Ritrovato – wiedergefunden hatte mich das Festival in Bologna dieses Jahr nach meinem allerersten Besuch im vergangenen Juni. Wir beide waren um ein Jahr gealtert. Stolze 37 Ausgaben hat das Event in der Emilia-Romagna nun hinter sich gebracht. Ein Erfahrungsschatz, den ich selbst noch nicht mein eigen nennen kann. Ich fand mich auch dieses Mal von früh bis spät am häufigsten in den nach großen Namen benannten Spielorten und Sälen (Cinema Lumière, Sala Mastroianni und Sala Scorsese), in (dem für CinemaScope konzipierten) Cinema Arlecchino und im Cinema Jolly ein. Wohlgemerkt neben dem – wir wissen es alle und wie könnte es anders sein – Gustieren diverser Köstlichkeiten. Bologna und Essen sind nicht voneinander zu trennen. Am besten gibt man sich dem Genuss unter den Arkaden hin, die vor der Hitze der Sonne und der Frische der Klimaanlagen zugleich schützen. Oder man zerfließt dort symbiotisch mit einem Gelato. Auch auf dem kleinen Platz vor der Cineteca hat sich neben dem Eingang verlockend ein Eiswagen positioniert. Im Nachhinein lese ich, dass sich die zentrale Piazetta Pier Paolo Pasolini, die eben jenen Anker zwischen den verschiedenen Räumlichkeiten der Cineteca bildet, auf einem ehemaligen Schlachthofgelände befindet. Ich muss an die Wiener Arena denken und an den Tod. Während hier früher der Tod zuhause war, versucht man ihn heute gewissermaßen aufzuhalten. Den Tod des Kinos, meine ich, den wir im Gegensatz zu unserem eigenen eher hinauszögern können: Indem man das Kino zelebriert, wiedergefundenen, reparierten Streifen nach präzisen Eingriffen ein neues Leben ermöglicht und sie von der Cineteca aus weiter in die Welt hinausreisen lässt. Die Fluktuation und der Austausch wirken hier einige Tage lang dem Tod entgegen. Doch nicht nur die Filme selbst, auch die Protagonist*innen derselben und die Besucher*innen des Festivals befinden sich in Bewegung. Zielgerichtet oder ziellos, nach neuen Orten, nach einem vertrauten Anker oder nur nach (filmischen oder kulinarischen) Zwischenhalten suchend, wechseln sie zwischen den immer gleichen Cinemas und Gässchen hin und her.
Selbst wollte ich, aus Wien angereist und auf der Suche, am Cinema Ritrovato auch Neues für mich entdecken. Ungesehenes habe ich genug im Programm erspäht, doch sehnte ich mich danach zuallererst Filme kennenzulernen, deren Macher*innen mir nicht vertraut waren und die meinen gewohnten Blick erweitern, infrage stellen, vielleicht herausfordern könnten. Meine Aufmerksamkeit galt neben den „Sorelle del cinema“ („Sisters of Cinema“) wie der Drehbuchautorin Suso Cecchi D’Amico, der Kamerafrau und Regisseurin Elfie Mikesch, der Hollywood-Pionierin Dorothy Arzner oder der Stummfilm-Schauspielerin Dianne Karenne, also besonders der Cinema Libero Sektion. Seit 2013 widmet die Cineteca dieses Programm Filmen, die sich „true to their spirit of innovation and discovery“ zeigen, um der Tendenz entgegenzuwirken, dass „cultural differences“ immer mehr verschwinden und Stile sich einander angleichen, so die Ankündigung 2013, dem ersten Jahr des Schwerpunkts. Doch die Geschichte des Cinema Libero reicht eigentlich weiter als nach 2013 zurück: Unter dem Namen Mostra Internazionale del Cinema Libero hatten Bruno Grieco, Gian Paolo Testa, Cesare Zavattini und Leonida Repaci 1960 ein Filmfestival in Poretta Terme gegründet, das eine Alternative zu Venedig und zu der allgemeinen Marktgetriebenheit von Wettbewerbsfestivals bieten sollte. Es bestand bis in die 1980er Jahre, bis es vom Cinema Ritrovato abgelöst und nach Bologna verlegt wurde. Cinema Libero, freies Kino also. Aber freies Kino – was ist das eigentlich?
Heute gibt es wohl so viele Filmfestivals wie nie zuvor und „frei“ Filme zu produzieren, ist, hat man Zugriff auf Produktionsmittel und -wissen, so günstig möglich wie nie zuvor, der Einstieg ist niederschwelliger denn je. Aber wie frei können das Kino oder Filme in all ihrer Komplexität aus zunehmenden Verstrickungen und Abhängigkeiten in einem Netz aus staatlichen und privaten Förderungen sein?
Unabhängig produziert und sich selbstausgebeutet = freies Kino?
Müsste der Sektionstitel nicht mit einem Fragezeichen ergänzt werden – „Cinema Libero?“ -, um zu implizieren, dass Schaffensprozesse, Distributions- und Archivierungsgeschichten bei jedem Film neu ergründet werden müssten? Wie frei sind wir als Zuschauer*innen in unserer Filmwahl? Ist es nicht eine der Besonderheiten des Kinos, dass wir anderen Perspektiven als der eigenen näher kommen können, um deren Sicht auf die Welt mitzuerleben? Oder wollen wir nur den Personen zusehen, die unserem eigenen Lebensraum am nächsten sind? Was ist mit den Geschichten, die über unseren eigenen Horizont hinausgehen? In unserer globalisierten Welt findet Kulturtransfer hauptsächlich vom West to „the Rest“ statt. Als westlich bezeichnete Gesellschaften und ihre Geschichten dominieren unsere Kinos und Watchlists. Der Kulturtheoretiker und Soziologe Stuart Hall beschreibt in „The West and the Rest“ wie Europa mit seinem Konzept von West und Nicht-West und den damit verbundenen Attributen und Weltvorstellungen seine eigene Einzigartigkeit und Überlegenheit manifestiert und sich gegenüber den als anders erachteten Kulturen abgrenzt. Mir scheint gerade das Kino ein gutes Beispiel für diese Dynamik. Frei sind wir als Teil des Kino-Apparats nie, frei verfügbar sind vor allem jene Filme nicht, die nicht Teil der westlichen Kulturdiskurses und Distributionskreislaufs sind. Cinema Libero – vielleicht finde ich eher Filme darunter, deren Geschichten und Akteur*innen um Freiheit kämpfen.
Meine Cinema Libero-Programmwahl richtete sich – hierin beschränkte sich meine Wahlfreiheit – natürlich auch nach den angebotenen Spielzeiten: Yam Daabo von Idrissa Ouedraogo (Burkina Faso 1986), Al-Makhdu’un von Tewfik Saleh (Syrien 1972), Aham Al-Medina von Muhammad Malas (Syrien 1984), The Senegalese Actuality Films von unterschiedlichen Filmemachern aus den 1960er und 1970er Jahren, Bushman von David Schickele (USA 1971) und Ceddo von Ousmane Sembène (1977). Letzterer blieb mir besonders in Erinnerung, weshalb ich kurz davon berichten möchte.
Das Screening von Ousmane Sembènes Film Ceddo wurde von einer Einführung seines angesichts des vollen Cinema Jolly Saals sichtlich gerührten Sohnes Alain Sembène begleitet. Ousmane Sembène, aufgewachsen im von Frankreich kolonisierten Senegal, wird oft als „Vater des afrikanischen Kinos“ bezeichnet, unter anderem da sein 18-Minüter Borom Sarret als einer der ersten Spielfilme gilt, die außerhalb des afrikanischen Kontinents gezeigt wurden. Er gehört einer Generation von Filmemacher*innen der Subsahara an, darunter auch Diop Mambéty und Désiré Ecaré, die mit der Erlangung der politischen Unabhängigkeit einen postkolonialen Filmblick auf die Welt warfen. Viele der Werke aus der Zeit nach dem offiziellen Ende einiger Kolonien werden heute in Archiven in Ländern außerhalb Afrikas aufbewahrt, sodass nur wenige in Bildungseinrichtungen in Afrika zugänglich sind.
Ceddo – damit ist auf Wolof, die Umgangssprache des Senegals, die Gruppe der Außenseiter*innen eines Dorfes benannt, die sich als Nicht-Muslim*innen mittlerweile in der Minderheit befinden. Denn König Demba War stellt sich auf die Seite des Imam und befürwortet eine Islamisierung der dörflichen Gemeinschaft. Aus Protest entführen einige Ceddo Dior Yacine, die Tochter des Königs. Die christlich-französischen Kolonialherren verlieren gegenüber dem Imam an Macht, führen aber ihren Sklavenhandel weiter. Ceddo spielt in einem Zeitraum von wenigen Stunden und in einem einzigen Dorf und seiner Umgebung. Auch die Handlung bildet eine Einheit: meist lauschen wir Gesprächen, die mal als politische Verhandlungen zwischen Herrschern und Bewohner*innen ihre Funktion erfüllen, mal persönliche Bedürfnisse und Meinungen preisgeben. Trotz dieser Einheit umspannt der zugrunde liegende Religionskonflikt über die konkreten Szenen hinaus mehrere Jahrzehnte und geht über das im Film repräsentierte Dorf hinaus. Die Kritik an religiösen Überzeugungen, die über Demokratie und Freiheit gestellt werden, repräsentiert neben dem Aufzeigen der Ausbeutung durch weiße Kolonialisatoren eine Grundproblematik afrikanischer Geschichte und Lebensrealität. Sembène richtet seinen Film an ein afrikanisches Publikum und betonte auch, nachdem Ceddo 1977 erschienen war, die vernachlässigte, wesentliche Rolle der Frau für Gesellschaften Afrikas. Der Kern der Konflikte hält als weiter andauernde Problematik an, sowohl was die Religionen, Machtansprüche als auch die Geschlechterdiskriminierung betrifft. Führen in Ceddo vor allem Männer das Wort und Frauen werden ohne Umschweife im Gegenzug für eine Flasche Wein als Sklavinnen verschenkt oder als Mittel zum Zweck politischer Taktik genutzt, übernimmt doch am Ende die Tochter des Königs Dior Yacine die entscheidendste Handlung. Als Entführte muss sie an einem Schattenplatz abwarten, wie die Verhandlungen über ihr Schicksal ausgehen. In keinem Moment wirkt sie wie ein um Hilfe ringendes Opfer, sondern eher als wäre sie jederzeit zum Sprung bereit. Ich möchte das Close-Up auf Dior Yacine und ihren direkten Blick in die Kamera in der letztem Szene des Films nicht unerwähnt lassen. Während seiner zweistündigen Laufzeit zeigt uns der Film bis dahin kaum Gesichter in Großaufnahme, sondern betont viel mehr durch seine (Halb-)Totalen und Amerikanischen Einstellungen das Kollektive statt das Individuelle der Konflikte. Nun blickt Dior Yacine in die Kamera. Ihr Blick signalisiert Entschlossenheit. Ihr Blick füllt das Bild aus, nimmt es vollständig ein. Dass am Ende die Tochter des Königs die für das Dorf einzig wesentliche Entscheidung trifft, verstehe ich als Aufbruch und als Gegenschuss zum Besitzanspruch der Kolonialherren und ihrer Kollaborateure. Doch ob das kurze Vakuum der Befreiung von einer Herrschaft mit Freiheit gefüllt werden kann, lässt sich nur erahnen. Der Blick auf die Geschichte lässt Freiheit nur in Träumen, nicht jedoch in der Realität wahr werden. Sembène findet einen Ausdruck, um vom Kam pf für Freiheit zu erzählen. Es ist der Kampf gegen Unfreiheit durch und in den Bildern des Films. Es ist der Ausdruck von Entschlossenheit in Dior Yacines Gesicht sich selbst und zugleich uns als Publikum von der vierten Wand zu befreien, die der Film bis dahin aufrecht erhält. Ob wir nun nach Freiheit in der Produktion, der filmischen Form oder der Handlungen der Figuren suchen, stets kann sie nur als temporär oder für einen Teil der Gesellschaft gelten. Oder?