Sevmek Zamani von Metin Erksan
Oft schwärmen wir für die Idee einer Person, die nur durch den einseitigen Blick, nur durch das einseitige Wissen der Existenz überhaupt existieren kann. Die Sehnsucht besteht nur fort, solange sie unerfüllt, das Objekt des Sehnens unerreicht in der Ferne bleibt. Die Sehnsucht schöpft aus der Entsagung und dem Versinnbildlichen von Vorstellungen, um sich in einer diffusen Konkretheit zu verlieren. In der romantisierten Ferne liegt das Nichtgreifbare, nur Vorstellbare und nicht Feststellbare. Wolkenschlösser, Wasserdampfgesichter, vermischte Pixelanordnungen. Das Berühmte so nah und doch so fern. Wohin begibt sich die Sehnsucht, wenn das, was wir nur als wohltuende und aufregende Imagination vor unseren Augen hatten, plötzlich vor uns steht und uns aus der ganz privaten Imaginationsrealität, die nur uns alleine gehört hat, in eine neue, geteilte Realität der Begegnung mit der herbeiersehnten Person überführt?
In Metin Erksans Sevmek Zamani fegt der regenreiche Wind die Sehnsucht zuerst in sanfter Aufregung und dann tosend todesmutig über die anatolische Küste. Halil hat sich der Sehnsucht verschrieben. Sein Blick verliert sich in einer sanften Ergebenheit, die nicht mehr sein will als eine Sehnsucht um ihrer selbst willen. Er hat es sich in der Sehnsucht bequem gemacht. Schwelgerisch und melancholisch betritt Halil tagein tagaus ein verlassenes Ferienhaus, um es sich dort im Wohnzimmer auf einem Sessel bequem zu machen. Von dort aus sieht er fern. Nicht in ein Fernsehgerät, sondern er richtet seinen Blick auf das Porträt einer Frau. Mit strengem Auge ist ihr Blick auf jeden Punkt des Raumes gerichtet. Halil hat das Bild nicht selbst gemalt, er ist kein Pygmalion. Was sich in seinem Kopf abspielt, bleibt verborgen. Bevor Halil Platz genommen hat und Sevmek Zamani uns seine Gewohnheit zum ersten Mal offenbart, intensiviert sich der Blickkontakt zwischen ihm und dem Porträt durch eine Montage, die die beiden Gesichter mit jedem Schnitt und jeder Einstellung näher rückt, bis Merals eindringliche, weit offene Augen ganz groß zu sehen sind und auf sein tiefes Atmen in einer Halbnahen treffen. In seinem Gesicht glitzern noch Tropfen, die er aus dem Regen nach Drinnen mitgenommen hat. Sie erwecken den Eindruck von fehlplatzierten Tränen oder Schweißperlen. Die Tonebene forciert eine sehnsuchtsvolle Stimmung und kreiert in Kombination mit Halils Mimik eine lustvolle Komik. Sevmek Zamani: Halil hat alle Zeit der Welt für seine Liebe, denn hier scheint die Welt stillzustehen.
Halil befindet sich an einem Ort, nach dem sich wohl selbst viele sehnen. Ein schicker Ferienort auf den Prinzeninseln nahe Istanbul. Wahrscheinlich ist Winter, denn es regnet in Strömen und Halil führt mit einem älteren Kollegen Renovierungsarbeiten für die Istanbuler Schickeria durch. In seinen Pausen besucht er das Porträt der Frau. Und dann kommt es, wie es kommen muss: Meral stattet ihrem Ferienhaus einen Wochenendbesuch mit Freundinnen ab. Alleine betritt sie hinter seinem Rücken, mit einem neugierigen Auge auf Halil das Zimmer, in dem der Fremde vertieft und hingerissen ihr Porträt anblickt. Ihr gefällt sein Blick auf ihr Abbild und somit das Begehrt-werden: Sie lächelt. Nachdem Halil sie bemerkt, scheint er peinlich berührt, senkt seinen Blick und wagt es kaum Meral anzuschauen – wie er sie auch in den folgenden Begegnungen kaum anblicken wird. Er verlässt mit ihrer Erlaubnis das Haus.
Dass er Meral noch schöner als ihr Porträt findet, erzählt Halil kurz darauf seinem Kollegen. Time to Love? Time for a dream to come true? Meral liegt nach der Begegnung unruhig mit Ovids Ars Amatoria auf ihrem Sofa und rollt sich liegend in einer undefinierbaren Choreografie auf dem Polstermöbel herum. Seufz. Kurz darauf folgt eine Montage sehnsüchtiger Fensterblicke von Halil und Meral durch ihre verregneten Fenster in die Ferne. Aufnahmen von einsamen Blicken in ungeahnte Weiten sind ein häufiger Ausdruck der Sehnsucht in Sevmek Zamani. Irgendwo da draußen treibt sie sich herum, die Liebe. Vielleicht ist sie in ihrer Erwartung, irgendwo in der Ferne zwischen den Regenfäden besser aufgehoben als in den Momenten der Erfüllung, die in Windeseile in eine Leere der Enttäuschung zu gleiten vermögen. In der Kunst der Liebe ist die Tragik vorprogrammiert. Nach ihrer Ovid-Lektüre hat Meral dennoch beschlossen, sich Halil zu angeln. Der mag sich zwar in ihr Gesicht verliebt haben, aber das Objekt seiner Begierde ist nicht die lebendige Meral selbst. Das steht für ihn von Anfang an fest. Er will nur anschauen und bedingungslos angeschaut werden. Das zweidimensionale Gesicht kann ihm sein Herz nicht brechen. Seine Vorstellung von Erfüllung ist Ansichtssache. Da Meral diese Liebe für ein Abbild ihrer selbst anstatt ihrer Person ein Dorn im Auge ist, sie aber zugleich die Leidenschaft für ihr Bild bewundert, verliebt sie sich in diesen Mann: „Ich dachte immer, wahre Liebe sei ein Mythos. Aber deine Leidenschaft für mein Bild hat meine Sichtweise verändert. Jetzt bin ich in dich verliebt.“ Merals Vorstellung von Erfüllung liegt in einer dreidimensionalen Zweisamkeit mit Halil.
Mit klaren Worten erklärt Meral ihrer Liebschaft in Istanbul die Trennung, da nun ihre Liebe zu Halil beschlossene Sache sei, auch umgekehrt ist sie überzeugt, dass Halil sie liebe. Als Beweis dienen ihr seine Blicke auf das Bild. Doch Halils Verlangen unterscheidet sich von dem ihren. Wo soll die Liebe also hin oder bleibt sie besser zurück? Liebe erfährt in Sevmek Zamani ihren Ausdruck immer wieder über eine monotone Besprechungstonalität, die genauso einer Geschäftsverhandlung entspringen könnte oder die pragmatische Ergebenheit gegenüber dem Schicksal signalisiert. Dass der Beschluss jemanden zu lieben nicht gleichzusetzen ist mit dem tatsächlichen Empfinden, dass Gefühle nicht auf Befehl evoziert werden können, dass aber ohne Gespräch auch die vorhandenen Gefühle aus den Bahnen gleiten, drückt sich im unruhigen Wechsel von einem Zueinanderfinden und Auseinanderdriften von Halil und Meral aus. Liebe, Freundschaft, Intimität, Distanz, Sehnsucht, alles ist hier und auch fort, vermischt sich in einem Wechselbad. Aus der Ferne ruft die Sehnsucht miteinander zu sein, aus der Nähe diejenige ohneeinander zu bleiben.