Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Il Cinema Ritrovato 2016: Unsere hohen Lichter

Zum Abschluss unse­rer Tex­te aus Bolo­gna eine Über­sicht unse­rer High­lights vom Fes­ti­val und eini­ge Schluss­wor­te. Zur Über­sicht noch mal unse­re Tagebucheinträge:

Bar­ba­ra Bouchet

Modern Times

Heiß wie ein Vulkan

Pfer­de schwim­men in Farbe

Feu­er, Was­ser und die schwar­ze Stadt

I Pug­ni in Tasca

My Way

PATRICK

les portes de la nuit

Mehr noch als das Kino bleibt von Bolo­gna das Erle­ben einer Kino­kul­tur. Dabei begeg­net man nicht nur in Bolo­gna einem inter­es­san­ten Para­dox: Die Lie­be zum Kino wird oft durch ein ein­zel­nes, unbe­weg­tes Bild aus­ge­drückt. War­um? Tra­gen die­se Screen­shots, Pos­ter und Fotos in sich das Ver­spre­chen oder Geheim­nis ihrer Bewe­gung? Sind sie unse­rer Erin­ne­rung doch ähn­li­cher als das Lauf­bild? Oder ist das Lauf­bild nur so fest zu hal­ten? Wie die Erin­ne­rung. In Bolo­gna ist die­ses Bild das Schluss­bild aus Modern Times. Es ist dop­pelt ver­ewigt und restau­riert. Es zu sehen, löst die Erin­ne­rung an die Bewe­gung selbst aus.

Ansons­ten drei die­ser Erin­ne­run­gen, die mich so schnell nicht verlassen:

Der Rauch abge­feu­er­ter Pis­to­len in Fle­sh & the Devil von Cla­rence Brown. Er dringt aus dem Off links und rechts in das stum­me Bild, Sil­hou­et­ten erstar­ren und bewe­gen sich und wir wis­sen einen lan­gen Augen­blick nicht, wer lebt und wer stirbt; nur wer liebt.

Ein ande­rer Rauch im Nebel von Les por­tes de la nuit von Mar­cel Car­né. Eigent­lich bleibt von die­sem Film weni­ger als ein Bild. Was bleibt, ist ein Gefühl; man träumt und kann mit dem Leben gar nicht gegen die­se Träu­me ankämp­fen. Im Nebel ver­bin­den sie sich.

Schwin­del in I pug­ni in tas­ca von Mar­co Bel­loc­chio. Die Kame­ra zu nah.

ANDREY

touchez-pas-au-grisbi

Drei­mal sehe ich in Bolo­gna die „aller­ers­te“ Kino­vor­füh­rung, das Lumiè­re-Kurz­film­pro­gramm, das am 28. Dezem­ber 1985 im indi­schen Salon des Grand Café in Paris lief. Ein­mal beim Eröff­nungs­abend vor Cas­que d’Or, digi­tal auf Rie­sen­lein­wand und mit Live­kom­men­tar von Thier­ry Fremaux, ein­mal in der Lumiè­re-Aus­stel­lung in DVD-Qua­li­tät an die Wand pro­ji­ziert, spä­ter auf der Piaz­zet­ta Paso­li­ni vor Jean Epsteins groß­ar­ti­gem Coeur fidè­le, von einem his­to­ri­schen, hand­ge­kur­bel­ten, lär­men­den Pro­jek­tor gespielt, im ori­gi­na­len Klein­for­mat, ruckelnd und zuckelnd wie man es sich vor­stellt. Die Atmo­sphä­re eines cine­phi­len Him­mels. Arbei­ter ver­las­sen die Fabrik. Ein Baby wird gefüt­tert. Der Gärt­ner mit dem Schlauch kriegt eine kal­te Dusche. Ein Sol­dat schei­tert lus­tig an der Pferd­be­stei­gung. Kin­der sprin­gen in die Gischt. Eine Stadt­an­sicht. Bot­schaf­ten aus einer Zeit, als es noch kei­ne schlech­ten Fil­me gab. Dass das alles pas­siert ist, ist eine unheim­li­che Gewiss­heit. Immer wie­der schau­en Leu­te in die Kame­ra, und ich füh­le mich zuwei­len an You­tube-Clips erin­nert. Das Wesen der Schau­lust hat sich nicht ver­än­dert, nur das Stau­nen ist dahin, und das Wis­sen um die Sin­gu­la­ri­tät jeder ein­zel­nen Auf­nah­me. Wird man in 100 Jah­ren einen Lap­top auf­stel­len und dem ent­zück­ten Publi­kum Kat­zen­vi­de­os präsentieren?

Die letz­te Ein­stel­lung von Jac­ques Beckers Mont­par­nas­se 19, einer in vie­ler­lei Hin­sicht kli­schee­haf­ten Künst­ler­bio­gra­fie, deren bru­ta­les Fina­le mich den­noch getrof­fen hat, hallt nach. Der mephis­to­phe­li­sche Kunst­händ­ler Morel (gespielt von Lino Ven­tura) hat soeben dem Tod Modi­glia­nis bei­gewohnt – einem Tod aus Hoff­nungs­lo­sig­keit, wie einem der Film nahe­legt. Jetzt ist er in einer dunk­len, kar­gen Woh­nung. Zuhau­se bei Modi­glia­nis Ver­lob­ten, die vom Able­ben des Malers noch nicht weiß. Er bie­tet ihr an, sämt­li­che Bil­der ihres Man­nes zu kau­fen. Bald wer­den die­se sehr viel wert sein, auch das ahnt sie nicht. Die glück­li­che Fügung treibt ihr Trä­nen in die Augen, end­lich etwas Abgel­tung für alle die Mühen und Ent­beh­run­gen. „Ich ver­ste­he“, sagt Morel, und beginnt dann völ­lig unver­mit­telt, die Gemäl­de ein­zu­pa­cken, mit schnel­len, schrof­fen Bewe­gun­gen, ein kur­zer Blick auf jedes Bild genügt ihm, als wür­de er Ersatz­tei­le am Fließ­band prü­fen, wäh­rend die Kame­ra auf ihn zufährt und die Musik – wie eine melo­dra­ma­ti­sche Ver­si­on von Mihâ­ly Vigs Sound­track zu A torinói ló – anschwillt bis zur Uner­träg­lich­keit. So dreht man das Mes­ser in der Wun­de um. Becker ist ganz all­ge­mein ein Fil­me­ma­cher kla­rer, star­ker, glat­ter, har­ter Ges­ten – trotz­dem fällt mir, den­ke ich an Tou­ch­ez Pas Au Gris­bi, immer wie­der das Adjek­tiv „süß“ ein. Irgend­was am Bild Jean Gab­ins und René Darys, die als altern­de Gangs­ter zuhau­se an tro­cke­nem Brot her­um­knab­bern, lässt mich an Jar­musch und Kau­ris­mä­ki denken.

Auch nie­der­schmet­ternd: Der Schluss von Vasi­lij Ordyns­kijs Čet­vero, düs­te­res Tau­wet­ter: Ein Held, der kei­ner ist, stirbt umsonst, und ein Ersatz ist schnell gefun­den. Da hel­fen auch die Far­be und der beschö­ni­gen­de Voice-Over nichts, der Zynis­mus ist nicht zu über­tün­chen. Ein Film, der sich vehe­ment dage­gen sträubt, das zu tun, was die Zeit von ihm ver­langt. Das Nega­ti­ve fin­det sich über­all, in allen Län­dern und fast allen Epo­chen, in den genann­ten Bei­spie­len wie auch in den erstaun­lich fins­te­ren Gesell­schafts­por­träts der Laemm­le-Juni­or-Uni­ver­sal-Jah­re (gegen Afraid to Talk kann House of Cards ein­pa­cken), in der exis­ten­tia­lis­ti­schen Hys­te­rie von „Les Abys­ses“ (den ich nicht aus­ge­hal­ten habe, aber nicht ver­ges­sen wer­de), in der ira­ni­schen Däm­me­rung von Ebra­him Gole­stans Khe­sht o Ayeneh. Aber wenn man wie­der an die Lumiè­res denkt, fragt man sich, ob die Nega­ti­vi­tät im Kino erst erfun­den wer­den muss­te, ob das Kino nicht von Natur aus posi­tiv ist. Denn die­se Fil­me freu­en sich über alles, was sie sehen, weil sie nur das anse­hen, was sie freut. Eigent­lich: Soll­te nicht jeder Film auf­hö­ren wie Modern Times, laut Peter von Bagh das voll­kom­mens­te Bild mensch­li­chen Glücks, das je auf Film gebannt wur­de? Aber dann gäbe es Tai­pei Sto­ry nicht mit sei­ner fan­tas­ti­schen Edward-Hop­per-Schluss­ein­stel­lung. Und bei einem Fes­ti­val wie dem Cine­ma Ritro­va­to will man sich nicht ent­schei­den müssen.

IOANA

taipei-story

Gese­hen und wiedergesehen

Cœur fidè­le von Jean Epstein

Le qua­dril­le von Jac­ques Rivette

Kha­neh Siah Ast von Forough Farrokhzad

I pug­ni in tas­ca von Mar­co Bellocchio

Tai­pei Sto­ry von Edward Yang

Modern Times von Char­lie Chaplin

Les por­tes de la nuit von Mar­cel Carné

Fat City von John Huston

Cas­que d’or von Jac­ques Becker

Fle­sh and the Devil von Cla­rence Brown

•Fil­me von Gabri­el Veyre

Tou­ch­ez pas au gris­bi von Jac­ques Becker

Shin Hei­ke Mono­ga­ta­ri von Ken­ji Mizoguchi

A house divi­ded von Wil­liam Wyler

The kiss befo­re the mir­ror von James Whale

(1 reg­ret – Ugetsu Mono­ga­ta­ri nicht wie­der gese­hen zu haben, aber wir haben ihn auf Film gesehen)

RAINER

last-tango-in-paris

Der prä­gen­de Moment in Bolo­gna war für mich eine Zäsur. Als mich der ste­te Wech­sel zwi­schen uner­bitt­li­cher Hit­ze und Kli­ma­an­la­gen dahin­raff­te und mich fast drei Tage außer Gefecht setz­te. Davor hat­te ich bereits eini­ge sehr gute Fil­me gese­hen: Mar­nie von Alfred Hitch­cock (als Tech­ni­co­lor Vin­ta­ge Print), Le Trou von Jac­ques Becker, der apo­kry­phe Vin­g­ar­ne von Mau­ritz Stil­ler, die fas­zi­nie­ren­den Rei­se­bil­der des Lumiè­re-Kame­ra­manns Gabri­el Vey­re aus Mexi­ko; The Wild One von Lasz­lo Bene­dek hat mich sogar die Iko­ni­zi­tät Mar­lon Bran­dos bes­ser ver­ste­hen las­sen. Als ich mich aber dann am drit­ten Tag mei­ner krank­heits­be­ding­ten Pau­se spät­abends zu Last Tan­go in Paris schlepp­te, in der Hoff­nung die zwei Stun­den zu über­ste­hen, ohne ohn­mäch­tig zu wer­den, war das eine über­wäl­ti­gen­de Erfah­rung. Aus dem sti­cki­gen, fieb­ri­gen Appar­te­ment in die fieb­ri­gen Bil­der des Films (sind sie tat­säch­lich fieb­rig, oder war das mei­ner Tages­ver­fas­sung geschul­det?): Lie­be, Ver­zweif­lung, Ero­tik, But­ter – danach muss­te ich mich gleich wie­der hin­le­gen. Der nächs­te und letz­te Tag beginnt mit dem Kor­rup­ti­ons­sumpf einer ame­ri­ka­ni­schen Groß­stadt (Afraid to Talk von Edward L. Cahn) und endet mit einem Schuss­wech­sel im Schnee­sturm (McCa­be & Mrs. Mil­ler von Robert Alt­man). Nach der Zwangs­pau­se sind die­se Fil­me viel kla­rer in Erin­ne­rung, als ich es von Fil­men, die ich Fes­ti­vals sehe, gewohnt bin. Die Freu­de dar­über wie­der im Kino sit­zen zu kön­nen hat das Gefühl von Fes­ti­val-Fati­gue aus­ge­sto­chen. Hoch lebe Bolo­gna (und sei­ne Taglia­tel­le) und Butter!