Text: Alejandro Bachmann
„Ich wusste nichts von Léo Maillet. Erst vor einem Jahr habe ich in Stockholm Bilder von ihm gesehen. Vor siebzig Jahren war er Meisterschüler von Max Beckmann im Frankfurter Kunstinstitut Städel“. So beschreibt Nestler seinen Bezug zu dem Maler, dessen Geschichte Flucht als reisende Spurensuche auffächert. Der jüdische Maler muss Deutschland 1934 verlassen, kehrt 1935 zurück. Als ihm Berufsverbot erteilt und die Staatsangehörigkeit aberkannt wird, geht er nach Frankreich und wird auch dort von den Deutschen unter Mithilfe des Vichy Regimes verfolgt. Nestler, Kameramann Rainer Komers und Maillets Sohn Daniel, der wie der Vater mit der Feder malt, folgen den Fluchtbewegungen kreuz und quer durch Frankreich, begegnen Landschaften, vorübergehenden Wohnorten und Menschen, die mal nichts von Mayers, so der Geburtsname des Künstlers, Geschichte wissen, ihm mal sogar begegnet sind oder, im Falle eines Familienausflugs ehemaliger Harkis, von ihrer ganz eigenen Fluchtgeschichte zu berichten wissen. So bescheiden Nestler seinen eigenen Bezug zum Maler eingangs beschreibt, so kenntnisreich und unprätentiös erweist sich der Blick des Filmemachers auf Mayers Bilder im Verlauf des Films. Immer wieder werden sie in die Reisebewegung eingewoben und mit kurzen, präzisen Worten kontextualisiert: Herausgearbeitet werden wiederkehrende Motive, biographische Bezüge und materielle Eigenschaften, die auch etwas über den (virtuosen Umgang mit dem) Mangel an Möglichkeiten auf der Flucht erzählen.
Im Verlauf der rund neunzig Minuten faltet Flucht den Teppich dreier Blicke auf, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verweben, ohne sie vollends ineinander aufgehen zu lassen: Die trockenen Anmerkungen Nestlers zur Reise der drei Männer verknoten sich mit den Tagebucheinträgen Leopold Mayers, die Bilder des Vaters sprechen mit den auf der Reise entstehenden Bildern des Sohnes, der Blick von Komers sucht wiederkehrend die Motive der Bilder des Vaters auf und beobachtet eindringlich den Sohn bei der künstlerischen Arbeit.
Das klare, helle Sommerlicht der vierwöchigen Reise, das Zirpen der Zikaden, die Begegnung mit anderen Reisenden in Funktionskleidung, das Fahren und Laufen durch Landschaften sowie das Anekdotische (unvergesslich bleibt eine Szene, in der Daniels Malutensilien aus der Hand gleiten und sich auf dem Boden verteilen oder die nach Tusche suchende Zunge eines Hundes) verdichten sich stellenweise zu einer sommerurlaubähnlichen Atmosphäre. Nur geht es eben gerade nicht um Erholung oder Prokrastination sondern das Aufspüren von Geschichte als Gegenwart, die einer der Welt, den Menschen und den Dingen zugewandten Aufmerksamkeit bedarf. Die Flucht der drei Reisenden aus den Rhythmen des Alltags legt die Flucht Leopold Mayers Schicht um Schicht frei und öffnet dabei den Blick auf eine Nahbeziehung zwischen den Werken zweier Maler und dem dokumentarischen Schaffen Nestlers: Gemein ist allen das Herstellen von Bildern, die auf eigenartige Weise eine Zwischenzeit artikulieren, die sich über den größeren Teil des 20. Jahrhunderts erstreckt.