Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Hin und wieder, Vergessen im Kino

Wann beginnt man, über einen gese­he­nen Film nach­zu­den­ken? Zumeist legen sich schon wäh­rend des Abspanns ande­re Gedan­ken über die abfla­chen­de Kon­zen­tra­ti­on. Weni­ges stif­tet dazu an, unmit­tel­bar nach dem Ver­las­sen des Kinos, etwas zu notie­ren und fest­zu­hal­ten. Der Film bleibt an sei­nem Ort, wäh­rend ich mich von ihm ent­fer­ne. Das Gespräch mit einem Freund im Anschluss mag viel­leicht eher ein gegen­sei­ti­ges Ver­si­chern sein, dass nun etwas auf­ge­hört hat und etwas ande­res beginnt. Oft­mals wird dabei gera­de das Ende des Films zum The­ma gemacht. Etwas per­sön­li­ches über die ver­brach­te Zeit mit dem Film zu sagen, fällt in die­sem Moment alles ande­re als leicht. Doch irgend­wann kommt der Film zurück, viel­leicht aus Schuld­be­wusst­sein, oder weil man erst etwas ver­ste­hen muss­te, bevor die rich­ti­gen Wor­te dafür gefun­den waren. Das kann erst in einem ande­ren Film pas­sie­ren, vor dem Schla­fen oder im Zug nach Hause.

Ver­sucht man sich an etwas Bestimm­tes zu erin­nern, will es meist nicht gelin­gen. So beginnt Unut­ma Biçim­le­ri, Burak Çeviks Film auf der Ber­li­na­le 2023. Ein Fischer steht vor einem schma­len Eis­loch. Nichts außer das boden­lo­se Schwarz umringt von schim­mern­dem Weiß ist zu sehen. Auf der Was­ser­ober­flä­che tän­zelt eine Pose, an der ein Netz hängt. Fische sol­len gefan­gen wer­den, doch gemeint sind Träu­me – die Erin­ne­rung an Träu­me. Um die Flüch­tig­keit des Traums zu bewah­ren, muss man ihn beredt wer­den las­sen. Man muss Wor­te wäh­len, die geeig­ne­ter und weni­ger geeig­net erschei­nen. So tas­tet man sich an etwas her­an, das man eigent­lich nicht wirk­lich gese­hen hat. Eini­ges ist rest­los ver­lo­ren, aber ein trü­bes Nach­bild – manch­mal eher Nach­hall – blieb noch haf­ten. Was der Film hier von Beginn an womög­lich selbst­re­fle­xiv expo­niert, ent­springt dem Gespräch zwi­schen Nes­rin und Erdem – einem Paar, das ver­sucht sich an sei­ne Bezie­hung und Tren­nung zu erin­nern. Ihr Aus­tausch wird unge­ahnt intim, nicht wegen aus­ge­spro­che­ner Geheim­nis­se, son­dern wegen ihrer Unge­reimt­hei­ten. Bei­de Men­schen haben gänz­lich ver­schie­de­ne Erin­ne­run­gen an die­sel­ben Bege­ben­hei­ten. Erst in dem das Paar eine gemein­sa­me Spra­che dafür fin­det, tre­ten die­se gegen­sätz­li­chen Erin­ne­run­gen zuein­an­der in Bezie­hung. Vor allem für die­se Suche im Dun­keln inter­es­siert sich Çeviks Film. Eben­so könn­te sich das Paar über einen Film unter­hal­ten, den sie gese­hen haben. Dort, wo ihre Erin­ne­run­gen an das Gese­he­ne aus­ein­an­der­klaf­fen, wür­den sie womög­lich erken­nen, dass bei­de einen ande­ren Film gese­hen haben. Jeder für sich einen Film im Ver­bor­ge­nen mit ande­ren ver­schwie­ge­nen Sehn­süch­ten und Ängs­ten. Es wäre nicht weni­ger intim.

Viel­leicht hät­te der Film hier ste­hen blei­ben kön­nen, doch er zieht wei­ter und schich­tet Mate­ri­al auf Mate­ri­al. Ganz so wie die Stadt – Istan­bul, um die Unut­ma Biçim­le­ri unauf­hör­lich kreist. Die Kame­ra ver­liert sich im Hafen, sucht dort nach der Geschich­te des Ortes und fin­det ledig­lich Über­res­te statt Relik­te. Es sind klei­ne Beob­ach­tun­gen, wie der Rost an einem Schiff oder Arbei­ter bei ihrer Pau­se an der Kai­mau­er. Alles Bil­der, wie lee­re Hül­len, die nicht für sich selbst spre­chen kön­nen, son­dern erst leben­dig wer­den müs­sen. Von Marc Augés Vor­stel­lung (Les For­mes de l’oubli), Erin­ne­run­gen sei­en wie Pflan­zen, die sich immer höher über­wu­chern und ver­de­cken, will auch der Film etwas über sich selbst erfah­ren. Kann sich ein Film erin­nern oder ver­ges­sen? Fil­me, die mit einer essay­is­ti­schen Form spre­chen, wagen sich gern zu die­ser Selbst­über­schät­zung hin­aus. Sie lau­fen Gefahr, sich mit ihrem eige­nen Inter­es­se zu ver­wech­seln. Also ist es Selbst­ver­ges­sen­heit? Weder kann sich ein Film erin­nern noch ver­ges­sen, eher noch nach­ah­men bezie­hungs­wei­se dazu anstif­ten. Dazu braucht er sein Gegen­über. Das Publi­kum, das Unut­ma Biçim­le­ri erst gegen Ende wie­der anspricht. Es drängt sich die Fra­ge auf, wem Erin­ne­run­gen über­haupt gehö­ren, was umge­kehrt auch bedeu­ten könn­te, ob Ver­ges­sen not­ge­drun­gen ein Ver­lust sein muss.

Spür­bar wird das Erin­ner­te oder Ver­ges­se­ne erst, wenn es sein Gegen­über fin­det, bezie­hungs­wei­se ver­fehlt. Viel­leicht lässt sich das nur im Kino begrei­fen, und doch reicht es auch dar­über hin­aus. In Tats­u­na­ri Otas Film Ishi ga aru begeg­nen sich eine Frau und ein Mann ohne Namen in einem Fluss­bett. Ohne dass etwas Wich­ti­ges pas­siert oder vie­le Wor­te gewech­selt wer­den, wirkt es, als sei­en bei­de plötz­lich auf­ein­an­der ange­wie­sen. Das War­um muss nicht beant­wor­tet wer­den, es genügt die Gewiss­heit des anwe­sen­den Gegen­übers. Sie tei­len einen Nach­mit­tag bis zur Däm­me­rung, wäh­rend sie gemein­sam die kar­ge Land­schaft auf eine spie­le­ri­sche, naï­ve Wei­se erkun­den und immer wie­der fluss­auf­wärts oder ‑abwärts wan­dern. So selbst­los aber doch selbst­zweck­haft, wie die­se Bezie­hung zwei­er frem­der Men­schen ent­steht, geht sie auch wie­der aus­ein­an­der. Irgend­et­was bleibt, denn ihre Tren­nung, wenn­gleich ohne Abschieds­wor­te, fällt nicht leicht. Eini­ge Momen­te spä­ter zeigt der Film den Mann in sei­nem Haus am Schreib­tisch; er ver­sucht, das Erleb­te in sei­nem Tage­buch fest­zu­hal­ten und zögert lang. So lang, als könn­te man in die­ser Pau­se sei­ne eige­nen Erin­ne­run­gen und Wün­sche ver­ste­cken. Im glei­chen Moment fin­det die Frau ohne Namen einen Ort, an dem sie den Akku ihres lee­ren Tele­fons auf­la­den kann. (Kaum etwas könn­te gegen­wär­tig greif­ba­rer beschrei­ben, wie man in einer Welt ver­lo­ren­ge­hen kann, die sel­bi­ges nicht mehr zulässt.) Die Frau schläft ein und erwacht am nächs­ten Mor­gen. Aus dem Zug zurück nach Tokio erhascht sie mit einem flüch­ti­gen Blick den Mann erneut im Fluss­bett, wo er nach einem ver­lo­re­nen Stein vom Vor­tag sucht. Was danach pas­siert, bleibt der Sehn­sucht überlassen.

Bei­de Fil­me han­deln von zwei Men­schen, die sich begeg­nen und zurück­schau­en. Sowohl Ishi ga aru als auch Unut­ma Biçim­le­ri wol­len zwar vom Altern nicht viel wis­sen, doch es lässt sich unauf­hör­lich in ihnen wie­der­fin­den. Unauf­ge­regt, in regel­mä­ßi­gen Rhyth­men rei­hen sich Bil­der anein­an­der, so als blie­ben sie vom Lauf der Zeit außer­halb des Kinos unbe­rührt. Doch anstatt wei­ter­zu­ge­hen, besin­nen sie sich viel­mehr dar­auf, an einen ver­las­se­nen Ort zurück­zu­keh­ren, um dort etwas Ver­lo­re­nes auf­zu­su­chen. So als wür­de man zum zwei­ten Mal in ein Gesicht bli­cken und erken­nen, es hät­te vor­her anders aus­ge­se­hen. Dabei besteht die Inti­mi­tät des Alterns viel­leicht weni­ger dar­in, die Spu­ren der Ver­än­de­rung zu ent­de­cken, son­dern etwas zu erah­nen, das eigent­lich dahin­ter liegt. Erkennt man, um was es sich han­delt, gerät die Suche ins Sto­cken. Es brei­tet sich eine selt­sa­me Beklem­mung aus, über das Gese­he­ne zu spre­chen. So steht man nach Ende eines Films wie­der vor dem Kino und stellt sich für einen Augen­blick die absur­de Fra­ge: Was habe ich über­haupt gese­hen? Aber ich schwei­ge oder spre­che von etwas Unbedeutendem.

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Neu­lich begeg­ne­te ich auf einer Stra­ße einer Frau, die für eine Umfra­ge von mir wis­sen woll­te, ab wann man alt und wie lang man jung sei. Erst muss­te ich schmun­zeln, da ich mir die­se Fra­ge selbst hin und wie­der stel­le, mich also ertappt fühl­te. Mei­ne Ant­wort schien sie wohl eben­falls zu amü­sie­ren, viel­leicht nicht, weil es ihr ähn­lich erging, son­dern weil wir wohl gänz­lich unter­schied­li­cher Auf­fas­sung waren. Im Kino kann man etwas sehen, das nicht der eige­nen Wahr­neh­mung oder Erfah­rung ent­spricht. Trotz­dem ist es mög­lich, sie für eine bestimm­te Zeit ver­ste­hen zu ler­nen. Auch wenn sich das Kino mit sei­nem Publi­kum immer wie­der erneu­ern und Zurück­lie­gen­des ver­ges­sen will, gehört das Altern – also Suchen – dazu.