durch Von Stroheim geprägt war, auf eine neue Spitze getrieben hat. Es wäre jetzt etwas zu einfach, wenn man in den obigen Formulierungen über Von Stroheim einfach Puiu einsetzen würde, aber mir scheint, als könnte man das tun. Einzig hat Puiu diese Ideen noch weitergetrieben und einen stärkeren Fokus beziehungsweise ein deutlich präsenteres Bewusstsein gegenüber der Kamera und der Erzählperspektive für sich entwickelt. Bei Puiu akzeptiert die Kamera wohl, dass sie etwas verliert, selbst von dem, was sie sehen will. Dennoch finden sich auch hierfür Spuren bei Von Stroheim.

Dauer

The Death of Mr. Lăzărescu

The Death of Mr. Lăzărescu

Beide Filmemacher sind besessen von der Dauer der Dinge. Sie sind daran interessiert die erzählte Zeit und die Erzählzeit auf eine Ebene zu bringen, daher auch die Idee Bazins vom völligen Auslassen der Montage. Von Stroheim findet Sequenzen der Echtzeit, die von Jonathan Rosenbaum etwas irritierend als Slow-Motion bezeichnet wurde, vor allem in Blickwechseln zwischen Mann und Frau. Exemplarisch dafür jene Szene in The Wedding March zwischen dem auf seinem Pferd thronenden Nicki (Von Stroheim) und Mitzi (Fay Wray) im Fußvolk. Ein Flirt der Blicke vollzieht sich minutenlang bei Von Stroheim und erst in dieser Dauer entblößt sich das Begehren, die Widerwärtigkeit und die Liebe hinter den Figuren. Bei Puiu sind es eher die zurückgelegten Wege (zu Fuß und per Auto), die dieses Gefühl für die Zeit manifestieren. Seine drei Langspielfilme erzählen allesamt von Wegen. In seinem Debüt Stuff&Dough ist es eine Autofahrt nach Bukarest und zurück, in The Death of Mr. Lăzărescu ist es die verzweifelte Suche nach einem Krankenhaus mit Platz und Aufmerksamkeit und in Aurora sind es die Wege mehrerer grausamer Morde. Im Kern entsprechen diese Wege den Blicken bei Von Stroheim, da sich beide für den Zwischenraum interessieren, der sich zwischen zwei Handlungen und dem Drama offenbart. Sie interessieren sich für die Zeit dazwischen. So gibt es auch bei beiden Filmemachern jeweils lange Einstellungen auf sich ankleidende Figuren, Momente der stillen Reflektion (man denke an die zweifelnde Ehefrau in Blind Husbands am Abend auf der Hütte oder den pausierenden Viorel irgendwo auf dem Fabrikgelände in Aurora) und ein Gefühl für die Gleichzeitigkeit der Dinge. Letztere zeigt sich bei Von Stroheim immer wieder durch Cut-Aways, zum Beispiel auf Tiere oder Beobachter (eine Technik, die Bazin im Normalfall missfallen haben müsste), wogegen Puiu mehr auf Tiefenschärfe setzt. Allerdings gibt es diese bei Von Stroheim auch und das nicht nur in der berühmten Hochzeitsszene in Greed, bei der im Bildhintergrund durch das Fenster sichtbar ein Trauermarsch vorbeigeht. Es war Luchino Visconti, der davon geträumt hat, das Leben eines einfachen Mannes 24-Stunden zu filmen (Flaubert hat ähnliches von der Literatur verlangt). Es bleibt auch keine Überraschung, dass Thomas Mann sich nur Von Stroheim als Filmemacher vorstellen konnte, wenn es darum ging, wer sein mit der Zeit verschränktes Werk Der Zauberberg verfilmen sollte. Ein Buch, das man sich sehr gut in den Händen von Puiu vorstellen könnte. Beide Filmemacher nutzen die Dauer, um auf die Unwegsamkeiten des Banalen und Alltäglichen hinzuweisen. Ein mühsames Vom-Pferd-Steigen von Wolfram in Queen Kelly, das Drehen einer Drehorgel in Merry Go Round oder das Einladen von Getränken in Stuff&Dough und das Umgehen einer Pfütze in Aurora.

Kameraposition

Greed

Greed

Nun ist es so, dass Puiu von seinem Erstling Stuff&Dough bis zu seinem letzten fertiggestellten Werk Trois exercices d’interprétation an der Idee arbeitet, dass sich eine objektive Erzählposition durch eine Unmöglichkeit auszeichnet, die Unmöglichkeit, alles zu sehen. Objekte oder Personen, die Dunkelheit oder schlicht ein ungünstiger Winkel oder eine überraschende Bewegung lassen Figuren und Handlungen aus dem Blickfeld der Kamera verschwinden. Die Kamera ist dabei immer neutral, nie darf sie sehen, was eine Figur sieht, sie ist immer eine autonome Kraft (Gorzo verweist auf einem „Slip“ Puius, der sich am Anfang von Stuff&Dough entdecken lässt, als Puiu in einen POV aus dem Fenster schneidet. Einen solchen „Slip“ gibt es allerdings einige Male in diesem Film, beispielsweise auch später als die Protagonisten mit einem Polizisten diskutieren oder als einige Leichen an einem Feldweg entdeckt werden.). Es ist ein offenbar vom Direct Cinema beeinflusster Ansatz und doch finden sich schon Spuren bei Von Stroheim, der natürlich alleine aus technischen Gründen nicht im selben Handkamerastil wie Puiu drehen konnte. Damit meine ich nicht unbedingt diese Bereitschaft an tatsächlichen Orten zu drehen, wobei das sicher dabei hilft, aber es geht mir tatsächlich mehr um jene Szenen, in denen sich Von Stroheim keinen Schnitt erlaubt wie beim finalen Kampf von Greed als die Kamera einen winzigen Schwenk macht, um den aus den Bild stolpernden Protagonisten zu folgen. Jean Renoirs Diktum, dass der Bildausschnitt immer ein wenig zu eng sein solle, wird also bei Von Stroheim wie bei Puiu angewandt. So überrascht es auch nicht weiter, dass beide Filmemacher sehr viel mit Blicken ins Off arbeiten. Bei Von Stroheim ist das ein ästhetisches Prinzip, der zitternde, oft tränenreiche Blick in ein bestimmtes oder unbestimmtes Off und die Spannung, die dadurch zwischen dem On und dem Off entsteht. So ist es nicht nur in The Wedding March, dass ein solcher Blickwechsel entsteht, sondern schlicht in jedem seiner erhaltenen Filme gibt es mindestens eine solche Szene der Blicke. Spannend wird es dann, wenn Von Stroheim diesen Blick ins Off nicht als solchen inszeniert, sondern in einer Totalen arbeitet, wie zu Beginn von Blind Husbands oder Foolish Wives. Vor allem in letzteren sind die Blicke zwischen Von Stroheim und der Dienerin sehr subtil. Drückt der Off-Screen bei Von Stroheim also oft ein Verlangen aus, das sich in der Spannung zwischen dem was gesehen wird und wir nicht sehen können, erdet, so handelt es sich bei Puiu vielmehr um eine Verlorenheit und Leere, ein abgestorbenes Verlangen. Denken wir an die zahlreichen Blicke ins Off von Puiu selbst (ich werde keine Parallelen des Schauspielstils der beiden Filmemacher suchen) in Aurora. Wir sehen oft nicht, was die Figuren sehen, aber wie bei Von Stroheim geht es auch nicht darum, sondern es geht darum, wie die Figuren sehen. Ihre Reaktion verrät mehr als ihr Point-of-View.

Aurora

Aurora

Dennoch bleibt der in Wien geborene Filmemacher einer, der mit der Kamera wie ein Chirurg arbeitet, während sich Puiu sklavisch mit der von Bazin vorgeschlagenen Objektivität des Mediums verbrüdert. Hier muss man allerdings aufpassen, denn es ist ja gerade der Respekt vor der Autonomie der Kamera, der bei Von Stroheim das Chirurgische bewirkt. Der Grund für dieses perfektionistische Nachbauen von Gebäuden, zum Beispiel in Foolish Wives, dieses manische Verfolgen der Realität liegt in einer Angst vor der Objektivität der Kamera. Es geht um das Unsichtbare, was die Kamera sichtbar machen kann, das was man nicht kontrollieren kann und was eben in der Flüchtigkeit eines filmischen Moments in der Realität existieren muss, damit es im Film manifest wird. Die Kamera würde sonst durch die leeren Hüllen der Sets durchschauen. Puiu hat einmal gesagt, dass er wisse, dass man mit Film nicht objektiv sein könne, er sei kein Idiot, aber es würde ihn reizen, die Grenzen dieser Objektivität auszuloten. Daher sei hier nochmal klargestellt, dass es hier und auch bei Bazin nicht um einen naiven Realismusbegriff geht. Es geht vielmehr um einen Respekt vor der Realität. Ohne hier in die Tiefe einer kritischen Auseinandersetzung mit Bazin gehen zu wollen, sei darauf hingewiesen, dass beide Filmemacher natürlich keine Objektivität erlangen können. Es ist vielmehr eine ethische Frage. So machen beide Filmemacher immer wieder bewusst, dass es sich um einen Film handelt und dass die Position der Kamera etwas „fremdes“ in der diegetischen Welt sein muss. Bei Puiu, der im modernen europäischen Kunstkino arbeitet, ist das weniger überraschend, als bei Von Stroheim, der trotz aller Rebellionen und Widerstände ein Hollywoodregisseur war. Das hängt natürlich auch mit den Überresten eines frühen Kinos zusammen, aber Von Stroheim macht einem immerzu klar, dass man Teil eines Spiels ist, das liegt auch daran, dass man ständig in heimliches Lachen und versteckte Emotionen der Protagonisten einbezogen wird, die einem förmlich zublinzeln. Bei Puiu ist es vielmehr ein Zweifel, der in die Illusion führt, ein Zweifel an der Wahrnehmung, an Fakten, an den Dingen an sich. Bei beiden öffnen sich durch das Spiel und den Zweifel an den Oberflächen die Räume dahinter. Gerade weil die Kamera sich zurückhält und die Dinge in der Zeit beobachtet, wird sie zu einem Seziergerät. Gerade weil sie sich einschränkt, entblößt sie.

Radikalität einer Weltsicht

Foolish Wives

Foolish Wives

Was Bazin, Puiu und Von Stroheim überdies verbindet ist die schonungslose Radikalität ihrer Weltsicht, die ständig um egoistische Lügner und deren obsessive Reaktionen kreist und zwar nicht aus einem moralischen Impetus heraus (wobei dieser bei Von Stroheim nicht immer zu leugnen ist), sondern aus Überzeugung. Bei Von Stroheim finden wir uns in einer Welt der diabolischen Fragilität, hysterische und zerstörte Frauen treffen auf selbstsüchtige und verführende Männer, wogegen bei Puiu die Nüchternheit einer Machtlosigkeit regiert, die völlige Bewegungslosigkeit am Ende seiner Filme steht dafür. Natürlich ist Puiu deutlich härter und illusionsloser als Von Stroheim, aber immer wieder finden sich ganz ähnliche Szenen. Beide Filmemacher vermögen außerordentlich gut das Unbequeme eines Unwohlseins inszenieren. So kann man kaum die Szene vergessen, in der Von Stroheim seine Bedienstete in Foolish Wives belügt oder den Ehestreit in Greed. Es ist dieses Gefühl, dass man am liebsten aus dem Raum verschwinden würde, das bei Von Stroheim auch immer am unerträglichen Wetter hängt. Es ist die Hitze und Schwüle, der Regen, der Sturm, der die Figuren in unbequeme Situationen bringt. Man denke an die Frau, die keinen Blick von ihrem Gatten bekommt in Blind Husbands oder The Merry Widow, in dem sich die Frau ständig unliebsamen Begegnungen gegenüber sieht. Bei Puiu gibt es ganz ähnliche Momente, etwa der spontane Besuch der Mutter mit Freund in Aurora oder das merkwürdige Warten im Garten am Ende von Stuff&Dough (ganz zu schweigen vom Warten in den Krankenhäusern in The Death of Mr. Lăzărescu…). In der ersten Episode in Trois exercises d’interprétation findet sich sogar eine Figur, die praktisch von der ersten Sekunde an einfach nur gehen will. Hier will niemand eine Szene spielen, die Figuren sind ständig auf der Flucht. Bei Von Stroheim auf der Flucht in die Liebelei, bei Puiu auf der Flucht in die innere Hölle. Langeweile und Druck sind weitere unbequeme Eigenschaften, die beide Filmemacher darstellen. Druck löst sich oft in Übersprunghandlungen. Bei Von Stroheim ist das ein verkrampftes Lachen oder ein Tränenmeer, bei Puiu lediglich ein Blinzeln mit den Augen oder ein Ausbruch von Wut. Beide setzen beständig Menschen unter Stress, die dafür nicht unbedingt geschaffen sind und beide finden erstaunliche Wege für ihre Figuren, diesen Stress zu ignorieren. Denn Von Stroheim und Puiu sind Filmemacher der Verdrängung, die diese Verdrängung als solche erkennbar machen. Ständig drücken sich Figuren vor Verantwortung, obwohl sie zunächst welche übernehmen. Zum Teil verschwinden sie sogar einfach. Eine Erlösung ist bei beiden daher eine Illusion. Vielleicht das Ende des Films, aber nicht der Welt. Aber viel eher ist es nicht das Ende des Films, sondern der Welt.

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