Am Vorabend stolpern wir in eine Restauranteröffnung und schnappen uns formidable Pizzastücke umsonst, das Licht in den schmalen Gassen ist gemalt, jemand brüllt laut vor dem Kino, als Italien gegen Spanien gewinnt. Ab und an winkt sogar Regen, der dann doch nicht wirklich kommt. Außerdem verschlägt es uns in die Bibliothek, in der so viele Buch- und DVD-Schätze liegen, dass man einfach zuschlagen muss. In den Pausen sitzen wir auf den Millimetern Schatten, die bleiben, die schrumpfen, die schmelzen. Jemand holt ein glühendes Eis. Die Klimaanlagen fühlen sich an wie Fieber.
Zeit und Raum, die für das Kino so entscheidend sind, verlieren auf einem Festival oft an Bedeutung. Die Zeit ist das Kino, der Raum ist das Kino. Man wird förmlich initiiert und mitgerissen von dieser Bedeutung des Kinos, die erschreckend und doch erwartbar größtenteils (jenseits der Screenings am Piazza Maggiore) am breiten Publikum vorbeifliegt. Die Kinos sind übervoll, ja, es gibt große Begeisterung, ja, aber es ist eine cinephile Insel, man gehört gewissermaßen zu den Auserwählten, die verstehen wie wichtig das ist, was man da sehen kann. Zum Beispiel ein Besuch des deutschen Kaisers in Istanbul 1917, der im Rahmen einer kleinen Schau für das türkische Filmarchiv gezeigt wird. Oder aber mein persönlicher Liebling auf dem bisherigen Festival, ein Fundstück von purer Simplizität und Anmut. Die Kinemacolor-Restauration einer Soldatenübung aus dem Jahr 1912 mit dem Namen Plotoni nuatatori della III divisione cavalleria comandata da S.A.R. il Conte de Torino. Darin sieht man Soldaten, die mit Pferden einen Fluss überqueren. Die Kamera schwimmt mit ihnen, die Pferde streiken oder planschen, man verliert sich ähnlich wie im Kino von Jean Vigo in der reinen Freude dieser Bewegung. Luca Comerio heißt der Filmemacher, der die ersten farbigen Dokumentarfilme Italiens realisierte. Die Welt der Vergangenheit bewegt sich in Farbe. Dieses Wunder wirkt auf mich hier in Bologna noch viel stärker, als wenn man bewegte Bilder an sich sieht. Denn diese Farben war schon verloren. Es ist nicht einfach nur das Abbilden der Welt, sondern das Wiederherstellen einer bereits verlorenen Abbildung. Ich würde diese eigentlich logische und bekannte Arbeit gelassener hinnehmen, würde ich nicht derart von ihr begeistert sein. Es ist gewissermaßen eine Wiedergeburt dieser Bilder der vergangenen Welt. Die Einfachheit des Ganzen ist gleichzeitig die Komplexität. Man könnte sagen, dass die Gebrüder Lumière, denen auf dem Festival sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, hier nach wie vor als Erinnerung dienen und eigentlich vor allem als Manifestation für das, was das Kino zu Leisten im Stande ist. Das große Drama, die Gefühle, sehr gerne, aber dieses Zeugnis über die Welt (das dann im Fall des türkischen Filmarchivs nur per Zufall mit dem Verweis “useless“ auf der Filmrolle überlebt) ist ein Hauptbestandteil einer Kinogeschichte, ohne die wir die Weltgeschichte deutlich weniger verstehen können. Wenn man sich die zeitgenössische Bilderflut ansieht, dann kann das Kino gar nicht mehr diese Rolle spielen. Heute sind badende Pferde, die eben auch in Baignade de chevaux, gedreht von Lumière-Kameramann Gabriel Veyre, vorkommen eine Sache der Sozialen Medien. Der Unterschied liegt leider in der flüchtigen Bedeutungslosigkeit dieser Bilder heute und der schweren Bedeutsamkeit dieser Bilder damals. Was wir brauchen würden, wäre ein sondierendes Archiv für die Bilderflut unserer Zeit. Damit nicht alles verloren geht. Aber die Bedeutung liegt auch in der Art und Weise, in der diese Bilder hergestellt werden.
Rainer dazu mit passenden Gedanken zur Lumière-Ausstellung:
Bevor der Lagerkoller in unserem viel zu kleinen Appartement zuschlägt, und wir uns alle gegenseitig nachts mit Klappspaten erschlagen, müssen wir noch einige Worte über die Lumière-Ausstellung verlieren, die parallel zum Festival in einer angenehm kühlen Kellerpassage in der Nähe des Piazza Maggiore zu sehen ist. Zum einen ist bemerkenswert, wie hier auf begrenztem Raum für eine temporäre Ausstellung sehr viel besser mit Ausstellungsstücken des Pre-Cinema umgegangen wird, zum anderen welche Poesie an Stellen entwickelt wird, wo man sie nicht erwarten würde. So werden auf Filme der Lumières aus unterschiedlichsten Orten der Welt Seite an Seite mit aktuellen Webcambildern der gleichen Orte. In diesem Kontrast wird deutlich wie wertvoll diese Aufnahmen der Brüder und ihrer Kameramänner als Dokumente aus einer Zeit sind, als die Welt noch nicht mit Bildern gesättigt war. Auffällig auch das heutige Städtebilder meist aus erhöhter Perspektive aufgenommen werden. Die Kameraposition hat sich der größeren Geschwindigkeit des Alltagslebens angepasst, nur mit diesem Abstand wird noch das wenige Leben fassbar, dass bei den Filmen der Lumières immer zum Greifen nahe erscheint und frivol auf der Leinwand tanzt (Autoabgase und Stahl tanzen nicht).
Ein auf die Wand gedrucktes Zitat von Maurice Pialat fasst die Qualitäten der Lumières sehr treffend zusammen: diese Filme haben bereits alles, was wir vom Kino erwarten und präsentieren es mit einer Einfachheit, die heute oft verloren gegangen ist. Freilich kann man diese Einfachheit leicht mit Primitivität verwechseln, aber es wäre ein Fehler die Brüchigkeit dieser Filme, ihre fehlende Geschlossenheit als Mängel zu bekritteln. Es sind gerade Filme wie Repas d’Indiens, die scheinbar scheitern, in denen das Kino der Lumières ihre größte Macht ausstrahlt. Da sitzt eine Gruppe von Indios im Halbkreis vor der Kamera, die Sombreros tief ins Gesicht gezogen und dahinter beginnt ein weißer Mann in schwarzem Anzug zunächst verhalten, schließlich wild, zu gestikulieren. Er möchte die Männer dazu bringen aufzublicken – in die Kamera –, ihnen die Hutkrempen aus dem Gesicht schieben. Ich stelle mir die Frage, warum diese Szene nicht einfach wiederholt wurde, oder warum sie überhaupt entwickelt und gezeigt wurde. Die Antwort damals wird nicht so anders gewesen sein als heute: erst das Eingreifen des Manns macht diesen Film interessant, erzählt in seinem Scheitern eine Geschichte, die von weit größerem Interesse ist, als die sozialanthropologische Dokumentation eines Abendessen einer Indio-Familie.