Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Gesten der Zuneigung (cine amandi V)

Valentinstag um 8:30 Uhr im Berlinale Palast: Sheng xi zhi di (Living the Land) von Huo Meng. Ein Film über eine Dorfgemeinschaft im Südosten Chinas; über ein Leben, das nur in seiner Gemeinschaftlichkeit bestehen kann. Keine Geschichte über den individuellen Aufstieg und Fall oder die Irrungen und Wirrungen einer Beziehung. Viel mehr ein Film über viele Beziehungen, über mehrere Generationen und Modernisierungsphasen hinweg. Die Erzählung beginnt mit dem Ende eines Lebens, also einem Begräbnis und der Exhumierung eines halb verfallenen Skeletts, das als einziges abseits der familiären Ruhestätte vor sich hin rottete. Liebevoll sammeln einige Männer und Jungen das, was von dem Verstorbenen übrig blieb, auf. Als Erzähler sticht einer der Urenkel hervor, ein zehnjähriger Junge, Chuang, dessen Eltern nach Süden gezogen sind, in die Stadt Shenzhen, um dort durch Fabrikarbeit ihren sozialen Aufstieg zu versuchen. Ihr seltener Besuch mit seiner beschwerlichen Anreise in das Dorf ist von so kurzer Dauer, dass die Sehnsucht nach einem Wiedersehen, nach dem Miteinandersein umso schneller wieder aufkeimt.

Das Leben im Dorf ist karg, strukturiert durch die Erntearbeit, den Schulunterricht, die Feier- und Festtage. Man muss sich aufeinander einstellen. Wie ertragreich die Weizenernte ausfällt, bestimmt den Verlauf der Folgezeit. Regelmäßig wird der Gang zu den Gemeindeärzt*innen von der Regierung eingefordert: Familienpässe und Schwangerschaftstests sollen die Ein-Kind-Politik kontrollieren, deren Überschreiten durch hohe Strafen und Zwangssterilisationen geahndet wird.

Liebe wird in Form von kleinen Gestern, von Fürsorge und Zusammenhalt, als Schutzschild gegen ein feindliches Außen oder gewalttätige Handlungen innerhalb der Familie sichtbar. Am spürbarsten wird sie in Momenten zwischen Kindern und ihren Müttern, Tanten, Großmüttern und Urgroßmüttern, die gelernt haben, Emotionen aufzufangen und weiterzugeben. Dass weder Onkel, Lehrer oder Großvater die Fähigkeit besitzen, emphatisch zu agieren, unterscheidet sie von Chuang, der hingegen (noch) sensibel ist. Die Männer funktionieren, wenn die Erntearbeit geleistet werden muss, verprügeln ihre Kinder, wenn sie in ihren Augen Probleme machen und verurteilen jene Frauen, die mit ihren Ehemännern nicht zum ersten Mal Sex haben. Zweckgemeinschaften wie die Ehe bestehen hier ohne Zuneigung. Sie findet sich woanders ein. Chuang hat Zugang zu seinen Gefühlen, beobachtet seine neunundzwanzigjährige Tante, um zu wissen, wie es ihr geht, genauso wie seine Urgroßmutter oder einen anderen Verwandten, der als einziger Bewohner des Dorfes mit einer Behinderung zu dem Jungen eine besondere Beziehung hat. Auch seinem fast gleichaltrigen Cousin weiß Chuang gut zuzureden, wenn dieser frustriert von der Schule nachhause geht, weil er nicht das vom Lehrer verlangte Weizen mitgebracht hat. Sein bereits keimendes Weizen wurde zum Gegenstand des Spotts, sein Schulabschluss hängt an diesem Beitrag. Tröstende Worte und eine kleine Berührung auf der Schulter symbolisieren die Empathie des Protagonisten. Auch wenn der Cousin kaum reagiert und weiter mit bösem, gesenkten Blick den Dorfweg entlangläuft, kommt die Botschaft doch an. Wird Chuang seine emotionale Sensibilität verlieren, sobald die Gesellschaft – hier in Form der Dorfgemeinschaft – ihm als erwachsener Mann eine solche Sensibilität nicht mehr honoriert und er sich an die Verhaltensweisen anderer anpasst?

Denselben Weg ins Dorf wie Chuangs Cousin geht auch seine Mutter, als sie zum Begräbnis kommt und lauthals klagt – einer Rolle, der sie hier als trauernde Frau nachkommen muss. Dazwischen tratscht sie mit Passantinnen fröhlich, deren Leben sich jetzt von dem ihren unterscheidet. Die Filmhandlung bleibt am Land, bei Chuang und der Gemeinschaft. Es ist ein Landstrich, der mit seinen Böden für die Bewohner*innen mehr Mittel zum Zweck und durch ihre Abhängigkeit von Wind und Wetter auch mehr Fluch als Segen bedeutet. Hier gibt es keine romantische Verklärung, die Natur will niemand heiraten. Sie ist schlichtweg da. Die Stadt klingt für viele Dorfbewohner*innen vielversprechender, auch wenn deren Realität, wo man enger zusammenlebt, weit weg liegt. Rund um das Dorf liegen große Weiten, voller Felder und Wälder, die ihr Publikum durch Totalen verschlingen. Doch auch in diesen Weiten sitzen die Menschen nah beieinander  – meistens wenn sie Essen teilen oder zubereiten, in der Nacht, wenn sie schlafen, selten ist jemand alleine unterwegs. Im Winter berühren sich die Körper kaum. Ihre Kleidung wirkt wie ein Schutzanzug, der keine Nähe zulässt. Polster, die warm halten, aber voneinander entfernen. Dann liegt es umso mehr an Gesten und geduldiger Aufmerksamkeit, um liebevolle Zuneigung auszudrücken.