Der Filmemacher und ehemalige Chefredakteur der Cahiers du Cinéma Thierry Jousse hat in einem Video über die Filmmusik bei Quentin Tarantino, das er für die arte-Serie Blow-Up gemacht hat, erwähnt, dass er zunächst Probleme mit den Filmen des Amerikaners gehabt habe bis er mit Jackie Brown verstanden hätte, dass bei Tarantino die Bilder Musik sind und die Musik Bilder. Vielleicht geht es mir ähnlich bei Dario Argento, dessen Profondo Rosso ich trotz meiner Aversionen gegen alles was ich bislang vom Italiener sah, einiges abgewinnen konnte. Zuvor zeigte das Österreichische Filmmuseum allerdings den Klassiker Halloween von John Carpenter, den ich ebenfalls zum ersten Mal sah. In beiden Filmen scheint sich die Kamera immer wieder mit den Mördern zu verbünden und man kann sich nie sicher sein, ob das was man gerade sieht nicht doch der Blickwinkel des Killers ist. Schon in der Eröffnungssequenz von Halloween, die weniger ein Kindheitstrauma als eine Vorbereitung des Publikums auf Schlimmes ist, folgen wir bis zu einem schönen Perspektivwechsel am Ende dem Blick des Mörders aus der ersten Person. Erst am Ende erfahren wir eindeutig, dass es sich dabei um ein Kind handelt und sein Opfer an jenem Halloweenabend in den 60er Jahren seine Schwester war. Dann macht der Film einen Zeitsprung und wir sehen die Flucht des Kindes, Michael Myers, der 15 Jahre später natürlich kein Kind mehr ist. Da passenderweise gerade Halloween ist und ein paar Teenagerinnen durch die Bilder hüpfen, ist der Rest des Films eine klare Sache. So klar, dass Carpenter ein und dasselbe System von Anfang bis zur Mitte des Films und ein ähnliches System von der Mitte bis zum Ende des Films wiederholt. Natürlich kann man die beiden Systeme in ihrer Anwendung nicht ganz so stark voneinander trennen, weil sie sich durchaus überschneiden und variiert werden, aber im Kern sind es genau diese zwei. Das erste System ist jenes der Point-of-View-Angst. Hier zeigt sich weshalb das Horrorgenre derart geeignet für die filmische Sprache ist, selbst wenn man es wie Carpenter in stupider, einzig auf Effekt zielender Art und Weise bedient. Es ist ein Kino der Blicke und der Abwesenheit. In dieser ersten Hälfte gibt es neben einer parallelen Ermittlungsarbeit durch den betreuenden Psychiater des Mörders drei Blicke.
1. Blick
Der erste Blick ist jener der Protagonistin Laurie (Jamie Lee Curtis). Sie beginnt einen Mann zu sehen, der sie ganz still beobachtet. Er steht einfach da mit einer Maske. Immer wenn sie ihren Blick wiederholt oder anderen zeigen möchte, was sie sieht, ist dieser Mann nicht mehr da. Die Beunruhigung, die von diesen Bildern ausgeht, ist offensichtlich, denn erstens wissen wir im Gegensatz zur Protagonistin von der Bedrohung, die von dieser Person ausgeht und zweitens geht ein großer Horror aus von Dingen, die aus Bildern verschwinden ohne logische Erklärung. Wenn der hors-champ, also der Off-Screen selbst zu einem übersinnlichen Element wird, dann können wir auch dem Film nicht mehr trauen. Halloween nutzt diese Tatsache bis zur Schmerzgrenze aus und man fühlt sich beobachtet, weil man selbst nicht beobachten darf. Das Verschwinden der Figur löst eine entscheidende Frage in uns aus: Wohin ist er verschwunden? Die Ränder des Bildes und das, was wir nicht sehen können, werden entscheidend und da Carpenter einen Film gemacht hat wie ein Blatt Papier, das zur Hälfte weiß ist und zur Hälfte schwarz und darüber hinaus nichts zulässt, werden wir nur in solche Situationen geworfen. In seiner Simplizität und auf das Publikum zielenden Effektivität ist dieser Film der Gipfel des Grauens, eine Maschine könnte ihn gemacht haben, kein Mensch.
2. Blick
Der zweite Blick schließt an die Eröffnungssequenz an und ist sicherlich der virtuoseste im Film. Es handelt sich um den Point-of-View des Mörders selbst. Als Laurie und der kleine Junge, auf den sie am Abend aufpasst vor dem ehemaligen Haus der Myers stehen, blickt die Kamera aus dem Inneren des Hauses auf die beiden. Dann fährt die Kamera langsam zurück und offenbart die Schulter des Mörders im Schatten des verlassenen Hauses. Wir erfahren, dass der Blick aus dem inneren des Hauses sein Blick gewesen ist. Begleitet wird diese Einstellung immer mit dem Atmen von Myers. Sie wird sehr häufig wiederholt.
3. Blick
Der dritte Blick ist jener, der Laurie und ihre Freundinnen beobachtet. Hier gibt es die Erwartungshaltung des Off-Screens, dramaturgische Fatalitäten und vor allem-und das ist zugleich die Überleitung zum zweiten System-den Bildhintergrund. Der Bildhintergrund hat hier immer eine ironische Komponente. Es ist erstaunlich, dass wir uns in den Einstellungen in denen Myers in der Tiefe des Bildes auftaucht (manchmal wird er gar nur abgeschwenkt, was einen besonders effektvollen Schauder erzielt), mehr mit ihm verbinden können als in jenen, wenn wir durch seine Augen blicken. Es ist fast entspannend, wenn man ihn sieht. Die Einstellungen aus seiner Sicht dagegen behalten etwas Essentielles und Beunruhigendes im Off-Screen, nämlich seine Erscheinung, um die eigentlich den ganzen Film ein großes Geheimnis gemacht wird. Müssen wir sehen, um uns wohl zu fühlen? Ich glaube die Wahrheit liegt im Dazwischen. Wenn wir nur erahnen, nur Fetzen sehen, dann beginnt der Horror. Kamerabewegungen, Montage, Kameraperspektive, Licht und Schatten, alles in Halloween arbeitet mit diesem Wissen, der Film kann und will sich nicht für etwas anderes interessieren als den nächsten Schock. Besonders ironisch gelingt Carpenter ein solcher Moment im Bildhintergrund als er uns mal wieder sehen lässt, was die Figuren nicht sehen. So könnte der Psychiater den Mörder schon viel früher finden, wenn er sich nur im richtigen Moment an einer Straßenkreuzung umdrehen würde.
Das zweite System unterscheidet sich zunächst einmal dramaturgisch vom ersten, denn irgendwann wird der Mörder auch zuschlagen. Daher entspricht dieses System einer Wellenbewegung, wogegen das erste System eine ansteigende Gerade war. Der zweite Blick bleibt genauso bestehen und der dritte Blick wird gar noch entscheidender, denn nun wird der Off-Screen tatsächlich zum On-Screen und unsere Befürchtungen werden begleitet von dieser eintönigen Klimpermusik und einem lauten, musikalischen Schockeinsatz. Es kommt genau ein neuer Blick dazu, der für sich schon die Einfallslosigkeit des Films deutlich macht. (aber wen interessiert das, wenn man gar nicht mehr hinsehen will? Der 5. Blick wäre daher der Blick, der sich bei manchen Zusehern von der Leinwand löst…)
4. Blick
Dabei geht es um den Blick der Abartigkeit. Dieser stellt das Böse selbst aus, das Unfassbare, das Psychopathische, das wir nicht verstehen können, auch wenn wir es sehen. So beobachten wir wie der Mörder neugierig ein Opfer betrachtet, das er mit seinem Messer in die Wand genagelt hat oder wir sehen durch die Augen von Laurie die Leichen in einem Zimmer. Zusammen mit einer Art übersinnlichen Ungreifbarkeit des Mörders, die sich immer wieder in den wie von magischer Hand zugehenden Türen, die es auch in Profondo Rosso gibt, äußert und einer völlig aus dem Kontext geworfenen Dummheit der Figuren entsteht so kein Film, sondern eine Serie von Schocker-Clips und Überwältigungen, die eine eigene Form von Spaß bringen sollen, den man wohl am ehesten mit Freizeitparkattraktionen vergleichen kann. Wie bei einer besonders gefährlichen Attraktion lebt man dabei die ganze Zeit in Angst bis es sich auflöst und man eine Art freudiges Echo eines Adrenalinkicks verspürt.
Das Problem an dieser Strategie ist neben ihrer schnellen Abnutzung und ihrer manipulativen Haltung vor allem, dass sie den Blick beengt. Damit meine ich, dass man diese Filme nicht sieht. Vielmehr wird man mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert, der Film hebt die ganze Zeit einen Spiegel vor das Publikum, der ihnen das gibt, was sie nicht sehen wollen, aber doch erwarten. Aber er zeigt ihnen nichts, was sie nicht erwartet haben, kein wirklicher Horror des Unvorstellbaren, keine Fantastik, keine wirkliche Überraschung. Er zeigt ihnen keine Figuren, kein Leben, keine Welt, alles findet im Kopf statt. Manche würden Halloween diese Eigenschaften als Qualität anerkennen, dann aber nur, weil sie sich selbst wichtiger nehmen als den Film.
Anders sieht es da bei Argento aus, denn in seinem Profondo Rosso werden ähnliche Blickstrukturen weitaus virtuoser initiiert und vor allem mit Raumkonstruktionen und einer Bilderflut an Motiven verbunden. Wie in vielen seiner Filme von seinem Debut L’uccello dalle piume di cristallo an wird ganz in Hitchcock-Manier eine außenstehende Person in ein Verbrechen involviert. Im Gegensatz zu Hitchcock begnügen sich diese Männer aber nicht mit dem Fetisch des Blicks und des Wissens, sondern es scheint auch immer um das Berühren zu gehen. Argento betont das mit Nahaufnahmen von Händen, Gesichtern und Augen. Er lässt seine Figuren Gegenstände berühren und macht seine Welt spürbar. Dadurch wird auch der Horror deutlich spürbarer. Der Pianist Marcus Daly (David Hemmings) wird Zeuge eines Mordes und beginnt zusammen mit seiner On-Off Freundin, der Journalistin Gianna die Stücke des Falls zusammenzusetzen. Natürlich werden sie auch selbst zum Ziel des Täters. Es ist dies eine klassische Krimihandlung, die Argento-und damit komme ich zu meinen einleitenden Gedanken zurück-wie Musik komponiert. Im Gegensatz zum deutlich wilderen Suspiria, bei dem ich jene Wellenbewegungen, die auf Schocks hinarbeiten unter dem ganzen Wirrwarr aus visueller Reizüberflutung sehr stark spürte, scheint Argento hier rhythmisch an ganz anderen Dingen interessiert zu sein. Dabei ist er eben ein Filmemacher wie Tarantino, der nicht wirklich am Leben selbst interessiert zu sein scheint, sondern dessen Leben Film ist. Um sich nicht in Redundanz zu verlieren, bedarf es daher einer möglichst großen Überwältigungsstrategie, dem von mir angeprangerten Augenzwinkermodus, der sich selbst über den Film stellt und ein technisches Geschick, das über sich selbst hinausweist. Argento ist selbst ein Pianist, der mit den Motiven des Giallos spielt und sie nur im Bezug zum Kino ernst nimmt. Er will keine wirklich psychologisch motivierte Handlung erzählen, er mag nur wie diese in Film getaucht wirkt und aussieht, wie sie klingt. Wie Tarantino macht er Fanfilme. Da Argento aber scheinbar keine Dialoge inszenieren kann, muss er sich anderweitig helfen. So spielt er mit den Motiven des Kindheitstraumas ohne sich jemals darin zu involvieren: Der Flashback am Ende, das ständig in Verbindung mit den Morden auftauchende Lied, das diegetische und non-diegetische Musik verbindet, die Zeichnung, die als Spur dient und kinderhafte Züge trägt, die Puppen, deren Köpfe rollen werden, das junge, etwas unheimliche Mädchen, das Daly zur Geistervilla bringen wird und wer will (ich nicht) vermag auch im Mord an Gianna eine psychologische Thematik der Kinderlosigkeit interpretieren. Schließlich begnügt sich der sonst nicht mit Effekt geizende Argento bei ihr mit einem einfachen Messer im Bauch. Es gibt noch mehr solche Motive, die ein Puzzle kreieren, dessen Auflösung sich wie ein Daumenkino zusammenschließt. Wie ein Daumenkino, weil es unheimlich schnell geht und man die Blicke, die bei Carpenter so deutlich getrennt werden können, bei Argento kaum mehr sieht und weil sie nicht mehr nur auf den bloßen manipulativen Schockeffekt zielen, sondern auf eine Schönheit des filmischen Horrors. Argento drückt seine Liebe zu einer bestimmten Form des Kinos aus. Er bezweifelt gleichzeitig die Relevanz einer solchen psychologischen Leseart als er Daly sagen lässt, dass der wahre Grund dafür, dass er Pianist sei nicht in einer Verarbeitung eines Kindheitstraumas läge, sondern schlicht weil er Musik liebe. Es wirkt so als könnte Argento das über sein eigenes Schaffen gesagt haben. Sinnentleerte Obsessionen?
Mehr noch ist Profondo Rosso ein Film über das Gedächtnis, das sich wie die Räume im Film durch Montagen und Eindrücke, durch Fahrten und Licht im Schatten bewegt. Zwar hatte er den Weg der Erinnerung in seinem L’uccello dalle piume di cristallo deutlich intensiver und dringlicher, mit sprunghaften Fetzen von Flashbacks, die wie die Messer in seinen Filmen auf die Zuschauer prasseln, gestaltet, in Profondo Rosso vermag er es aber seine Bilder mit dem Gedächtnis der Figur zu verbinden. So erschließt er zum einen die Räume in einer ähnlichen Art und Weise wie Daly sein Gedächtnis erschließen muss, um die Wahrheit zu erkennen. Es gibt Fahrten durch die Korridore, schnelle Schnitte von Fassadenbildern, Ransprünge, plötzliche Totalen und eben die ständigen Blickwechsel, die nicht nur auf eine Bedrohung, sondern auch auf eine Suche nach der Wahrheit hindeuten. So wird hier wie in Halloween mit dem hors-champs und dem Point-of-View des unbekannten Mörders gespielt, aber neben der Spannung, die diese erzeugen, involvieren sie uns auch in der Suche nach der Wahrheit. Wem gehört dieses Flüstern? Was haben wir gesehen? Warum haben wir nicht hingesehen? Warum verstehen wir nicht? Und die Räume verbergen Dinge vor uns wie unsere Erinnerung.
So verbirgt sich immer wieder eine weitere Ebene hinter den Oberflächen und Fassaden. Daly entdeckt die gesuchte Zeichnung hinter dem Putz einer Wand und er entdeckt sie nicht mal völlig, er schlägt mit einem Hammer durch eine Wand, um Räume zu entdecken, ein Opfer versucht mit ihren Fingern, eine Botschaft auf den von der schwülen Feuchtigkeit des Badezimmers angelaufenen Fließen zu hinterlassen, die nur sichtbar werden, wenn man im Badezimmer eine ähnliche Feuchtigkeit und Temperatur erzeugt, ganz so wie ein Madeleine-Moment bei Proust, nur auf eine raumbezogene Bildsprache übertragen. Außerdem gibt es ständig Fenster und Jalousien, Räume bestehen auch aus ihrer Kehrseite, dem oben, dem unten und dem weit entfernt. Ähnlich verhält es sich mit der Erinnerung an den Mord. Sie ist überall und dadurch hat Daly und hat auch der Zuseher das Gefühl, etwas Entscheidendes zu übersehen. Spiegel, Gemälde und die kinematographische Realität verbinden sich so in der Schlusssequenz zu einem Bilderreigen des Horrors, der stets in sich gefangen bleibt, nichts an sich heranlässt, aber im Fall von Profondo Rosso eine cineastische Eleganz aufweist, ein Gefühl für Bilder, Rhythmus, der einen nicht beschießt, sondern schauen lässt, der einem die Lust am Sehen schenkt und somit Bilder macht, die wie Musik erklingen.
Abschließend könnte man noch auf die Bedeutung der Bewaffnung im Horrorfilm eingehen. Das Screening von Halloween und Profondo Rosso hintereinander legt das nahe, da beide Filme ihre Opfer mit langen Stricknadeln zur Verteidigung ausrüsten. Die Frage nach der Bewaffnung ist trotz ihrer scheinbaren Absurdität von hoher Relevanz, da sie letztlich mit der Körperlichkeit, Abartigkeit, Isolation und auch mit den Blicken und dem Off-Screen eines Films zu tun haben. Es ist klar, dass wenn sich eine Figur mit einer Stricknadel bewaffnet, dass sie dem Bösen, dem Schockierenden, dem Gefährlichen sehr nahe kommen muss, um sich zu wehren. Eine Stricknadel impliziert auch ein Verharren, ein Warten, man wird kaum mit dieser Waffe auf einen Gegner losrennen, man muss ihn überraschen. (ähnliches gilt für das Messer, das in beiden Filmen viel häufiger schneidende Auftritte bekommt…) Argento scheint sowieso mehr Zeit damit zu verbringen, sich zu überlegen wie schön und gewaltvoll, wie verrückt ein Mord geschehen könnte, als ob dieser Sinn macht. Das Gute daran ist, dass er dies vor allem deshalb tut, um seinen aufgesetzten Horror mit Körperlichkeit zu bestücken, die ihn greifbarer macht. Das, was hängen bleibt, also unser Gedächtnis, die Bilder, die einen nicht verlassen, sind natürlich bei jedem Zuseher unterschiedlich. Aber es ist klar, dass es bei Argento oft jene Momente des Horrors selbst sind wie ein besonders blutiger Tod oder das plötzliche hereinfahren einer Puppe und bei Carpenter einzig die Erwartung an den Horror.