Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Kein Platz mehr für Pop Lomas

Text: Rai­ner Komers 

Nest­lers Film ent­stand an einer Schwel­le. Die Zeche Rosen­blu­men­del­le, die er noch ein Jahr vor­her in Mül­heim-Ruhr auf­ge­nom­men hat­te, exis­tier­te schon nicht mehr, aus der benach­bar­ten Berg­ar­bei­ter­sied­lung Mau­se­gatt war ein Bau­denk­mal gewor­den. Die Vor­kriegs­ge­sell­schaf­ten, geprägt von schwe­rer kör­per­li­cher Arbeit, har­ten sozia­len Gegen­sät­zen und aus­ge­präg­ten Milieus, nann­ten sich jetzt „Kon­sum­ge­sell­schaf­ten“, aus Arbei­ter­par­tei­en waren „Volks­par­tei­en“ gewor­den, und im Jeans­la­den waren alle Men­schen gleich, zumin­dest an der Ober­flä­che. Aber gesell­schaft­li­che Pro­zes­se lau­fen nicht ab wie in Schul­bü­chern, das Alte exis­tiert neben dem Neu­en wei­ter, in der Nach­kriegs­etap­pe domi­nier­ten die Kräf­te der Restau­ra­ti­on. Gera­de erst hat­ten es Künst­ler wie Böll/​Chargesheimer und Nestler/​Schnell ‚gewagt’, Regio­nen wie das Ruhr­ge­biet zu ent­de­cken und nach Art der ita­lie­ni­schen Neo­rea­lis­ten dar­zu­stel­len: hart, unge­schminkt und doch vol­ler Poe­sie, voll inne­rer Anteil­nah­me für ihre Prot­ago­nis­ten, die Arbei­ter. Ein Neben­ein­an­der von Tris­tesse und Kraft, gedreht und foto­gra­fiert auf Schwarz­weiß­ma­te­ri­al. Den Apo­lo­ge­ten von Auf­schwung und Wachs­tum waren sol­che Bil­der von Malo­che, Knei­pen­dunst und Sied­lungs­ei­ner­lei ein Greu­el; Arbei­ter­schweiß – ohne­hin eine kom­mu­nis­ti­sche Erfin­dung – soll­te der öffent­li­chen Wahr­neh­mung ent­zo­gen, zur Schau gestellt wer­den das lackier­te Produkt.

Inso­fern arbei­tet Nest­lers Kame­ra im Arbei­ter­club (hier geführt von Dirk Alver­mann) schon nost­al­gisch. Die ehren­amt­li­chen Chefs vom Dial House Social Club, der im Zen­trum der Beob­ach­tung steht, sind alte Män­ner, Patri­ar­chen, und Pop Lomas, der Prä­si­dent und lei­den­schaft­li­che Glücks­spie­ler, hat schon 84 Jah­re auf dem Buckel. Noch machen die Jün­ge­ren mit, fügen sich ein in eine pro­le­ta­ri­sche Welt aus mate­ri­el­ler Ent­beh­rung, sozia­ler Gebor­gen­heit und klein­bür­ger­li­chen Sehn­süch­ten. Aber die ope­ret­ten­haf­ten Rüschen am Büh­nen­vor­hang des Clubs ver­ra­ten, der Faden zu den ganz Jun­gen ist schon geris­sen. Sie haben begon­nen, sich gegen die Nor­men der Erwach­se­nen auf­zu­leh­nen und ihren eige­nen Weg zu gehen zu mehr ‚Selbst­ver­wirk­li­chung’ und hin zu einem neu­en (eksta­ti­schen) Wir-Gefühl, das sei­nen Aus­druck fin­det vor allem in einer neu­en Musik.

Für Nest­ler war es die vor­erst letz­te Arbeit im West­deut­schen Fern­se­hen. Hin­ter sei­nem Rücken hat­te man den „Arbei­ter“ aus dem Titel­vor­spann ent­fernt und ersetzt durch „Men­schen“ in Shef­field, um es wei­cher, har­mo­ni­scher und gefäl­li­ger zu machen und um davon abzu­len­ken, daß „Leu­te, die viel­leicht über Aus­beu­tung spre­chen könn­ten, über­zeu­gend spre­chen könn­ten, weil sie viel­leicht Arbei­ter sind und von ande­ren Arbei­tern ver­stan­den wer­den. Eben ein Arbei­ter aus Shef­field könn­te von einem Arbei­ter aus dem Ruhr­ge­biet ver­stan­den wer­den“ (Nest­ler). Und das soll­te nicht sein.

Den­noch ist der Arbei­ter­club kein Stück über den Klas­sen­kampf, ist mehr als Milieu- oder Fall­stu­die und his­to­ri­sches Doku­ment, was er auch ist. Nest­lers – ver­ein­facht gesagt – Außen­sei­ter­stand­punkt, im Schnitt­punkt sozia­ler Kul­tu­ren und Klas­sen, öff­net den Blick für die wider­sprüch­li­chen Trieb­kräf­te des Lebens und der Gesell­schaft und bannt sie in poe­ti­sche Bil­der. Die Beto­nung liegt auf „Bil­der“: in knapp 40 Minu­ten über 200 Ein­stel­lun­gen von durch­schnitt­lich 11,5 Sekun­den Län­ge. Das ist noch kein natu­ra­lis­ti­sches Ciné­ma Veri­té mit sei­ner Hul­di­gung der Unmit­tel­bar­keit (und des Ori­gi­nal­tons); respekt­voll Abstand hal­tend fin­det Nest­ler das für den jewei­li­gen Men­schen in der jewei­li­gen Situa­ti­on ‚rich­ti­ge’ Bild, offen­bart sei­ne Schön­heit, die noch durch Ernied­ri­gung und Demü­ti­gung durchscheint.

Der Zuschau­er wird erst ein­ge­stimmt auf ein schein­bar fried­li­ches Sozi­al­i­dyll: Der Schwe­re der Arbeit ent­spricht die Gelöst­heit des Fei­er­abends – eine lie­bens­wer­te, aber auch sta­ti­sche Welt, die den Anpas­sungs­druck der in ihr Ein­ge­schlos­se­nen ahnen läßt. Das Bild die­ser unter­pri­vi­le­gier­ten Welt wird auf­ge­bro­chen durch die Außen­sei­ter, die noch eine Stu­fe tie­fer ste­hen, durch den Ein­wan­de­rer aus den Kolo­nien, das Zigeu­ner­bärt­chen des Tisch-Gitar­ris­ten Alfre­do und die Tin­gel-Band mit ihrem israe­li­schen Kampf­lied, auf die die Kame­ra immer wie­der zurück­fährt und die die Geschich­te des Films, die eine Geschich­te zwi­schen Musik­stü­cken ist, in stän­di­ger Bewe­gung und inne­rer Anspan­nung hal­ten. Sie beginnt mit Arbei­tern, die aus der Fabrik kom­men und auf den Bus war­ten. Und dann fah­ren wir mit dem Bus, in dem ein Schwar­zer sitzt. Sie endet mit einem Schwenk über die Bau­stel­le eines ‚moder­nen’ Wohn­blocks, in dem für Pop Lomas und sei­nen wal­zer­tan­zen­den und bin­go­spie­len­den Club kein Platz mehr ist. Danach tritt der Blues­sän­ger auf mit sei­nem melan­cho­li­schen, fast sen­ti­men­ta­len Song „How Soon The Fla­me of Love Can Die …“ Das ist der Schluß­kom­men­tar. Jeder Bier­dunst ist durch die­se ath­le­ti­sche Stim­me wie weg­ge­bla­sen, zurück­ge­las­sen wird die Chro­no­lo­gie des All­tags im Club, der ver­knüpft ist mit dem All­tag der Stadt (auf der Stra­ße) und dem All­tag in der Fabrik.

In die­sem Epi­log ‚beherr­schen’ die Müt­ter mit ihren Kin­dern und die Jugend­li­chen die Sze­ne, wäh­rend der Blues im Off wei­ter­ge­sun­gen wird im Wech­sel mit Außen­ge­räu­schen. Flü­gel­k­nat­ternd bre­chen Tau­ben her­aus aus ihren Schlä­gen, ein Hund rebel­liert gegen die Git­ter­stä­be sei­nes Zwin­gers, eine Fabrik­sil­hou­et­te ver­brei­tet unan­ge­neh­men Dampf. Die unver­putz­ten Back­stein­häus­chen in der Arbei­ter­sied­lung, die durchs Tele­ob­jek­tiv betrach­tet wie Fisch­schup­pen anein­an­der­ge­reiht sind, sind noch enger gewor­den und kön­nen sozia­le Unter­schie­de unter ihren Bewoh­nern nicht ver­ber­gen: Ein Jun­ge fährt ein schö­nes, eiser­nes Drei­rad mit Kof­fer­raum, sei­ne Freun­de müs­sen sich mit abge­wetz­ten Tret­rol­lern aus Holz her­um­pla­gen. Aber den­noch: Frau­en in Haus­ar­beits­kit­teln strei­cheln Kat­zen, die Schwes­ter nimmt ihren klei­nen Bru­der in den Arm. Die Flam­me der Lie­be wird (darf) nicht sterben.

In meh­re­ren Bespre­chun­gen über Nest­ler wird des­sen Bewußt­sein für öko­no­mi­sche Zusam­men­hän­ge, eine mate­ria­lis­ti­sche Grund­hal­tung kon­sta­tiert, das viel­zi­tier­te Essen, das vor der Moral kommt und auch vor der Ästhe­tik. Roman­ti­sie­rung und jour­na­lis­ti­sche Kopf­geld­jagd sind ihm fremd und zuwi­der. „Arbei­ter wol­len ihre Fami­li­en ernäh­ren kön­nen“, heißt es in einem sei­ner Fil­me. Neben musi­ka­li­scher Dar­bie­tung, Tanz, Bil­lard und Bier ist das Bin­go­spiel einer der Fix­punk­te des Clubs. Ein Ansa­ger kom­men­tiert das zufäl­li­ge Spiel der Zah­len auf einer beleuch­te­ten Anzei­ge­ta­fel. Die Spie­ler ver­glei­chen es mit der Zah­len­kom­bi­na­ti­on in ihrer Hand, einer bedruck­ten Kar­te, die von Fin­gern und Dau­men gehal­ten wird, die vom Tag in der Fabrik erzäh­len, vom Öl und Dreck der Maschi­nen und Öfen. Dann springt die Kame­ra vom Bild der Hand mit der Zah­lenkar­te plötz­lich in die Fabrik. In einer Tota­len mit zwei Ran­sprün­gen sehen wir klas­si­sche Hand­ar­beit an der Gieß­pfan­ne – eine har­mo­ni­sche Bild­fol­ge. Eine vier­te Sze­ne von Schlei­fern anders­wo wird ange­klebt, das Erwar­te­te wird gestört durch Unru­he. Oder durch Anhal­ten, wenn die Bewe­gung durch Steh­ka­der, auf­ge­nom­men mit der Lei­ca und meist nur weni­ge Sekun­den lang, unter­bro­chen wird, um den glat­ten Fluß der Stra­ßen- und Knei­pen­at­mo­sphä­ren zu bremsen.

Die mir liebs­te Sze­ne: Mäd­chen auf einem Schul­hof tan­zen Rin­gel­rei­hen, das ist nett. All­mäh­lich schwenkt die Kame­ra etwas nach rechts, ohne die Tan­zen­den ganz zu ver­las­sen, und ein Schwar­zes Mäd­chen rückt ins Bild, das außer­halb des Krei­ses allein für sich tanzt, tan­zen muß gegen sei­nen Schmerz. Die­ses Mäd­chen beherrscht von jetzt an die Sze­ne, obwohl der Groß­teil des Bil­des noch immer von den ande­ren ein­ge­nom­men wird. Das Pro­to­koll ver­zeich­net für die­sen leich­ten Schwenk 31 Sekun­den, zu lang für die damals noch gebräuch­li­chen Feder­werk­ka­me­ras und eine der längs­ten Sze­nen in die­sem Film über einen kol­lek­ti­ven Hel­den und das Individuum.

(Aus „Zeit für Mit­tei­lun­gen – Peter Nest­ler. Doku­men­ta­rist“, edi­ti­on filmwerkstatt/​Film­werk­statt Essen 1991, S. 180–81)