Über die Arbeit mit dem Dokumentarfilmregisseur Peter Nestler
Text: Rainer Komers
WIR HABEN DIE WORTWAHL DES AUTORS BEI DER ENTSTEHUNG DES TEXTES 1995 ÜBERNOMMEN. SEINE UND UNSERE HALTUNG RICHTEN SICH UNEINGESCHRÄNKT GEGEN JEDE DISKRIMINIERUNG INDIGENER VÖLKER.
Ein Jahr nach der Uraufführung erhält Peter Nestler für seinen Ecuador-Film Pachamama den mit 40 000 DM dotierten Hessischen Filmpreis. Zum gleichen Zeitpunkt lese ich in der Fachzeitschrift Film&TV Kameramann einen Bericht über Dreharbeiten bei den Kogi-Indianern in Kolumbien, in dem betont wird, dass dort an einem Superfilm mit und nicht über die Kogi gearbeitet worden sei. Diese Formulierung erregt meinen Widerspruch, weil sie suggeriert, man müsse seine Protagonisten nur ordentlich genug am Drehen beteiligen, dann würden sie einen schon an ihrer Privatsphäre und an ihren heiligen Riten teilnehmen lassen und so käme man dann zu seinem Superfilm mit den Kogi.
Ich will mich mit meinem Widerspruch nicht gegen Filme mit ethnographischem oder entwicklungspolitischem Ansatz richten, wie ihn der Kogi-Film möglicherweise hat. Ich will hier für einen sprechen wie Peter Nestler, der uns seine Sicht der Dinge mitteilt, und der solche Blicke hinter die Gardinen, von denen oben die Rede ist, für sich ablehnt. Mit dieser Haltung des Respekts vor der persönlichen Sphäre eines Menschen gilt er heute vielen als altmodisch. Als Kameramann von Pachamama möchte ich etwas von unserer Zusammenarbeit an diesem Film erzählen und von Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe.
Zweieinhalb Jahre vor dem Beginn der Dreharbeiten erhielt ich von Peter eine Synopsis des geplanten Films:
„Ein 80 Minuten langer Dokumentarfilm über Indianerkulturen in drei Gebieten Ecuadors – dem Altiplano (Hochland der Anden), der Amazonia und der Pazifikküste – grandiose Kulturepochen, die bis 3500 v. Chr. zurückreichen. Der Film zeigt, was geblieben ist und vor wenigen Jahren erst entdeckt wurde, und was noch immer bei Ausgrabungen entdeckt wird; zeigt auch die Spuren der Kolonialzeit in der Kunst und das Leben der Indianer heute in den Gebieten der alten Kulturen …“
Sieben Wochen vor unserer Abreise nach Quito, es war um die Nochebuena, um Heiligabend herum, rief mich Peter aus Stockholm an und überraschte mich mit der Frage, welche Bildvorstellungen ich mir für Pachamama und Ecuador gemacht hätte. Ich antwortete zunächst ausweichend und sehr allgemein, dass es mir darauf ankäme, mich auf die Menschen vor der Kamera einzulassen, ihnen und uns die Zeit zu geben, sich miteinander vertraut zu machen. Mit Zeit meinte ich nicht die reale Zeit von Minuten und Sekunden, sondern auf den richtigen Zeitpunkt zu warten, wenn alles bereit ist für die Aufnahme. Dann erzählte ich von einer Dreherfahrung im Jemen, wo diese Methode zu einem überraschenden Erfolg geführt hatte.
Karawanserei
Unser Team hatte den Auftrag bekommen, in der Altstadt von Sana’a eine ziemlich heruntergekommene Karawanserei aufzunehmen, in der aber noch gearbeitet wurde. Bei dem Film ging es darum, wie solche vom Verfall bedrohten und historisch wertvollen Gebäude erhalten und restauriert werden können. Nachdem wir die Karawanserei betreten und uns in dem dunklen Innenhof ein wenig umgesehen hatten, baute ich zwei Lampen auf, machte etwas umständlich einige feste Einstellungen und Schwenks, erfasste dabei zwei indisch aussehende Schneider halbverdeckt in einem Raum in der über mir gelegenen Galerie, und behielt gleichzeitig ständig zwei Männer auf gleicher Höhe im Augenwinkel, einen älteren, der neben einer Säule saß und irgendwelche Körner abfüllte, und seinen jüngeren Gehilfen, der einen langen Militärmantel trug und diese Körner in einem Sieb hin und her schüttelte. Dann war der Augenblick gekommen, mich den beiden zuzuwenden. Hani, unser Dolmetscher, hatte bereits ein Gespräch mit dem Körnerhändler angefangen, und ich brauchte die Kamera nur noch einzuschalten.
Während die Männer ihre Arbeit weiter verrichteten und anfangs noch auf die Kamera reagierten, kam der Ältere bald auf den Kern der Sache zu sprechen: Vor vielen, vielen Jahren – er saß an der selben Stelle wie jetzt und hantierte mit seinen Körnern – hatte sich oben im Dachgewölbe ein schwerer Stein gelöst und ihm den linken Unterschenkel zerschmettert. Und während er von diesem Ereignis berichtete, das sehr konkret das Anliegen unseres Films unterstrich, zog er langsam den Rock hoch bis zum Knie und deutete auf seine Prothese. Da ich durch meinen Sucher aber weder die Prothese erkannt, noch ein Wort von seiner Erzählung verstanden hatte, entdeckte ich erst im fertigen Film, was uns allen in dieser alten Karawanserei von Sana’a gelungen war, und was mit gegenseitigem Verstehen (und Sympathie) und nicht bloß mit Neugier zu tun hatte.
Vielleicht lag es an der Telefonverbindung nach Stockholm oder daran, dass ich mich nicht deutlich hatte ausdrücken können, jedenfalls spürte ich, dass meine Erzählung nicht das war, was Peter von mir hatte hören wollen. Da ich mir aber sicher war, nah daran gewesen zu sein, worauf es mir beim Drehen auch ankommt, ließ ich mich nicht entmutigen und äußerte noch den Wunsch, dass wir einen ‚schönen’ Film machen sollten in Ecuador.
Schloss Cappenberg
Fünf Tage vor unserem Abflug aus Frankfurt machte ich in Absprache mit Peter einen Vordreh in Schloss Cappenberg bei Unna. Dort gab es eine Ausstellung, die in einer gefalzten Briefkarte so angekündigt wurde:
„Im Jahr 1868 brachen die deutschen Forscher Alphons Stübel und Wilhelm Reiss nach Hawaii auf, um dort die Vulkane zu erforschen. Auf der Hinreise war ein kurzer Abstecher nach Südamerika geplant. Doch die Faszination der Anden ließ sie bald ihr ursprüngliches Reiseziel vergessen. Hawaii erreichten sie nie. Aus einigen Wochen wurde fast ein Jahrzehnt, aus einem kurzen Abstecher die gründlichste und ergebnisreichste Forschungsreise in der ganzen amerikanischen Entdeckungsge-schichte. (…) In ihren ersten Jahren bestiegen sie fast alle Vulkane Ecuadors …“
Auch wenn von dem Material des Vordrehs nichts in den späteren Film übernommen wurde, so war doch diese Ausstellung die beste Vorbereitung und Einstimmung auf das, was mich in dem Land am Äquator erwartete. Neben den Farbaquarellen, welche die Forscher von ihren indianischen Fundstücken anfertigen ließen, neben den Panoramen, die sie kartografisch genau von den andinen Gebirgslandschaften gezeichnet hatten, war es vor allem ein Ölgemälde von der bizarren Gletscherwelt des Chimborazo, Ecuadors höchstem Vulkan, das meine Phantasie am meisten beschäftigte. Die Eis- und Felsformationen auf diesem Bild sollte ich mehr als 120 Jahre nach seiner Entstehung genauso und in denselben von Weißgrün bis Schwarzbraun reichenden Farbtönen vor meiner Filmkamera wiederfinden.
Peter erzählte uns später auf der Reise durch Ecuador von seinem Großvater, der in Südamerika und in Afrika ausgegraben und um die Jahrhundertwende an Expeditionen teilgenommen hatte: Die Gegenstände, die er gesammelt hat, zum Teil bei sich zuhause, zum Teil in Museen, haben mich tief beeindruckt. Und auf die Frage, warum er sich bei seiner Filmarbeit von historischen Ereignissen und Zusammenhängen so in Bann gezogen fühle, antwortete Peter: „Weil mir diese Ereignisse aus der Vergangenheit so nahe sind, wenn ich darüber lese, wenn ich historisches Material sehe und in die Hände bekomme. Ich habe ein stärkeres Gefühl von Zusammen-hang mit dem, was vor 500 Jahren passiert ist, als das allgemein üblich ist.“ Und vielleicht sei das Ganze schon in der Kindheit und durch seinen Großvater in Gang gesetzt worden. Aus dem Verstehen für dieses historische Interesse heraus und mit dem Ergebnis des fertigen Films vor Augen versuche ich mir noch einmal das Programm, das hinter der Pachamama– Synopsis von 1992 stand, zu vergegenwärtigen: das Leben der Indianer heute aufspüren in den Gebieten der alten Kulturen und der Kolonialzeit – erweitert um die besondere Rolle der Musik, die Avenida de los Volcanos (so benannt von dem Südamerika-Forscher Alexander von Humboldt) entlangzufahren, von dort aus weiter an die Pazifikküste mit ihren archäologischen Fundstätten und zu den Larvenfischern von Holón, und wieder zurück über die Berge an den Rand des amazonischen Regenwalds, und dabei Landschaften, Flora und Fauna, Wolken und Wind (in sich) aufzunehmen und einen Weg nachzuzeichnen, der von den schneebedeckten Gipfeln der Anden bis an die warmen Wellen des Pazifiks herunterführt.
Dieses Programm bedeutete: mit dem Geländeauto 6000 Kilometer zurückzulegen in 6 Wochen und dabei Höhenunterschiede von 5000 Metern zu überwinden, wenig reale Zeit zu haben an einem einzelnen Ort, das heißt zu kommen, zu sehen und zu drehen, dafür aber diesen großen Bogen zu spannen, den Versuch zu machen, ein ganzes Land, seine vom Kolonialismus überschattete Geschichte, seine Natur und seine in vielen Aspekten bei uns noch unbekannte Kultur zu entdecken und zu erfassen.
Diskussion
Wo Spannung ist, da gibt es auch Druck. Der machte sich gelegentlich Luft beim Drink in abendlichen Hotels. Der Dritte in unserer Runde war Michael Busch, der Tonmeister aus Frankfurt. Michael schien diesen Druck nicht zu spüren, der mir anfangs, angesichts der Macht der unmittelbar auf mich einstürmenden Eindrücke, zu schaffen machte, bis ich allmählich zur Grundkonstruktion des Films hindurch- und zurückfand, die schon in der zweieinhalb Jahre alten Synopsis ganz klar zu erkennen gewesen war.
Trotzdem ging es mir manchmal einfach zu schnell. Es gab Orte, zum Beispiel bei den Indianern in Cotacachi und in Tunibamba, wo wir sehr gute Bedingungen hatten und freundlich aufgenommen wurden, wo ich gerne länger geblieben wäre, um noch mehr von ihnen zu erfahren (und dafür muss man länger bleiben). Da revoltierte ich innerlich gegen die Konstruktion und den Plan. Auch wäre ich manchmal gerne Überraschungen nachgegangen, die zwar neben dem vorgezeichneten Weg liegen können, in denen man sich auch verlieren und verzetteln kann, die aber eben doch Überraschungen sind, die einem so ganz nebenbei geschenkt werden. Aber dies waren eigentlich nur kleine Nebenschauplätze, über die wir schnell zum Hauptpunkt unserer Diskussion kamen. Die Frage, die wir uns stellten, und die eine der Menschheitsfragen ist, lautete: Wie können bedrohte Kulturen, wie die der Indigenas von Ecuador, in einer modernen, von der ersten und weißen Welt beherrschten Zivilisation und außerhalb von Museen oder geschützten Reservaten überleben? Und wie sollen wir, Filmemacher aus der ersten Welt, diese Frage behandeln und darstellen? Können die Indigenas ihre Kultur überhaupt mit einiger Aussicht auf Erfolg bewahren, wenn sie sich abgrenzen und auf ihren eigenen Werten und Traditionen beharren, oder sollten sie sich den Herausforderungen der weißen Zivilisation nicht vielmehr stellen, um zu entscheiden, solange sie noch das Bewusstsein und die Kraft dazu haben, was sie davon für ihre eigene Kultur verwenden wollen und was nicht? Peter legte die Betonung ganz auf das Bewahren, ich mehr auf den Prozess, der Begegnung und Austausch der Kulturen mit einschließt. Aber eine Kapitulation vor der weißen Dynamik, wie wir sie z. B. in Quito mit seinem Apartheid- ähnlichen System erlebten, die darf es nicht geben. In dieser prinzipiellen Frage waren wir uns einig, auch wenn es im Eifer der Diskussion nicht immer so schien.
Wahrheit, Rückgrat, Gewicht
Was sind die wahren Momente beim Film, Peter?
Ja – das, was in den Bildern drinsteckt. Es können Teile einer Landschaft sein, es können Gesten sein, die richtig kommen. Diese Dinge können ein Gefühl von Wahrheit auslösen, das man empfindet, wenn alles stimmt. Das ist sehr schwer einzukreisen, und es bleibt etwas verborgen.
Gehört es zur Wahrheit, dass etwas verborgen bleibt?
Sicher, das hat auch damit zu tun, dass man die Dinge aus dem Rücken heraus macht und nicht aus dem Bauch.
Im Rücken steckt das ‚Rückgrat’.
Ja, und das ist eigentlich das Wesentliche beim Filmemachen: Wann bekommt ein Film Gewicht? Wann wird es wichtig für den Betrachter und für einen selbst? Darüber können viele andere Dinge lagern, die man als Erkenntnis wichtig findet. Aber das eigentliche Gewicht ist eben nicht zu packen. Es entsteht, und man spürt bei der Aufnahme: Jetzt stimmt es. Und das ist auch in anderen Filmen zu sehen. Es fordert eine große Offenheit bei der Arbeit mit Film.
Ein Film bekommt Gewicht, was bedeutet das für Dich?
Dass man etwas als schmerzhaft oder wie eine Art Glück empfindet, dass man stark bewegt wird von dem, was man sieht. Ich meine nicht diese Gerührtheit, die man manchmal an sich verdammt, wenn man eine Szene sieht, die man im Grunde als sentimental empfindet. Ich meine ein tieferes Gefühl: dass man selbst betroffen ist, dass das eigene Leben betroffen ist, dass man einen Zusammenhang spürt mit dem, was sich da im Film tut.
Pachamama, einige kommentierte Szenen aus der Einstellungsfolge (per 9.6.95, vor dem Negativschnitt)
82. Totale: Minga (Quichua: unbezahlte Gemeinschaftsarbeit). Das Arbeiten am Bergbach
83. Halbnah: Losreißen von Erdreich mit Wurzeln
84. Nah: Pickeln und Transport des Lehmklumpens mit dem gerissenen/geflickten Pickel
Bei unseren Fahrten mit dem Auto hatten wir uns daran gewöhnt, dass Peter, sobald wir für eine Aufnahme anhielten, die Heckklappe des Mitsubishi aufmachte, das Stativ herausnahm und schon nach einer Kameraposition im Gelände suchte, während ich die Geräte noch fertig machte. Ich habe bisher nie jemanden getroffen, der bei dieser Suche ein so schnelles und sicheres Auge an den Tag gelegt hätte wie er; und seine Position war fast immer die endgültige, auch wenn er nicht durch den Sucher der Kamera sah.
Wie schon gesagt, blieb uns bei dem Programm, das Peter ausgearbeitet hatte, für die einzelnen Aufnahmen nicht viel Zeit. Der schnelle Zugriff galt in der Regel nicht nur für Landschaften, sondern auch für Aufnahmen, in denen Menschen agierten, und er galt auch für die Einstellungen 82 bis 84. Dort zeigen wir indianische Bauern im Cuicocha-Massiv, die von ihrer kraftvoll zupackenden Erdarbeit im Bergbach so in Anspruch genommen sind, dass sie die Anwesenheit der Kamera kaum bemerken. Erst als ich im Eifer des Gefechts alle Hemmungen verliere und einem der Arbeiter, der sich wohl nach einem harten Wochenende ein blaues Auge eingefangen hatte, mit der Kamera zu nah auf den (geschundenen) Pelz rücke, schneidet mir dieser demonstrativ eine Grimasse und zwingt mich so, die Aufnahme abzubrechen. Aber was wir brauchten, hatten wir schon im Kasten.
In Sichtweite den Bach abwärts ist eine zweite Gruppe damit beschäftigt, ein Filterbecken für die projektierte Abwasserleitung zu mauern – eine filigrane, von ständigem Kontrollieren und Messen begleitete Arbeit, die viel weniger Kraft als Geschick erfordert. Hier wird die Anwesenheit der Kamera sofort bemerkt und wir hätten das oben geschilderte Warming-up mit dem Warten auf den richtigen Zeitpunkt gebraucht, um eine verwendbare Aufnahme zustande zu bringen.
Es gibt also Situationen, in denen man schnell drehen, ja überrumpeln muss, weil diese Situation u. U. Sekunden später schon nicht mehr existiert; und es gibt andere Situationen, wo diese Methode einfach nicht funktioniert. Das ist mir klar geworden bei den Indianern am Cuicocha.
160. Halbnah: die Kamera schwenkend, die Gruppe Canar Manta spielt und singt das Liebeslied/den Tanz Charini Mana Charini
Die Musikaufnahmen machten wir mit e i n e r Kamera und in einer durchlaufenden Einstellung, die in der Regel beim ersten Mal sitzen musste. Eine Wiederholung war nicht möglich. Allerdings nahmen wir mehrere Stücke auf, aus denen Peter später dann auswählen konnte. Nach einigem Suchen hatten wir für die Gruppe Canar Manta eine Position im Gelände gefunden, die quasi einer Naturbühne glich, und die einen guten Durchblick auf die bergige Landschaft dahinter gestattete. Neben den Musikern und tanzenden, maskierten Kindern, gehörten zur Gruppe zwei junge Frauen, die sangen. Irgendetwas trieb mich dazu, die glockenhellen Stimmen der Frauen im On zu haben, d. h. ich musste beim langsamen Schwenk über die Musiker und die Kinder genau dann bei den Frauen ankommen, wenn sie ihren Einsatz hatten. Und sie hatten ihn. Alles stimmte bei allen. Und die glockenhellen Stimmen? Die hatte ich schon gehört bei Gesängen der Inuit und der Ukrainer und hörte sie jetzt wieder bei den Canaris im Süden von Ecuador.
Nächste Einstellung:
161. Totale-halbnah-Totale, Mitschwenken: Auf dem Inka-Weg nähern sich ein Mann zu Fuß und seine etwa elfjährige Tochter auf einem Pferd – und entfernen sich, werden von einer Wolke verschluckt.
Wir gingen mit indianischer Begleitung und einem Lastpferd in die Berge, um Reste der ehemaligen Inkafestung Paredones aufzunehmen. Dabei gerieten wir in dichten Nebel und einen leichten Regen. Einer der Pferdeführer hatte seine kleine Tochter mitgenommen, die nur dünn bekleidet war und fror. Um die Einstellung zu machen, mussten wir geraume Zeit warten, bis der Wind den Nebel wenigstens für einen Moment aufreißen würde. Eine Indianerin, die zwei mit Zuckerrohr-Bündeln beladene Pferde mit sich führte, machte bei uns Rast. Auf einer Erhebung oberhalb stand lange und unbeweglich ein weiterer Indianer, der eine uralte Büchse im angewinkelten Arm trug und ebenfalls auf gute Sicht wartete. Dann gaben wir das Startzeichen, der Pferdeführer mit seiner Tochter konnte losgehen. Die Gruppe, zu der noch ein Hund gehörte, kam über den gepflasterten Inka-Weg auf die Kamera zu, Schwenk nach oben auf das Mädchen und wieder zurück auf die ganze Gruppe, die, während sie sich entfernte und kleiner wurde, vom Nebel ganz verschluckt wurde.
Ursprünglich hatte ich die Einstellung 161 hier gar nicht erwähnen wollen. Aber weil sie unmittelbar auf das Tanzlied der Canaris folgt und ähnliche Assoziationen im Moment der Aufnahme bei mir ausgelöst hat, tat ich es doch. Und, weil auch diesmal alles stimmte, selbst beim Wind.
Vorletzte Einstellung in dieser Aufzählung:
233. Weit: der junge Indio Ernesto Vargas sitzt auf einem auf den Sandstrand gezogenen Einbaum und singt; dahinter der Fluss Bobonaza
Wir haben den Fuß der Anden erreicht, nachdem die Brigada de Selva, die Urwald-Brigade, uns ihren Stempel in den Pass gedrückt hat. Wir befinden uns jetzt im Quellgebiet des Amazonas, der nach 3000 Kilometern (Luftlinie), die größtenteils durch tropischen Regenwald führen, in den Atlantik mündet. Wenn man von der alten Erdölstadt Puyo herunter Richtung Canelos fährt, dann hat man an einer Kurve einen schier endlosen Blick über wolkenbekränzte Baumwipfel, der die riesige Strecke erahnen lässt.
In Canelos gibt es eine Schule für die ab hier nur noch spärlich besiedelte Region Pastaza. Wir haben noch keine konkrete Vorstellungen für die Aufnahmen. Wir fragen, ob Schüler vielleicht auf Quichua Gedichte aufsagen können.
Nein, aber sie können singen. Etwas umständlich stelle ich in einem Klassenraum die Kamera auf, räume Stühle weg, versuche mit den jungen Sängern vor der Tafel, wo sie der Lehrer hingestellt hat, ein Bild zu bauen. Aber bevor sie mit ihrem Liedchen beginnen können, ist mir schon klar, dass aus der Aufnahme nichts werden kann. Etwas stimmt nicht zwischen den Beteiligten. Ich hatte mir vorgestellt, dass die Kinder da blieben, wo wir sie zuerst angetroffen hatten, in ihren Bänken. Da hätten sie genauso gut singen können und ohne die störende Räumerei. Und außerdem sangen sie nicht gut. Die ganze Situation behagte ihnen nicht. Und uns auch nicht.
Da hat plötzlich jemand eine Idee: Ernesto wird singen, auf Quichua, unten am Bobonaza, der vom gestrigen Gewitter braun angeschwollen ist. So entsteht aus einer Frustration heraus eine der schönsten Aufnahmen des Films. Mit welchem Selbstbewusstsein der junge Bursche sein Liebeslied vor der Kamera vorträgt, a capella!
Später konnte ich beobachten, wie ein junges Mädchen von der Hängebrücke tief hinunter in den Fluss sprang und sich wie ein Fisch im Wasser drehte; wie ein Junge in Gummistiefeln auf einem ungesattelten Pferd, die Hände in die Mähne gekrallt, über die Grasnarbe einer in den Wald geschlagenen Landebahn auf uns zupreschte (zu schnell und zu plötzlich, um die Kamera noch einzu-richten) und an uns vorbeijagte auf den Fluss zu, den beide – Junge und Pferd – halb schwimmend durchquerten. Hier in Canelos wäre ich vielleicht auch gerne ein Junge gewesen, ging es mir durch den Kopf. Und als habe der Bobonaza meine Gedanken erraten, setzte er sich noch einmal in Pose und beschenkte uns zum Abschied mit einem märchenhaften Tableau:
240. Totale: zwei Mädchen staken im Einbaum auf dem Urwaldfluss Bobonaza Rückreise
Als unser Flugzeug eine weite Schleife flog über die blendend weißen Kegel der Vulkane, den Cotopaxi im Süden, den Cayambe im Osten, beobachtete ich Peter, der auf der anderen Seite des Ganges neugierig aus dem Fenster sah. Auch ich suchte angestrengt die Erdoberfläche ab, um Orte wiederzufinden, an denen wir gewesen waren: das Maisfeld mit der Hütte des Harfenspielers Guadinango, den Cuicocha-Kratersee, um den herum die seltenen, windbewegten Blumen und Pflanzen stehen, und weiter im Norden, schon an der Grenze zu Kolumbien, das Valle de Chota, an dessen Hängen die Banda Mocha Aufstellung nahm und zum Tanz aufspielte, während Indianerjungen ein Strohfeuer gegen die Mücken entfachten. Michael saß ein paar Reihen vor mir und sah auch aus dem Fenster. So flogen wir drei, jeder für sich, zurück über unsere Erde Pachamama
© Rainer Komers 1995
Die Interview-Passagen mit Peter Nestler wurden, leicht bearbeitet, entnommen aus dem 3sat-Pressespecial Dokumentarisch arbeiten – Sechs Regisseure im Gespräch mit Christoph Hübner.