Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Dossier Beckermann: Heimatsuche (Die papierene Brücke)

In man­chen Fäl­len kann es auf­schluss­reich sein, Fil­me einem Umfeld aus­zu­set­zen, das ihnen nicht gerecht wird. Schlech­te Sich­tungs­be­din­gun­gen kön­nen die Wahr­neh­mung der­art beein­träch­ti­gen, dass sich dar­aus neue Per­spek­ti­ven auf einen Film erge­ben. Das kann sehr pro­duk­tiv sein. Ein Bei­spiel für so eine durch äuße­re Ein­flüs­se ver­scho­be­ne Per­spek­ti­ve war ein rezen­tes Scree­ning von Ruth Becker­manns Die papie­re­ne Brü­cke im Raum mit der viel­leicht schlech­tes­ten vor­stell­ba­ren Akus­tik. Er befin­det sich iro­ni­scher­wei­se im film­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tut der FU Ber­lin, wo die Räum­lich­kei­ten doch eigent­lich dafür geeig­net sein soll­ten audio­vi­su­el­les Mate­ri­al zu prä­sen­tie­ren. (Frei­lich ist das kein exklu­si­ves Pro­blem die­ses Insti­tuts, denn die Semi­nar­räu­me des TFM-Insti­tuts in der Wie­ner Hof­burg sind ähn­lich schlecht für Film­vor­füh­run­gen geeignet.)

Die Kom­bi­na­ti­on aus unter­ir­disch schlech­tem Ton-Set­up, mit­tel­mä­ßi­gen Boxen und mie­ser Akus­tik mach­te es bei­na­he unmög­lich zu ver­ste­hen, was die Per­so­nen im Film spra­chen. Da nur das Voice-Over eini­ger­ma­ßen zu ver­ste­hen war, blieb uns (einer Grup­pe deut­scher Mut­ter­sprach­ler) nichts Ande­res übrig, als nach eini­ger Zeit die eng­li­schen Unter­ti­tel der DVD zu akti­vie­ren, um den Erzäh­lun­gen der Prot­ago­nis­ten fol­gen zu können.

Unter­ti­tel kön­nen den Klang und die Melo­die der mensch­li­chen Stim­me jedoch nicht erset­zen. Eine Bin­sen­weis­heit, aber gera­de im Fall von Die papie­re­ne Brü­cke, konn­te man hören (oder eben: nicht hören), was durch die schlech­te Ton­qua­li­tät ver­lo­ren ging. Dazu spä­ter mehr.

Eine Reise in die Erinnerung

Die papie­re­ne Brü­cke mar­kiert einen Bruch im Film­schaf­fen Becker­manns. Waren ihre ers­ten Fil­me noch aus dem Geist der Are­na-Bewe­gung als Form des poli­ti­schen Akti­vis­mus ent­stan­den, so folg­te mit Wien retour ein lang­sa­mer Über­gang zu einem selbst- und form­be­wuss­te­ren Fil­me­ma­chen. Nach eini­gen Jah­ren ver­stärk­ter publi­zis­ti­scher Tätig­keit hat Becker­mann in Die papie­re­ne Brü­cke einen Stil ent­wi­ckelt, den sie auch in ihren fol­gen­den Fil­men bei­be­hal­ten soll­te. Die sti­lis­ti­sche Ent­wick­lung lässt sich einer­seits an einer Abkehr vom Repor­ta­ge­stil der frü­he­ren Fil­me fest­ma­chen (wenn­gleich das bereits zu gro­ßen Tei­len auf Wien retour zutrifft) und ande­rer­seits an einer Wen­dung hin zum Persönlichen.

Mit Die papie­re­ne Brü­cke rückt die Fami­li­en­ge­schich­te und die eige­ne Bio­gra­phie ins Zen­trum des Beckermann’schen Film­kos­mos. Anders als noch in Wien retour, tritt Becker­mann kraft ihrer Stim­me nun selbst als Erzäh­le­rin auf. Zu Beginn des Films erzählt sie von ihrer Groß­mutter, die den Zwei­ten Welt­krieg als U‑Boot über­leb­te, indem sie sich stumm stell­te und pha­sen­wei­se obdach­los durch die Stra­ßen streun­te. Wäh­rend Becker­mann das erzählt, filmt sie mit ihrer Kame­ra aus einer Stra­ßen­bahn, die am Wie­ner Ring ent­lang­fährt – der Auf­takt für eine fil­mi­sche Rei­se­be­we­gung, die sie auf die Spu­ren ihrer eige­nen Ver­gan­gen­heit führt.

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Sie reist nach Osten, nach Czer­no­witz, an die ehe­ma­li­ge Ost­gren­ze des k.u.k.-Reichs, in die dama­li­ge Sowjet­uni­on, in die heu­ti­ge West­ukrai­ne, in die Geburts­stadt ihres Vaters Salo Becker­mann. Sie sucht nach Bil­dern zu den Erzäh­lun­gen und Erin­ne­run­gen ihrer Ver­wandt­schaft, ein aus­sichts­lo­ses Unter­fan­gen, denn die Erin­ne­rung lässt sich schlicht nicht bebil­dern, und nur mühe­voll mit der Rea­li­tät konfrontieren.

Der Film lebt von die­ser pro­duk­ti­ven Dif­fe­renz vom Damals, das Becker­mann nur aus Erzäh­lun­gen und Büchern kennt, und vom Heu­te, das die Kame­ra auf­zeich­net. Die Ver­gan­gen­heit mani­fes­tiert sich in Spu­ren, ist (noch) nicht ganz ver­schwun­den, lebt viel­leicht so lan­ge, wie die weni­gen alten Män­ner und Frau­en der jüdi­schen Gemein­de von Czer­no­witz den Sab­bat fei­ern – die Jun­gen sind nach Isra­el gezo­gen, um dort eine bes­se­re Zukunft zu gestal­ten, eine Uto­pie, die heu­te bereits Geschich­te gewor­den ist.

„Gibt es ein Ankommen, das nicht Ende heißt?“

Becker­manns Rei­se ist eine Rei­se ohne kla­res Ziel. Sie grast Czer­no­witz und die umlie­gen­den Dör­fer ab und kehrt dann wie­der zurück. Sie über­quert Gren­zen, legt Distan­zen zurück, die damals, als ein Eiser­ner Vor­hang Euro­pa durch­teil­te, unend­lich grö­ßer waren, als heu­te. Die Rei­se ist das Ziel. Eine wei­te­re Bin­sen­weis­heit, doch sel­ten so tref­fend wie in Die papie­re­ne Brü­cke: die lan­gen Fahr­ten mit dem Auto, die inves­ti­ga­ti­ve Spu­ren­su­che, die Begeg­nun­gen mit den letz­ten Res­ten einer Ver­gan­gen­heit, die prä­gend für Becker­manns Selbst­ver­ständ­nis, aber trotz­dem nicht die eige­ne ist. Die Rei­se ist der Kata­ly­sa­tor für die Reflek­ti­on, wo sie genau hin­geht, und wel­che Etap­pen dabei absol­viert wer­den ist dabei gar nicht so entscheidend.

Der Holo­caust als ein­schnei­den­des Fami­li­en­er­leb­nis, das von den Über­le­ben­den und Nach­kom­men geteilt wird. Es lässt Becker­mann nicht los. Sie fragt, wes­halb so vie­le star­ben, und man­che über­leb­ten. Sie ist nicht die ein­zi­ge die die­se Fra­ge stellt. Ihre Gesprächs­part­ner, die sich zum Teil unter­ein­an­der in Dis­kus­sio­nen ver­wi­ckeln, schei­tern eben­falls an einer Erklä­rung. Ist es das, das oft­mals pro­kla­mier­te Nicht-Dar­stell­ba­re am Holo­caust? Die Fra­ge nach dem Warum?

Jac­ques Ran­ciè­re hat dazu geschrie­ben, dass das Pro­blem der Dar­stell­bar­keit der Kata­stro­phe nicht, wie so ger­ne nach 1945 von Theo­re­ti­kern, Intel­lek­tu­el­len und Phi­lo­so­phen ver­kün­det, zur Ohn­macht führt, son­dern dazu, dass neue Mög­lich­kei­ten der Form­ge­bung ent­ste­hen. Ran­ciè­re bezog sich dabei auf Clau­de Lanz­manns Sho­ah, doch Die papie­re­ne Brü­cke stützt sein Argu­ment eben­falls. Repor­ta­ge, Essay­film, Bio­gra­phie, irgend­wo zwi­schen jour­na­lis­ti­schem, poli­tisch-moti­vier­tem Wil­len zur Ver­mitt­lung und cine­phil-geschul­tem Wil­len zur Kunst (in die­ser Zeit war Chris Mar­ker ihre wich­tigs­te Referenz).

Die Stimme, ein Leben

Zurück zu die­ser beson­de­ren Sich­tung mit ihren Ton­pro­ble­men. Becker­mann besucht ein Film­set, wo öster­rei­chi­sche Juden als Kom­par­sen für eine US-Doku über ein Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger ein­ge­setzt wer­den. In den Dreh­pau­sen dis­ku­tie­ren sie ener­gisch, wer­fen ihre jewei­li­gen Bio­gra­phien und Fami­li­en­ge­schich­ten ins Gefecht. Alle spre­chen deutsch, die Unter­ti­tel geben wie­der, was nur schwer zu ver­ste­hen ist. Unter bes­se­ren Bedin­gun­gen wür­de man noch viel mehr hören, als Lebens­ge­schich­ten und Mei­nun­gen zu poli­ti­schen und his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen. Die Stim­men ergän­zen das Gesag­te. Da ist eine alte Frau, die mit einem star­ken eng­li­schen Akzent spricht. Sie dis­ku­tiert mit einer jün­ge­ren Frau, die mit schwa­chem öster­rei­chi­schem Akzent spricht. An einem ande­ren Tisch strei­tet ein alter Wie­ner mit einem jün­ge­ren Mann, der nur gebro­chen Deutsch, mit jugo­sla­wi­schem Akzent spricht. Was sie in den Gesprä­chen von sich preis­ge­ben wird ergänzt durch den Klang ihrer Stimme.

Mar­kan­te Sprach­fär­bun­gen spie­len bei Becker­mann immer wie­der eine Rol­le. Der Akzent des Vaters spielt im Film eine pro­mi­nen­te Rol­le, fin­det sich auch Adi Doft, dem letz­ten Tuch­händ­ler der Marc-Aurel-Stra­ße, in Homemad(e). Das Sprach­pot­pour­ri in Zor­ros Bar Miz­wa muss hier eben­falls Erwäh­nung fin­den: Sophie hat einen eng­li­schen Vater, Sharon geor­gi­sche Eltern, Mois­hys Fami­lie spricht mit der fast aus­ge­stor­be­nen, typi­schen Sprach­fär­bung der Jüdi­schen Gemein­de von Wien – Becker­mann hat die­se Spiel­art des Wie­ne­ri­schen durch ihr lan­ges Inter­view mit Franz West in Wien retour für die Nach­welt dokumentiert.

Die Papierene Brücke von Ruth Beckermann

Immer wie­der dre­hen sich Becker­manns Fil­me um Men­schen, die ein ganz beson­de­res Ver­hält­nis zu ihrer (Mut­ter-) Spra­che haben. Die Aus­wan­de­rer, die die deut­sche Spra­che ver­ges­sen wol­len, um ihre bit­te­re Ver­gan­gen­heit zu ver­ges­sen. Neu­an­kömm­lin­ge in einem frem­den Land (Sehn­suchts­land: Isra­el), wo das Gebro­che­ne (Eng­lisch, Deutsch, Rus­sisch, Hebrä­isch) Lan­des­spra­che ist. Die­se Fil­me fin­den auch in den Nuan­cen die­ser Sprach­un­ter­schie­de statt, und wenn man das nicht hört, hat man den Film nur halb gesehen.

Zum Abschluss ein Satz in mar­kant ost­eu­ro­pä­isch-jid­disch gefärb­ten Deutsch: „Was soll ich in Isra­el machen?“ Salo Becker­mann sagt die­sen Satz gegen Ende des Films im Gespräch über sei­ne Ent­schei­dung nach dem Krieg in Wien zu blei­ben. Aus die­ser gewich­ti­gen Ent­schei­dung und der damit ver­knüpf­ten Fra­ge ent­steht Becker­manns nächs­ter Film Nach Jeru­sa­lem, wo sie die­ses „Land der ein­zi­gen Mög­lich­keit“ fil­misch ver­misst und die Fra­ge für sich beant­wor­ten möch­te. Das größ­te Ver­mächt­nis der Eltern, soviel wird klar, ist die Ent­schei­dung für Wien. Wien ist Referenz‑, Dreh- und Angel­punkt des (fil­mi­schen) Lebens von Ruth Becker­mann. Jede Rei­se, die sie von dort weg­führt – und das ist viel­leicht ent­schei­den­der als Rei­se­zie­le, die es in ihren Fil­men kaum gibt – ist letzt­lich rück­ge­bun­den an die­sen Ort, von dem sie auf­ge­bro­chen ist, und den sie dadurch bes­ser ver­steht, dass sie ihn für eini­ge Zeit verlässt.