Helke Sanders Kurzfilm Subjektitüde und Jutta Brückners Ein ganz und gar verwahrlostes Mädchen – Ein Tag aus dem Leben der Rita Rischak verbindet etwas: Beide Filme erzählen nicht nur vom Begehren, sie tun dies durch ein markantes Voice-Over. Die Sehnsucht nach Liebe und das scheinbar spontane Äußern von Begehren oder Ablehnung legen sich in Gedankenströmen über die Bilder. Mit den Stimmen aus dem Off wird das Sichtbare zu einer Hülle, die das Spiel des Begehrens ummantelt und die wahren, gedanklich formulierten Intentionen verbirgt.
Eine Figur wie Rita taucht in der Filmgeschichte selten auf. Ihre Bestrebungen passen weder heute noch damals zum Anspruch einer Leistungsgesellschaft: Sie weigert sich, einen Job auszuüben, der ihr nicht gefällt oder in dem der Chef handgreiflich wird; sie dreht beim Jobinterview den Spieß um, sie spricht aus, wenn ihr etwas nicht passt. Außerdem fand sie ihr Baby nicht schön, als es zur Welt kam. Wie kann so eine schöne Frau wie ich so ein hässliches Kind kriegen? Solche Sätze stellen sich den Erwartungen gegenüber Müttern entgegen. Für Ein ganz und gar verwahrlostes Mädchen holte Jutta Brückner ihre gute Freundin Rita Rischak vor die Kamera. Diese spiele darin, so erklärte Brückner, ihr eigenes Leben nach, das ebenso ablaufe. Rita lässt sich herumtreiben, doch gesellschaftliche Normen, und meist auch die Realität der Care-Arbeit, verbieten es einer Mutter sich gehen zu lassen, denn das bleibt den coolen männlichen, kinderlosen Driftern und selbsternannten Außenseitern vorbehalten, oh boy!
Rita ist ständig auf der Suche nach Geld und treibt mal mit Ziel und mal ohne durch den Tag. Natürlich lässt sich fragen: Wer ist hier eigentlich verwahrlost? Sie oder das System, das von ihren Mitmenschen fleißig gestützt wird? Eine ihrer Freundinnen betont, wie wichtig es doch wäre, an sich selbst zu arbeiten, sich zu pflegen und gut auszusehen – „Mein Körper und mein Gesicht sind mein einziges Kapital“ –, für ihre Mutter sind vor allem Ordnung und Sauberkeit in der Wohnung ein Indiz für ein intaktes Leben, während Ritas Liebschaften sie emotional auf Abstand halten. „Ich ruf dich an“, lautet der One-Night-Stand-Satz, mit dem Rita bestens vertraut ist. Die Abläufe des Datings sind immer gleich. Aus dem Off leiert Rita ermüdet die erwartbare Choreographie herunter, die durch ihre Vertrautheit nicht an Tempo oder Wohlfühlfaktor gewinnt, sondern sowohl ihren Reiz als auch ihre Individualität verliert.
Dabei wünscht Rita sich nichts mehr als ein Ausbrechen aus diesen Mustern. Sie sehnt sich nach dem Klingeln des Telefons, das die liebevolle, zärtliche Ehe mit einem Mann einläutet. Aber ihre Verwahrlosung lässt Telefon und Hochzeitsglocken unbewegt. Ritas Sehnen kann nicht erfüllt werden. „Liebe, das ist so ’n ganz großes Wort bei mir“, verlautbart sie in einer von vier Szenen, in denen sie an die Kamera gerichtet über ihr Leben und Lieben, über ihre „pseudoemanzipatorische Welt“ nachdenkt.
Ihr Sehnen nach Liebe reiht sich ein in eine kulturell tradierte Vorstellung von Romantik: Der mutige Ritter kommt, um die unschuldige, hilflose Prinzessin aus ihrem Turm zu retten und sie so aus der Turmgefangenschaft zu befreien und mit einer Beziehungsabhängigkeit zu beglücken. Die vier Wände des Glücks, den Horizont außer Sichtweite. Rita verhält sich weder wie eine Prinzessin noch wie eine böse Hexe. Wäre sie die Heldin eines Märchens: Sie wäre wohl eine Mischung aus beidem.
Im Zwiespalt zwischen Anerkennung durch und Abgrenzung von einer patriarchalen Kunst- und Kulturlandschaft fanden sich auch feministische Filmschaffende der 1960er und 1970er Jahre wieder. Es hieß, sich einerseits formal und inhaltlich gegenüber dem Einheitsbrei der männlich dominierten Film- und Fernsehlandschaft abzugrenzen, die weiblichen Lebensrealitäten keinen Platz einräumte, andererseits deren Kanäle und Plattformen, eben die der dominanten bestehenden Strukturen zu nutzen, damit sich auch ein breites Publikum feministische Forderungen und weibliche Lebenswelten auf der Leinwand und im Fernsehen konfrontieren konnte. In jedem Fall hieß es, mit der eigenen Stimme den vorherrschenden Erzählformen etwas entgegenzusetzen.
So werden die Stimmen der Protagonistinnen in beiden Filmen laut. Rita gibt in ihrem Voice-Over ihre Gedanken wider, sie werden Teil der Erzählung, lassen erahnen, wie die Figur Rita tickt. Indem Brückner diese Stimme aus dem Off integriert, öffnet sich eine zweite Ebene: über Ritas gesellschaftliche Umgebung hinaus erfahren wir von ihrem Inneren, dem Unsichtbaren. Im gedanklichen Monolog, der über den narrativen Szenen tönt, scheint die Ehrlichkeit und Direktheit der Figur zu liegen. Zwar mag ihr die Kontrolle über ihre Gesichtszüge stellenweise entgleiten, doch wie furchtbar nervig sie ihr Gegenüber wirklich findet, lässt sich nur durch ihre direkten Gedanken erfahren.
Die spontane Anziehung oder Ablehnung Ritas während einer Begegnung bleibt für das Publikum kein Geheimnis. Das Voice-Over wirkt wild und intuitiv. Rita leitet nicht durch die Erzählung, ihre Kommentare stehen eher für sich. In feministischen Klassikern aus den 1990er Jahren wie Fried Green Tomatoes, The Piano, Daughters of the Dusthat das Voice-Over eine ordnende Funktion. Es bildet eine Instanz, die das Publikum durch den Film führt und der Erzählform untergeordnet bleibt. Diese Protagonistinnen sind Erzählerinnen, die sich zurückerinnern und die Ereignisse mit Abstand rational einordnen. Ritas Kommentar ist hingegen in ein direktes Geschehen eingebettet, es gibt keine Zeitunterschiede zwischen ihrer auf der Bildebene sichtbaren und der auf der Tonebene hörbaren Persönlichkeit, beide sind scheinbar in der Gegenwart, im Moment verankert. Auch wird ihr Voice-Over durch kein anderes visuelles Medium transportiert, wie etwa die Kolumne der Cary Bradshaw in Sex and the City oder das Tagebuch in Bridget Jones. Denn mit der Verschriftlichung durchlaufen die Gedanken immer schon einen Filter, eine innere Zensur, sie wird ordnend-erzählend.
In Helke Sanders Subjektitüde wirkt der Voice-Over-Gedankenstrom noch direkter, weil er eine einzige Szenerie von vier Minuten Dauer erzählt und drei Personen integriert. Eine Frau steht an einer Bushaltestelle, denkt darüber nach, dass Kinder wahlberechtigt sein sollten und bemerkt zwei Männer und deren auf sie gerichtete Blicke. Die Kamera folgt mit verwackelten Zooms visuell ihrer Perspektive, dann die der zweier Männer. Knappe Kommentare der drei wechseln sich ab. Die begehrenden Blicke der flüchtigen Begegnungen werden gedanklich ausgesprochen. Am Ende bekommt die Frau ungewollt von einem der beiden Männer einen Kuss aufgedrückt. Die Begegnung endet, als der Bus kommt. In den flüchtigen Blicken und schnellen Bewegungen offenbaren sich die Funktionsweisen einer Welt, in der nicht-männliche Personen sich ständig ihren Platz, auch den im Bus, erkämpfen müssen.
Diese offenbar ungefilterte Direktheit der Gedanken aus dem Off fügt sich in einen historisch markanten Moment des feministischen Filmschaffens. So bedeuteten die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre den Aufbruch der Filmemacherinnen, die ihren jahrzehntelangen Ausschluss nicht mehr mit sich geschehen lassen wollten. Ihre Stimmen, ihre Gedanken gerieten in einen Austausch miteinander, wurden laut und traten gemeinsam an die Öffentlichkeit. Subjektitüde erschien 1966, im ersten Jahr der neu gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie, in der Helke Sander als eine von drei Frauen ihr Studium begann. Ihr erster Kurzfilm entstand im Rahmen einer Aufgabe des Kursleiters Jiří Weiss, der vorgab einen Film zum Thema „boy meets girl“ zu drehen. Ein Thema, das Sander, wie sie später erzählte, entgegen den Erwartungen bearbeitete.
Sander arbeitete auch in Redupers – Die allseitig reduzierte Persönlichkeit und in Der subjektive Faktor ebenfalls wieder mit Voice-Overs. Brückner setzte Voice-Overs ebenso in ihrem folgenden Film Hungerjahre – in einem reichen Land wieder ein. Hier erfüllt das Voice-Over im Wesentlichen eine Erzählerinnenfunktion. Brückners Auseinandersetzung mit der Freundinnenschaft zu Rita verstand sie selbst als zweite Station auf dem Weg zur Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Biografie in Hungerjahre. Ihre Autobiografie begann aber nicht mit ihr selbst, sondern mit der ihrer Mutter, sagte Brückner. So sehen wir in ihrem ersten Film Tue recht und scheue niemand – Das Leben der Gerda Siepenbrink Interviews mit ihrer Mutter, die über ihre eigene Vergangenheit spricht. Und mit Rita Rischak begleitet Brückner die Identitätssuche ihrer Freundin. Dass auf der Suche und dem Nachdenken über die eigene Identität das Sprechen über Liebe und Begehren eine wesentliche Rolle spielt, machen diese Filme nicht nur deutlich, sie führen es uns direkt vor Augen und Ohren. Sie strömen als Gedanken zwischen uns, den Filmen und ihrem Publikum.