In den 1980ern im Rahmen des Forums der Berlinale hochgelobt, fristete Canale Grande von Friederike Pezold in den letzten 40 Jahren ein Schattendasein. Nun wurde er im Zusammenhang des Programms „Sehnsucht 20/21“ der diesjährigen Diagonale fast beiläufig, wenn man der Erzählung der Festivalintendanz Glauben schenken mag, wiederentdeckt. Nach einer Odyssee, die laut Sebastian Höglinger einem Agentenfilm geähnelt hätten, konnten schließlich die Rechte für eine erneute Aufführung gesichert werden. Dem Mythos um diesen Film hat diese Geschichte mitnichten geschadet. Man soll sich wohl glücklich schätzen, diesen Film sehen zu dürfen.
Wie ein Manifest beginnt der Film. Pezold, die sich selbst vor der Kamera als Protagonistin des Films inszeniert, überstreicht mit schwarzer Farbe zuerst die Fenster ihrer Wohnung sowie anschließend die Mattscheibe des Fernsehers. Dort flimmert noch die Übertragung einer Karnevalssitzung. Im Bild ein bietrunkenes Männergesicht, dazu volkstümelnde Beschallung. Pezold will sich damit lossagen von der überfüllten Welt der Bilder und Wörter – oder wie sie es nennen würde: der ganzen Scheiße. Sie fasst den Entschluss, von nun an ihr eigenes Fernseh-Programm zu gestalten, das sie aber stattdessen als Nah-Sehen bezeichnet. Für ihren Sender „Radio Freies Utopia“ muss sie sich nur noch die entsprechenden Produktionsmittel beschaffen. Wenig erfolgsvorsprechend versucht sie sich öffentliche Überwachungstechnik aus Bank und U-Bahn anzueignen. Aber schließlich wird sie in einer Psychiatrischen Klinik fündig. Georg Orwell oder Michel Foucault scheinen verstummt in Rufweite zu sein.
Von da an sendet sie ihr Programm direkt aus der Kamera über ein einziges Kabel auf einen Monitor. Das Studio wird kurzerhand mobil gemacht, indem Pezold alles auf einer Trage zusammen schnürt. So kann das Nahseh-Programm wie das Fernsehen überall hingelangen – aber jeweils nur an einem Ort, nicht an allen gleichzeitig. Pezold zitiert damit eine ihrer medienkünstlerischen Arbeiten (Radio Freies Utopia), mit der sie schon einige Jahre zuvor bekannt geworden war. Mit einem gewissen anarchischen Geist, der vielleicht an die Filme des neuen deutschen Films – insbesondere Herbert Achternbusch – erinnert, zieht die Regisseurin durch die Straßen von Wien und Berlin. Begleitet wird sie dabei permanent von einer zweiten Kamera (Elfi Mikesch), die des Films. Zwei Medien – Film und Video – begegnen sich. Das eine elektronisch-ephemer, das andere körnig-materiell. Für Pezold lösen sich so im Video Utopien ein, während diese im Realismus des Films vermeintlich schon verloren gegangen sind. Höglinger sprach im Vorfeld davon, bei dem Film handele es sich um eine Revolution. Diese gilt es jedoch nicht im geschichtlichen Sinne zu suchen, vielmehr handelt es sich um die Bildwerdung der feministischen Losung: Das Private sei Politisch.
Canale Grande scheint sich allerdings der Schwierigkeiten, die Utopie zu verwirklichen, bewusst zu sein. Auch, wenn das wahrscheinlich der geläufigen Lesart dieser oder ähnlicher Filme zuwiderläuft, so könnte man meinen, Pezold versuche eher die Kehrseite des Politischen zu zeigen. Der Akt der Aneignung gerät zur Farce, nämlich dann, wenn auch der eigene Leib zum Produktionsmittel verdinglicht wird. Emanzipation und Verhängnis sind sich dabei mindestens so nah, wie die Kamera dem Körper. Befreiung, bloß positiv zu denken, wie es die Katalog-Texte suggerieren, sitzt damit unweigerlich dem Missverständnis von Brechts Radiotheorie auf, die Enzensberger einmal, beflügelt von den naiven Hoffnungen der 68er, in die Welt gesetzt hatte.
Anstatt sich die Frage zu stellen, was es bedeutet, diesen Film 40 Jahre später wieder aufzuführen, wird er als zeitlos, ja gerade zeitgenössisch verschrien. So als würde ihn das in irgendeiner Weise wertvoller machen oder aus seiner verstaubten Archivecke holen können. Was das Anliegen des Films betrifft, sollte so eine Aussage wohl eher erschüttern. Wer glaubt, den Vergleich so ohne weiteres ziehen zu können, hat sich vielleicht schon mit der Musealisierung der Avantgarden gemein gemacht und die implizite Frage hinter der Antwort, die Pezold bereit hält, nicht verstanden. Die utopische Sehnsucht nach Nähe vollzieht sich notgedrungen durch Abtrennung beziehungsweise Vereinzelung. Doch was ist das Versprechen davon? Müsste man nicht diese Zurichtung zum Individuum, das sich selbst zu Markte trägt, infrage stellen, gerade im Jahr 2021? Was für den Film als revolutionär erscheint, zeigt sich doch gegenwärtig als banales Einverständnis mit der Wirklichkeit. Das Bild mag das selbe sein, aber die Bedingungen haben sich verändert.
So sehr ein Film auf die Realität einwirken mag, wird er im Getöse des Betriebs zum Mythos idealisiert, um ihn letztlich handhabbar zu machen. Das zählt wahrscheinlich auch für Canale Grande. Den Film wie auf einem Servierteller präsentiert zu bekommen, mutet an, wie ein Ereignis, an dem man Teil hatte, hinter dem jedoch die Erfahrung zurück fällt. Man wird aber nicht schlauer aus einem Film, wenn man sich vorhält, wie besonders er sein möge. Im Gegenteil, es zeigt wohl eher, welcher Stellenwert ihm in einer total vereinzelten Welt zukommt. Wo sich dort noch Sehnsucht auf eine bessere Welt verbergen soll, bleibt mir vorerst unerklärlich.