Land of the Dead: Change your Face!

Les yeux sans visage Edith Scob

In einem Horrorfilm verlieren die Protagonisten oft ihr Gesicht. Ihr Vater ist Frankenstein und ihre Mutter ist Christiane Génessier, also Edith Scob in Les yeux sans visage. Sie waren kein glückliches Paar, ihre Kinder sind entstellt. Innerhalb der Land of the Dead Schau im Österreichischen Filmmuseum sehen wir sie und auch außerhalb. Nicht wirklich, aber etwas von ihnen.

1.Operation

Les yeux sans visage von Georges Franju

Der Traum von vielen Menschen. Man verändert sein Gesicht. Lasst uns nur an Time von Kim Ki-duk denken, indem die Protagonistin Angst davor hat, dass ihr Partner sie für eine jüngere Frau verlässt und sich deshalb ein neues, jugendliches Gesicht transplantieren lässt. Was sie nicht bedenkt ist, dass sie zum einen dafür sehr lange verschwinden muss und er sie zum anderen nicht mehr erkennen wird. In Frankenstein Must Be Destroyed von Terence Fisher muss der Körper und damit auch das Gesicht gewechselt werden, um das Gehirn am Leben zu halten. Die Moral ist, dass das keine Moral hat. Der Operationstisch selbst als Anstoß des Ekels. Es wird klar, was für eine solche Operation notwendig ist: Blut und schmutzige Hände. Es ist nicht der Laser und die Melodie wie in Mission: Impossible, sondern es ist das Berühren, das Verändern selbst, was uns Angst macht. Das fehlende Vertrauen in das Gesicht eines Menschen kommt erst später. John Woo, der neben Mission: Impossible II auch in Face/Off über die Verwirrungen eines vertauschten Gesichts nachdachte, ignoriert den Schmerz der Operation zugunsten einer ernsthaften Verwechslungskomödie, die natürlich auch unter fast jedem Horrorfilm lauert. Es gibt hier einige Aspekte des Horrors: Das Eingreifen von einer fremden Person in die eigene Oberfläche, das Sicht-Nicht-Wiedererkennen, die Entstellung, der moralische Horror. Charlie Chaplin konnte gar nicht genug bekommen von diesem Horror. So wird er in The Idle Class für einen anderen gehalten während der andere in einer Ritterrüstung gefangen ist, in A King in New York unterzieht sich der High-Society Exil-Politiker einer Schönheitsoperation, die seine Werbekarriere antreiben soll, um in einen Schock zu verfallen, ob dseiner misslungenen Nase. Chaplin lässt immer wieder Menschen erschrecken, wenn sie seine Figur sehen. Und dann war da noch das Ende von City Lights, das diesen Horror benutzt und exakt in sein Gegenteil verkehrt. Die Operation findet hier nicht am Gesicht statt sondern an den Augen der Betrachterin. Und der Moment des Erkennens bleibt einer der traurigsten und schönsten der Filmgeschichte. In Frankenstein Must Be Destroyed versteckt sich der, in einem anderen Körper existierende Ehemann vor seiner Frau. Er spricht mit ihr, aber sie darf ihn nicht sehen. In diesem Moment des Nicht-Sehen-Dürfens liegt ein großes Spannungsmoment, weil der Nicht-Blick voller Begehren ist. Wie der Blick durch das Schlüsselloch, selbst wenn man weiß, dass dahinter der Horror lauert. Sei es in Form eines Spiegels oder in Form des Verstellten, Unerkennbaren.

2. Deformation

Les yeux sans visage Edith Scob

Häufig eine Folge von Operationen, aber auch von Unfällen, Gewalttaten, Krankheiten oder sonstigen unerklärlichen Gründen sind die Deformationen in den Gesichtern des Horrors. Man denke nur an die Hautflecken, Zähne und schiefen Blicke der netten Familie in The Texas Chainsaw Massacre. Oder an die sich nach und nach vollziehende Verwandlung des Wissenschaftlers in David Cronenbergs The Fly. Hier scheinen die Körper stärker zu sein als die Seelen, wenn es diese gibt. Eine solche Deformation löst zugleich Neugier und Ekel in uns aus. Wir wollen nicht hinsehen, aber wir tun es doch. Nicht umsonst heißt Alejandro Amenábars Gesichtsentstellungs-Verwandlungs-Traum-Fantastik Abre los ojos; das unerträgliche Sein des Selbst, wie kommt man mit seinem Gesicht zurecht, wenn man plötzlich aussieht wie eine Fliege? Wenn man die Augen nicht öffnet wie in Nicolas Roegs Don’t Look Now könnte einem die Deformation eines falschen Traums durch alle Glieder fahren. Das rote Mädchen, das vielleicht der Geist der Tochter ist, hat ein anderes Gesicht in den Gassen von Venedig. Eines der Probleme, die ich mit dem Genre habe, ist dass es ganz selten subtil zugeht bei Deformationen. Es scheint dieses ungeschriebene Gesetz zu geben, dass man mit möglichst abartigen Entstellungen aufwarten muss und diese mit Kamera und Schnitt auch möglichst deutlich ins Gesicht der Zuschauer (sollten diese ihres noch besitzen) schleudert. Spannender hat sich da George A. Romero der Thematik in seinem Night of the Living Dead genähert. Denn hier liegt in der Deformation nicht nur ein Ekel, sondern auch zugleich eine Verunsicherung und eine Schönheit. Die Verunsicherung kommt daher, weil sich die Untoten nicht so sehr von den Menschen unterscheiden, auch wenn man sie mit einem Blick zu erkennen glaubt. Neben dem Ende bietet auch die Eröffnungssequenz am Friedhof ein Beispiel dafür. Die Schönheit der Entstellung liegt in ihrer Einsamkeit. Das ist zwar eine alte Oscargewiner-Formel, aber bei Romero ist sie von Vertrauen in die Wahrnehmung des Zusehers beseelt. Keiner sagt uns, dass die Untoten schön sind, wir können es ganz einfach hören. Diese Deformationen hängen natürlich oft am Prinzip des Body-Horrors, aber dass ein solcher Gesichtsverlust auch einer existentialistischen Krise gleich aus einer inneren Veränderung in der Haltung gegenüber Leben und Sterben entstehen kann, zeigt das Vampirgenre, das mit Near Dark von Kathryn Bigelow oder Only Lovers Left Alive von Jim Jarmusch romantisch-melancholisches Bedauern über die eigene Deformation mit sich trägt, auch wenn in letzterem eine abgeklärte Distanz zum Ganzen mitschwingt. Die Verbrennungen, die die Vampire bei Bigelow im Tageslicht erleiden, kommen nicht von der Sonne sondern von einer Veränderung in der Seele der Figuren. Es ist äußerst schade, dass die Regisseurin diese Tatsache in ihrem testosterongesteuerten Actionspektakel im letzten Drittel ignoriert. Jarmusch ist da cooler mit seinen Sonnenbrillen in der Nacht, aber er redet auch sehr gerne über Popkultur. Was bleibt sind die sich verwandelnden Augen von Amy Adams in The Master von Paul Thomas Anderson. Vor allem deshalb, weil der Horror hier ein unkommentierter Albtraum der Realität bleibt.

3. Masken und Verkleidungen

Les yeux sans visage Georges Franju

Eine Möglichkeit des Horrors ist die Verweigerung. Zum einen, weil die Verweigerung selbst schon voller Horror sein kann, zum anderen, weil ein versteckter Horror unserer Imagination freien Lauf lässt und alles, was darstellbar ist, übertrifft. Bezüglich der verlorenen Gesichter des Horrors dienen Masken und Verkleidungen immer wieder als Strategien der Verweigerung. The Devil in Disguise… Sie können besonders angsteinflößend gewählt sein wie jene Masken von Leatherface in The Texas Chainsaw Massacre oder jene von Michael Myers in Halloween. Manchmal ist es auch nur die Überraschung einer Maske, die den Horror auslöst so wie in Cuadecuc, vampir von Pere Portabella. So ist der Anblick der entblößten Illusion in den falschen Augen von Christopher Lee schon selbst wieder eine Illusion, ein Grauen. Es geht dabei um die Verkleidung des Horrors in ein Kleid des Horrors. Natürlich macht es uns auch Angst, wenn sich der Horror unter einer süßen Haut verborgen hält, hinter einer Unschuld wie das vor allem in ¿Quién puede matar a un niño? durchexerziert wird. Der Anblick lächelnder Kinder kann uns hier kein Vertrauen mehr geben. Unsere Wahrnehmung wird gestört. Die Maske des Horrors ist flexibel. Die Verweigerung und Maskierung des Horrors betrifft natürlich auch die Filme selbst. So werden erste Schocks oft sehr lange hinausgezögert und die tatsächliche Begegnung mit dem Horror immer wieder nur angedeutet. Der Off-Screen ist eine Maske für das Gesicht des Genres. Dabei ist es wichtig, dass immer wieder Andeutungen gemacht werden, dass man beispielsweise die Augen unter der Maske und Verkleidung erkennt.

Damit ist das Horrorgenre ein Genre der Identifikationskrise. Wir können den Gesichtern nicht trauen und damit können wir auch dem Kino nicht trauen. Unsere Blicke werden getäuscht, die Logik der Gesichter wird sich auflösen. Emotionen verschwinden oder werden überdeutlich, das Innere kehrt sich nach Außen. Ein Außenseitergenre, weil es von jenen Menschen spricht, die kein Gesicht haben oder es verloren haben. Ein Genre des verlorenen Vertrauens.

Mädchen und Häuser: Eine Krankheitsgeschichte

Ana in El espíritu de la colmena

Die vier Filme, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen werde stellen keine definitive Auswahl dar. Sujets wie alte Häuser und hilflose Mädchen sind dem Horrorgenre alles andere als fremd (wie man an den Beiträgen zur Horror-Retrospektive hier am Blog leicht erkennen kann). Dieser Text ist ein Vorschlag, welche Beziehungen zwischen den einzelnen Filmen man ziehen kann und ganz bewusst handelt es sich bei zumindest drei der vier Filme um keine Vertreter des Horrorgenres (wenngleich sie alle Aspekte des Genres beinhalten). Wenn man so will ist der Text eine Anamnese eines jungen Mädchens, das in verschiedenen Altersstufen (und die vier Rollen lassen sich rein altersmäßig in etwa chronologisch ordnen) verschiedene Ausprägungen mentaler Probleme erlebt.

Angelos umgebauter "Prunksaal" in Tras el Cristal

Tras el Cristal

Spanien, 1940. In honigfarbenem Licht erstrahlen die Hallen des Herrenhauses in dem die sechsjährige Ana lebt. Im kastilischen Hinterland lebt sie mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Isabel, noch zu jung um vollends zu verstehen was in ihrem Land gerade vor sich geht. In El espíritu de la colmena, noch zu Lebzeiten des Diktators Francisco Franco entstanden, widmet sich Regisseur Víctor Erice der Psyche dieses kleinen Mädchens und erzählt gleichsam parabelhaft vom Horror des Lebens unter einem faschistischen Regime. El espíritu de la colmena ist nicht nur einer der schönsten Filme der Kinogeschichte, sondern lässt sich auch nahtlos in eine ganze Reihe anderer Filme einordnen, die Beziehungen zwischen kleinen Mädchen und ominösen Vaterfiguren in mysteriösen alten Gemäuern verhandeln. Anhand von vier Beispielen will ich eine Genealogie von Filmen dieser Art ziehen, die sich wohl ohne weiteres noch durch dutzende andere Filme erweitern ließe. Erices modernes Gruselmärchen dient mir dabei als Ausgangspunkt. Der Spanier, dessen Gesamtwerk leider nur drei abendfüllende Spielfilme umfasst, hat eine besondere Beziehung zu Gebäuden als Orten. In allen seiner Filme spielt das Haus als mystischer Ort und die Beziehung zu seinen Bewohnern eine wichtige Rolle. Im Nachfolgefilm und Gegenstück zu El espíritu de la colmena, dem formidablen El Sur zieht eine spanische Familie in den Süden, in die Heimat des Vaters, wo im Verlauf des Films die Dynamiken zwischen Vater, Haus und Tochter ergründet werden. In El Sol del Membrillo zeigt Erice den Maler Antonio López Garcia dabei wie er versucht den Quittenbaum in seinem Garten zu zeichnen während Bauarbeiter sein Haus renovieren. In Erice Segment des Omnibusfilms Centro Histórico lässt er ehemalige Fabrikarbeiter in einer stillgelegten Textilfabrik über die Vergangenheit dieses Orts sinnieren, in La Morte Rouge sinniert er selbst über seine eigenen Anfänge als Kinogänger. Selbst in Alumbramiento, Erices Beitrag zu Ten Minutes Older: The Trumpet spielt eine Familie und ihr Haus eine wichtige Rolle. In keinem dieser Filme aber, wird das Haus so lebendig wie in El espíritu de la colmena.

Ana im honigfarbenen Licht von El espíritu de la colmena

El espíritu de la colmena

Anders als in den anderen Beispielen, die ich noch anführen werde ist das Haus hier noch ein Ort von Geborgenheit, von Wärme, eine sichere Zuflucht vor den eisigen Winden der kastilischen Hochebene. Wie der Name des Films schon andeutet, und was visuell durch Licht und Szenenbild noch verdeutlicht wird, bedient der Film die Metapher des Bienenstocks. Im Haus ist Ana sicher, dort kann ihr nichts passieren, nur wenn sie das Haus verlässt, um ins Kino, in die Schule – oder später – zu einem verlassenen Bauernhof zu gehen, gibt sie sich der Gefahr preis. Wobei von Gefahr im engeren Sinne eigentlich kaum die Rede sein kann; echtem Horror, echtem Schrecken und echter Gefahr wird die Tochter aus gutem Haus nie tatsächlich ausgesetzt. In ihrer Fantasie jedoch, inspiriert durch James Whales Frankenstein, sieht sich Ana einem Monster Frankenstein’scher Prägung ausgesetzt. Der Horror, wenn man überhaupt davon sprechen will, denn El espíritu de la colmena ist kein Horrorfilm im engeren Sinne, spielt sich auf einer rein subjektiven, psychologischen Ebene ab. Erice präsentiert die Welt zwar aus der Perspektive des Mädchens, abgesehen von einer ikonischen Szene, blicken wir allerdings nie tatsächlich durch ihre Augen. Wie sehr sie sich fürchtet – oder auch nicht – können wir also stets nur an ihren Reaktionen zu ihrer Umwelt erkennen, da uns der Blick in „ihre Welt“ verwehrt bleibt.

Ivana Baquero als Ofelia in El laberinto del fauno

El laberinto del fauno

Anders verfährt der Mexikaner Guillermo del Toro in El laberinto del fauno. Del Toro, der El espíritu de la colmena als Inspiration für seinen Film angegeben hat, hat ein beträchtlich höheres Budget zur Verfügung als Erice und zaubert in bester del Toro-Manier eine grandiose Fantasiewelt auf die Leinwand. Unabhängig einer möglichen Wertung, ob es besser sei eine Fantasiewelt bloß anzudeuten und die Imagination des Publikums zu testen oder sie voll ausgearbeitet zu präsentieren, stellt El laberinto del fauno eine Weiterentwicklung zu El espíritu de la colmena dar. Die Protagonistin Ofelia, ein paar Jahre älter als Ana aus El espíritu de la colmena zieht zu ihrem neuen Stiefvater, dem franquistischen Hauptmann Vidal, in ein altes Herrenhaus, das ihm als Hauptquartier auf einer Expedition gegen anti-faschistische Partisanen dient. Der Film entstand dreißig Jahre nach dem Untergang des franquistischen Regimes und demgemäß muss del Toro sich keiner Parabeln bedienen um den Schrecken des faschistischen Apparats zu bebildern. Blutig und grausam wird gemordet und gefoltert – all das vor den Augen von Ofelia, die sich schon bald in eine Fantasiewelt flüchtet. In einem verfallenen Labyrinth neben dem Haus findet sie eine Welt voller fantastischer Kreaturen vor. Diese Fantasiewelt und ihre Bewohner sind dank Computeranimation, Make-Up und Animatronic in voller Pracht auf der Leinwand zu sehen. In El laberinto del fauno wird der Blick auf die Leinwand ein Blick durch Ofelias Augen. Mit dieser Entscheidung zeigt del Toro einerseits mehr, andererseits verschließt er sich dem viel realeren Horror außerhalb von Ofelias Fantasiewelt. Die Bebilderung der Grausamkeiten der franquistischen Truppen wird durch die Einblicke in Ofelias Welt verdrängt. Der Horror wird hier also gleichsam realer (weil visuell fassbar), wie irrealer (weil dem Blick der Horror der realen Welt vorenthalten wird).

Das Haus in Tideland

Tideland

Terry Gilliams Tideland, das einzige nicht-spanischsprachige Beispiel in meiner Aufzählung, mag da wie ein Rückschritt anmuten. Tideland ist der bis dato wohl makaberste Film des exzentrischen Filmemachers (und das will was heißen) und das obwohl er weitaus weniger Spezialeffekte einsetzt als in den meisten anderen seiner Filme und Tideland dementsprechend billiger produziert werden konnte. Tatsächlich entstand der Film während des Streits mit den Weinstein Brüdern über die Post-Production von Gilliams früherem Projekt The Brothers Grimm, der schlussendlich erst nach Tideland ins Kino kam und wurde insgesamt wenig beachtet. Wenn der Film mehr Beachtung gefunden hätte, wäre womöglich die Rezeption von El laberinto del fauno anders verlaufen, denn die vielgepriesene düstere und makabre Atmosphäre der Märchenvariation del Toros wird durch Tideland noch übertroffen. Um diesen Effekt zu erzielen geht Gilliam wiederum auf Distanz. In einem heruntergekommenen Haus stirbt die Mutter von Jeliza-Rose. Sie war genauso wie der Vater Noah drogenabhängig. Um nicht wegen Drogenbesitzes verhaftet zu werden flieht Noah mit Jeliza-Rose in sein verfallenes Elternhaus nach Texas. Dort angekommen setzt er sich ungewollt den „Goldenen Schuss“ und lässt seine Tochter auf sich allein gestellt zurück. Sitzend auf seinem Lehnstuhl wird Noah im weiteren Verlauf des Films zur Requisite, denn Jeliza-Rose, an längere mentale Abwesenheit der Eltern gewöhnt, lebt einfach an der Seite ihres langsam verwesenden Vaters vor sich hin. Es zeigt sich eine tiefe pathologische Störung in der Psyche des Mädchens, der man als Zuseher erst nach einiger Zeit gewahr wird. Dann nämlich wenn sie beginnt mit ihren Puppen, ihrem toten Vater und den Tieren im Garten zu interagieren. Gilliam verwehrt seinem Publikum jedoch den Blick in diese Fantasiewelt und nimmt die Position des Beobachters ein, verzichtet also wie Erice auf den Blick durch die Augen der Protagonistin. Das Resultat ist trotzdem, oder vielleicht genau deshalb, umso bedrückender und umso makabrer. Nicht immer kann man klar unterscheiden ob sie in ihren Spielen in der realen Welt oder in der Fantasiewelt weilt, ebenso verhält es sich mit den Gesprächen mit dem halb-verrückten Geschwisterpaar der Nachbarsranch. Hier entstammt der makabre Schauer dem Umstand, dass man die realen Vorgänge zu sehen bekommt, aber nicht die eskapistische Fantasiewelt, also genau umgekehrt wie in El laberinto del fauno.

Angelo und der Doktor in Tras el Cristal

Tras el Cristal

Abschließend, und dieser Film war eigentlich der Ausgangspunkt meiner Überlegungen, will ich mich Agustí Villarongas Tras el Cristal zuwenden. Von allen vier Filmen ist Tras el Cristal der einzige, der sich relativ problemlos im Horrorgenre einordnen lässt. Der Katalane Villaronga erzählt darin von einem sadistischen Nazi-Doktor, der im Krieg Experimente an Kindern durchführte und nun nach einem Unfall an eine Eiserne Lunge gefesselt ist und als Pfleger eines seiner ehemaligen Opfer anstellt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht aber weder der Doktor, noch seine Tochter, sondern der Pfleger Angelo, der langsam wahnsinnig wird. Zunächst scheint es so als hätte der junge Mann das Trauma seiner Kindheit überwunden und will bloß Rache an seinem früheren Peiniger üben. Mit der Zeit stellt sich aber heraus, dass der Doktor in Wahrheit eine anziehende Wirkung auf Angelo ausübt. Diese Anziehungskraft geht so weit, dass Angelo den Platz des Doktors einnehmen will. Er kleidet sich in dessen alte Uniformen, rezitiert aus seinem Tagebuch und stellt schließlich sogar die Gräueltaten des Doktors mit Kindern aus dem Dorf nach. Visuell schreckt Villaronga nicht davor zurück diese Kindermorde (und die dazugehörigen pädophilen Spiele) sehr grafisch zu bebildern. Gleichzeitig baut Angelo, nachdem er die Mutter getötet hat, das Haus der Familie zu einer pervertierten Festung um. Irgendwann erkennt der Doktor, dass dieses Spiel nur mit seinem Tod enden kann und endlich rät er seiner Tochter Rena zur Flucht. Doch die Flucht misslingt – Rena ist bereits Teil des Spiels – sie unterliegt der Anziehungskraft des charismatischen Angelos und wird schließlich sein Nachfolger. Bei Tras el Cristal handelt es nicht um eine trashige Nazi-Klamotte, sondern um eine Studie psychischen Verfalls. Dieser Verfall betrifft in diesem Fall in erster Linie nicht das Mädchen selbst, wie in den anderen Filmen, sondern den Pfleger Angelo. Renas Probleme treten erst nach einiger Zeit zu Tage – trotz eindeutiger Hinweise, dass Angelo die Mutter getötet hat, mehrere junge Buben verschleppt und den Vater dahinvegetieren lässt, bleibt sie im Haus, das zunehmend zu einem Ort des Schreckens wird (nicht bloß metaphorisch, sondern durch Angelos Umbauten auch visuell). Sie verzichtet, womöglich aus Bewunderung für Angelo oder weil sie sich von ihm sexuell angezogen fühlt, darauf zu fliehen oder Alarm zu schlagen und verbleibt an seiner Seite. In Tras el Cristal sind die beiden Ebenen der Fantasiewelt und realen Welt nun nicht mehr zu trennen. Angelo baut sich seine Fantasiewelt in realiter nach, stellt die Szenen seiner Erinnerung und seiner Vorstellung im echten Leben nach. Der Wahnsinn nimmt überhand und wird zum konstitutiven Prinzip des Films – visuell wie psychologisch.

Land of the Dead: The Fly von David Cronenberg

The Fly:Seth Brundle, ein Wissenschaftler, ein bisschen nerdig, lustig, besessen (Jeff Goldblum at his prime) entwickelt ein Verfahren zur Teleportation. Er lernt die Journalistin Veronica kennen, die er eigentlich für sich faszninieren will, aber gleichsam für sein Projekt begeistert. Er treibt es immer weiter mit seinen Versuchen und nach ersten Erfolgen setzt er sich selbst, betrunken ob Liebeskummer in seine eiförmigen Maschinen und bemerkt nicht, dass mit ihm eine Fliege in die Kammer geraten ist. Es kommt zu einer Fusion von Mensch und Fliege. Zunächst merkt Seth das kaum, aber mehr und mehr entwickelt er erstaunliche Fähigkeiten und Kräfte (im Peter Parker Modus) und schließlich kommt die Fliege aus ihm heraus, er wird immer mehr zum Insekt. In einem spannenden Perspektivwechsel, der gleichsam dem Zuseher und Veronika gilt, muss diese sich nun fragen, ob sie in der Fliege den Menschen sieht oder ob sie im Menschen eine Fliege sieht. Cronenberg erzählt diese Geschichte, die von Charles Edward Pogues Drehbuch sehr konventionell aufgebaut wird, mit einem besonderen Blick auf sexuelle Ängste, die natürlich in den 1980er Jahren auf ein besonders lautes gesellschaftliches Echo stießen, den Horror, der in einem selbst erwacht und Fragen nach Menschlichkeit, Schicksal und allem was man so an großen Themen abhandeln kann in SciFi-Horror-Filmen.

La méthode Cronenberg sucht immer das Merkwürdige und Andere im Bild. Seien es Objekte, die man im ersten Moment unerklärlich findet, Einstellungen, welche die kinematographische Realität deformieren oder unerwartete Bewegungen, die aus den Körpern und Körperlichkeiten der Protagonisten entstehen und oft in Schocks enden. In diesem Sinn ist Cronenberg sicherlich einer der definitiven Horrorregisseure. Dabei bedient er sich in The Fly sämtlicher Konventionen der kommerziellen Filmsprache. Seine Figuren existieren nicht über die zwei Relationen, die ihnen im Film gegeben werden, das Setting besteht rein aus Handlung, jede Bewegung, jeder Schnitt soll etwas erzählen. Besonders stark merkt man das beim unsensiblen Einsatz von Bombast Musik von Howard Shore. Diese versucht, aus jeder kleinen Szene noch irgendeine große Emotion zu kitzeln. Cronenberg lässt seine Figuren die gesamte psychologische Welt im Dialog klären, er löst das mit einfachen Schuss-Gegenschuss Konstellationen auf, die er manchmal mit seiner Vorliebe für Dutch-Angle Perspektiven bricht. Ähnlich wie Veronika kann sich der Zuschauer fragen, ob er lieber im Kommerz die Kunst sucht oder in der Kunst den Kommerz. Es ist dies jedenfalls ein Film, in dem ein Regisseur um seine Individualität kämpft und trotzdem alles dafür tut den Massenmarkt anzusprechen.

Jeff Goldblum in The Fly

Das Individuelle an Cronenbergs Handschrift sind sicher seine Vorliebe für den extremem Body-Horror, die er bis zur Grenze übersteigert und sein trockener Humor, der vor allem in Dialogen mit einem schon total deformierten Seth zum Tragen kommt. Dabei ergibt sich ein Bild, indem Subtilität wenig Platz hat. Denn sowohl Cronenbergs Handschrift als auch die Gesetze des Massenmarkts fordern eine Klarheit und Forciertheit von Themen und Bildern, die oft ein wenig anstrengt. Weitaus frappierender erscheint mir allerdings die Liebesgeschichte im Film. Als ich nach dem Screening gelesen hatte, dass Darstellerin Geena Davis tatsächlich mit Jeff Goldblum verheiratet war, bin ich erschrocken. Denn zwischen den beiden existiert fast keinerlei Zuneigung im Film, man könnte sagen: Die Chemie stimmt nicht. Dabei spreche ich nicht erst von den späten Szenen, die nach dem Muster „Die Nichtssagende und das Biest“ ablaufen könnten sondern sogar von den Szenen, in denen sich die beiden verlieben. Alles wirkt unglaublich steif und aufgesetzt und Cronenbergs Körperlichkeit übt keine Faszination auf die Blicke der Liebenden aus. Es scheint mir oft so als würde sich die Kühle von Cronenberg nicht mit seinen romantischen Beziehungen vertragen. Einzig das von Viggo Mortensen und Maria Bello verkörperte Paar in A History of Violence hat mich bei ihm bislang völlig überzeugt.

“It’s about mortality and the way that we deal with it and try to understand it and philosophies and emotional attitudes that we develop towards it.” Große Ideen, die Herr Cronenberg da hat. Sie finden auch ihren Weg in den Film, denn Cronenberg vermag Bilder zu produzieren, die philosophisch mitdenken während sie vor einem über die Leinwand laufen. Dann gibt es noch eine gelb-blaue Beleuchtung und Special Effects, die auch nach fast 30 Jahren nicht veraltet wirken. Trotz dieser Stärken komme ich nicht umher, dass ich den Kommerz in der Kunst sehe. Als Veronica am Ende mit einem Gewehr vor der Fliege steht und die mitleidserregenden Augen (Peter Jackson was watching) der Kreatur noch einen letzten Hauch Menschlichkeit ausstrahlen, fühle ich nur diesen Mann, der mit aller Macht versucht, dass ich jetzt Mitleid empfinde. Und das schafft er nicht. Denn es ist zu laut für Mitleid.

Die Liebe in The Fly

Land of the Dead: The Ethereal Spirit of Beauty

A Chinese Ghost Story

Immer wieder dreht sich Joey Wong um ihre eigene Achse, ihr Spiel gleicht mehr einem zerschnittenen Tanz, ihre langen Kleider wehen um sie herum, sie zerfließt, denn sie ist ein Geist in A Chinese Ghost Story. Sie versteckt einen Menschen in ihrem Badetrog. Dieser Mensch wird gespielt von einem weiteren Geist des Kinos, Leslie Cheung, der auftauchen muss, um nach Luft zu schnappen. Um ihn wieder unter Wasser zu drücken, lässt sich Joey Wong sanft auf die Lippen des jungen Mannes fallen und drückt ihn mit einem Kuss wieder unter Wasser. Dort hält die Zeit kurz an während rosa Blüten im Wasser nach oben treiben. Es ist dies einer der schönsten Kussszenen, die ich kenne. Die Land of the Dead Reihe wurde in den ersten beiden Filmen, die am Sonntag über die Leinwand flimmerten zu einem Land of Beauty und Land of Innocence. Die beiden Filme A Chinese Ghost Story von Ching Siu-Tun und Venenos para las hadas von Carlos Enrique Taboada verwiesen auf die Wichtigkeit von unberührter Unschuld, Kindlichkeit und Fetisch im Horrogenre.

Veneno para las hadas

Der Kuss in A Chinese Ghost Story taucht im wahrsten Sinne des Wortes an einer Stelle auf, an der man den Kitsch schon gar nicht mehr bemerkt, denn der Film ist voller melodramatischer Überhöhung, mit einem Licht, das unsere Augen mit rosa-weißem Überlicht-Saum umgarnt. Martial-Arts und Comedy Elemente sorgen für völlig überfülltes, kunterbuntes Spektakel des Gruselns, in dem sich außergewöhnliche Bilder mit dem Rhythmus des Kampfsportfilms verbinden. Im Zentrum der Geschichte steht der junge Ling Choi San, ein Tollpatsch vor dem Herrn, der durch sein eigenes Unvermögen und Unglück plötzlich ohne Geld dasteht und in einem verlassenen Tempel übernachten muss. Wer Leslie Cheung kennt, mit Zigaretten vor Spiegeln, kaum merklich zergehend, der wird hier irritiert sein von diesem Comic-Schauspiel, von dieser nerventötenden Ungeschicklichkeit, die vom Film bis zum letzten Klischee ausgefeiert wird. Im Tempel, so sagt man ihm, spukt es. Ihm bleibt nichts anderes übrig und er kämpft sich durch den von Wölfen bevölkerten Wald zum Tempel. Was er nicht weiß ist, dass der Geist in Form einer bildhübschen, sich drehenden Frau erscheint, die Männer verführt, damit sie von ihrer Herrin, einem Baumgeist getötet werden kann. Geist und Mensch werden sich verlieben, ein Taoist bekämpft alle Geister, eine Hochzeit mit dem dunklen Fürsten steht an und auch sonst krabbeln allerhand merkwürdige Gestalten durch den Tempel. Sobald sich Schönheit und Horror verbinden in den Filmen der Land of the Dead-Reihe im Österreichischen Filmmuseum denke ich an zwei Filme: Zum einen La Belle et la Bête von Jean Cocteau und zum anderen Història de la meva mort von Albert Serra. Mit ersterem teilt A Chinese Ghost Story seine Liebe zur Ästhetisierung, Zeitlupen, Nebel und Hände, die aus Wänden greifen. Mit Serra die Schönheit des Gruselns, die vor allem in den Einstellungen der mumienhaften Aschekörper im Dachboden unterstützt wird, genauso einsam und atmend wie jene verlorenen Untoten in Romeros Night of the Living Dead und eben jene Verbindung von Romantik und Tod.

A Chinese Ghost Story2

Eine solche Verbindung ist nicht zuletzt auch in der lateinamerikanischen Literatur häufig anzutreffen. Sex am Friedhof, magischer Realismus. Denkt man auch an die sexuellen Konnotationen des Vampir-Genres, die beispielsweise in der ersten Hälfte von Kathryn Bigelows Near Dark in Syntesizer-Blau magnetisiert werden, dann kann man die Nähe von Versuchung und Bedrohung nicht mehr leugnen. Das Sterben durch das einmalige Leben. So könnte die lange Zunge des Baumgeistes, die durch Häuser läuft, um in die Opfer einzudringen nichts anderes sein als die Zähne eines Vampirs. Die blaue Nacht und die Kleiderfetzen, Schleier, die sehnsüchtigen Augen, ja, an seinen besten Stellen ist A Chinese Ghost Story ein primitiver, fast perverser Blick des Begehrens. Denn dort wo ein Fetisch auf eine Schönheit trifft, kann Horror entstehen.

Wie sehr dieser Horror aus dem Spiel mit der Unschuld seiner Protagonisten hervorgeht, zeigt der mexikanische Veneno para las hadas, der ähnlich wie Guillermo del Toros schwebender El laberinto del fauno den Horror aus Sicht von Kindern zeigt. Die Märchenhaftigkeit des Genres wird hier ausgereizt, denn nicht nur erzählt der Film ein grausames Märchen sondern er erzählt vor allem auch von der Angst vor Märchen. Etwas zu konsequent werden Erwachsene nie von vorne oder mit ihren Gesichtern gezeigt. Einzig in Albträumen oder Angstmomenten der Kinder, sind Gesichter und Fratzen von Erwachsenen deutlich zu sehen. Zu Beginn funktioniert das noch ganz außergewöhnlich, als wir beispielsweise einer faltigen Hand über ein Geländer gleitend folgen oder nur die Schatten einer erwachsenen Welt spüren, aber irgendwann wirkt es schlicht wie eine formelle Idee, die erstens nicht wirklich originell ist und in die sich Taboada viel zu sehr verliebt, um sie noch ernst zu nehmen. Es geht um Flavia, eine Tochter aus reichem Haus, die sich in der Schule mit der eigenwilligen Verónica befreundet. Diese behauptet von sich, eine Hexe zu sein und als sie durch einen Zauberspruch tatsächlich dafür zu sorgen scheint, dass die Klavierlehrerin von Flavia stirbt, gewinnt sie eine Kontrolle der Angst über Flavia. Immer wieder droht sie mit ihrer Hexenkraft und heckt neue Ideen aus, um dunkle Mächte zu beschwören. Ein Schelm wer darin politische Parabeln entdeckt. Dabei ist nie wirklich klar, ob es sich um kindliche Naivität und ein Spiel handelt oder um grausamen Ernst. Man ist eben in dieser Kinderwelt gefangen, die keinen anderen Blick zulässt. Einige Male glaubt man sich in Szenen mit Erwachsenen zu finden. Diese offenbaren sich aber jeweils durch Schwenks als Point-of-View eines Kindes.

Veneno para las hadas2

Ein wenig erinnert dieses Spiel mit den Perspektiven an The Return von Andrey Zvyagintsev, der in seinen ersten Minuten mit einem wahren Schock aus der Kollision von Erwachsenwelt und Kinderwelt aufwartet, die sich im weiteren Film als großes, mystisches Fragezeichen entfaltet. Venenos para las hadas ist ein Film, der einen an kindliche Angst erinnert und diese im besten Fall heraufbeschwört. Gleichzeitig aber-und der Film leidet darunter-stellt sich der Film jederzeit über oder gar unter seine Mädchen, er beobachtet sie als würde Humbert Humbert Kamera führen und so gibt es eben doch noch einen anderen Blick im Film. Ein wiederholter Blick auf die Beine der Mädchen beim Rudern, die Kamera blickt untersichtig auf eine Leiter, die die beiden Mädchen heruntersteigen. Vielleicht geht der wahre Horror von dieser perversen Neigung der Bildsprache aus. Die Unschuld der Mädchen ist nicht die Unschuld des Zusehers. Die brutale Rahmung des Films mit einem Mord am Anfang und am Ende unterstützt diese Tendenz. Wie Agnès Varda in Le bonheur wird aus einer Idylle, der schönen Farben und des ländlichen Spiels ein Horror, der keine Zukunft kennt. Das Spannende an Venenos para las hadas ist, dass man jederzeit merkt worauf das ganze hinausläuft. Statt sich der Idylle hinzugeben, fragt man sich immer, warum es so schön ist und statt voller Spannung vor der Leinwand zu sitzen, verliert man sich immer wieder in der Unschuld und Schuld der Bilder. Die wunderschönen Einstellungen von Kerzenlicht, das spannend-deformierte Kostüm, das immer ein wenig an die Zwillinge aus Stanley Kubricks The Shining erinnert und das Verharren auf der Schönheit von Goldkettchen an alten Armen, lässt einen Hauch von Kinderschänderei in der Luft entstehen. Ein irgendwie widerlicher Film, der schön ist.

Das Vulgäre und das Surrealistische zerfließt in beiden Filmen und es hängt immer an unserem Glauben. Was glauben wir? Wie weit sind wir bereit den Märchen, Geisterstunden, religiösen Parabeln zu folgen? A Chinese Ghost Story und Venenos para las hadas thematisieren diese Fragen, die einen entführen in jene Momente, wenn man als Kind vor einem finsteren Wald stand und ein anderes Kind einem erzählte, dass dort ein alter Mann lebt, der Kinder erschreckt. Im Horrorkino werden wir ein wenig selbst zu Kindern und wir haben keine Sicherheit, denn die Mythen könnten wahr sein.

A Chinese Ghost Story

Nachtrag: Auf einem Geister-Fest habe ich ein Bild von einer Frau gekauft. Sie kämmt sich ihre schwarzen Haare. Ich habe es in meinem Zimmer aufgehängt. Es spricht mich an. Sie sitzt an einem Fluss, Um sie herum sind einige Schriftzeichen, die ich nicht lesen kann. Ihre Haut hat die blasse Farbe des Papiers. Aber ich hatte das Gefühl, dass ihre Augen gestern noch eine andere Farbe hatten. Ich kann meinen Blick nicht von ihr nehmen. Ich glaube, dass sie sich bewegt. Sie sieht gut aus, ich komme näher.

Land of the Dead: Dérangement: The Texas Chainsaw Massacre

Poesie der Verstörung in diesem 1970er Slasher-Kultfilm. Mit The Texas Chainsaw Massacre hat Tobe Hooper einen anhaltenden Schock fabriziert, der auch Jahrzehnte nach seiner Herstellung nichts von seiner Wirkung verloren hat. Es ist dies einer jener Filme, die einen von Anfang an einfach alleine lassen. Ein Film, der sich gegen die Welt verstört. Viele Filme strahlen das Begehren nach einer Partnerschaft mit dem Zuschauer aus. Sie verlangen unsere Teilnahme, unsere Identifikation und bieten dafür das Versprechen, dass sie „Liefern“ werden. Im Horror- sowie im Thrillergenre wird diese Sicherheit bezüglich der Partnerschaft mit dem Film am Ende oft aufgehoben. Als Beispiele aus der laufenden Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum könnte man The Wicker Man oder Halloween nennen, die mit ihren finalen Sequenzen auf eine Hoffnungslosigkeit über den Rahmen des Films hinausweisen. Eines der berühmtesten Beispiele ist wohl das überraschende Ableben der Protagonistin nach dem halben Film in Alfred Hitchcocks Psycho. Aber auch in anderen Genres gibt es diese gräulichen Momente, wenn der Film eben nicht mehr bloß als Film, der sich an alle Regeln hält, wahrgenommen werden kann. Beispiele dafür wären der Walt Disney Film Bambi, der völlig unbedarft die Mutter des namensgebenden Rehkitzes tötet oder My Girl von Howard Zieff, der in den Augen von Kindern durchaus zu einem Horrorfilm mutieren kann. Die Fallhöhe ist hierbei vor allem bei Filmen des Mainstreams äußerst hoch, da sie prinzipiell ja mit den Mechanismen der Identifikation und der Partnerschaft mit dem Zuseher agieren und so auch die Macht haben, diesen plötzlich fallen zu lassen. Bei The Texas Chainsaw Massacre wird man allerdings von Anfang an alleine gelassen.

The Texas Chainsaw Massacre2

Fünf junge Menschen fahren mit einem Van durch das trostlose Texas. Sie fahren zum Haus des Großvaters von Sally und Franklin. Ihre Fahrt wird mit einem rauen who cares-Realismus, im Stil etwa von Cristi Puius Marfa şi Banii, durch karge Sonnenwiesen beobachtet. Das Framing von Hooper wirkt ungeplant, die Kamera scheint begleitend zu reagieren. Hierbei wird bereits auf eine Verité-Authentifizierung gesetzt, die spätesten seit The Blair Witch Project essentiell für eine spezielle Ausprägung des Genres ist und meiner Meinung nach in REC von Jaume Balagueró und Paco Plaza einen formellen Höhepunkt gefunden hat. Dem Blick des Films geht es weniger darum, dass man alles bequem und spannungsgeladen verfolgen kann, sondern dass man an die Geschehnisse glaubt. Die abstrahierten Taschenlampen-Fetzen zu Beginn des Films sind ein schrilles Fest für unsere Erwartungen. Manchmal fährt die Kamera zwar seitlich durch das hohe Gras, aber diese Einstellungen geben kein Gefühl von Eleganz. Vielmehr vermag man die Grashalme zu riechen.

Es ist ein zu großer Zufall, um ihn noch als solchen wahrzunehmen, dass am Vorabend in Peter Kubelkas Was ist Film-Zyklus The Act of Seeing with One’s Own Eyes von Stan Brakhage zu sehen war. Dort begleitet der Künstler verschiedene Autopsien, Menschen, die in ihre Einzelteile gelegt werden bis man entweder kaum mehr Luft, ob der Brutalität der fehlenden Seelen in den Körpern bekommt oder eben bis man die rot-rosa Lichtkugeln nur noch als abstrakte Poesie wahrnimmt. Brakhage benutzt ein Objektiv, das ihn immer ein wenig zu nahe am Geschehen hält, sodass man zwar genau erkennt, was da gerade vor uns aus den Körpern entfernt und umgedreht wird, aber sich doch nie mit einem analytischen Blick beruhigen darf. Diese Bilder machen uns bewusst, dass wir dabei sind. Sie brennen sich in das Gehirn und Brakhage macht uns klar, dass wir mehr nicht sind, eine verformbare Hülle, eine Operation, ein Sterben. Er macht es uns klar, indem er uns sehen lässt. Auch The Texas Chainsaw Massacre wird mit solchen Assoziationen arbeiten. Der Horror ist auch der Rauheit geschuldet, die uns sinnlich aus der Bequemlichkeit des Filmschauens reißt. Die fünf Freunde nehmen einen Anhalter mit, der sich als Wahnsinniger und als Bedrohung entpuppt. Sein verbranntes Gesicht, seine Erscheinung, seine enthusiastische Art und dann schneidet er sich mit einem Messer in die Hand.

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Die Verstörung geht hierbei von der völligen Unberechenbarkeit der makaberen Figuren im Film aus. Diese werden weder als das Böse schlechthin noch als das durch Psychologie erfassbare Grauen projiziert sondern schlicht als das Verrückte. Es tut mir fast ein wenig weh, dass so platt zu formulieren, aber ein anderes Wort fällt mir schlicht nicht ein. Sie entziehen sich wirklicher Beschreibungen. Ihre äußere Erscheinung ist sicherlich markant, aber man wird sie nicht greifen können wie spätestens der what-the-fuck Tanz mit der Kettensäge im Gegenlicht des untergehenden Feuerballs zeigt. In dieser Absurdität liegt dann tatsächlich eine andere Form der Identifikation, jene der sadistischen Teilnahme. Es beginnt schon bald eine Menschenjagd, die eigentlich keine Jagd ist, denn alle fünf Freunde gehen zunächst aus eigenen Stücken zum Haus, das sich nahe dem Haus des Großvaters befindet. Dort lauert ein Schlachter mit Ledermaske (Leatherface), der kurzen Prozess mit den Eindringlingen macht. Einzig Sally erlebt mehr als ein schnelles Ableben. Im letzten Drittel des auf die nonchalante Essenz des Genres reduzierte Menschenjagd gibt es eine einzige Noise-Explosion: Der ständige Horror der Motorsäge, die egal in welcher Entfernung sie ist, immer äußerst laut auf uns eindrückt und das brutale Schreien von Sally. Alle anderen Töne unterstützen diesen Ausbruch des Horrors und wenn der Film kurz Luft holt, dann nur um zu Leiden und zu Bangen. Damit schließt der Film gewissermaßen an sein tolles Sound Design aus der Eröffnungssequenz an, in der ich ziemlich sicher war neben dem Klick von Fotoapparaten, auch das Brechen von Knochen zu hören und heftiges Atmen und vielleicht wie schwere Gegenstände in Plastiktüten gestopft wurden.

The Texas Chainsaw Massacre

Wie so viele Häuser, die in den Filmen der Land of the Dead-Reihe zu sehen sind, ist auch das Haus in The Texas Chainsaw Massacre von besonderer Güte. Es gibt zwei Stockwerke. Unten gibt es neben dem Schlachtzimmer samt De grønne slagtere Svend-Kühlboxen, einen wundervollen Feder- und Knochenraum mit einem gackernden Hahn im Käfig, Staub in der Luft und natürlich die Angst der Abartigkeit, weil überall Skelette hängen, Tiere und Menschen vermischt, es ist egal und das karge Esszimmer, ein Holztisch, ein Lichtskelett, so könnte man es bezeichnen. Die Wände sind dekoriert mit Köpfen und Skeletten, es ist wieder ein Haus der Blicke, das man erforscht zusammen mit den Figuren und der Blick der Kamera lässt nicht alles zu, er versteckt die Klarheit und so könnte hinter jeder Wand der Tod laueren. Es ist sicherlich eines der schmutzigsten bewohnten Häuser der Filmgeschichte. Draußen gibt es eine amerikanische Veranda, eine verwahrloste Schaukel und man blickt durch ein Moskitogitter in das Innere des Hauses. Treppen führen nach oben, sie sind eng, das Haus hat keinen Platz. Plötzlich sind die Geländer rosa gestrichen, es sieht aufgeräumt aus, fast kindlich, unschuldig, unberührt. Wo ist der Schmutz? Alleine diese Veränderung macht Angst, wenn man sie zum ersten Mal sieht. Natürlich trügt der Frieden, denn oben lauert die Vergänglichkeit in Form zweier verwesender Körper, von denen einer noch lebt, vielleicht lebt der andere auch noch, es ist egal.

Was nicht egal ist, ist dass es egal ist. Durch das Unbedarfte der filmischen Form und die nichtssagenden Protagonisten wird man in eine interessante Situation gestürzt, indem Moment, indem sich der Horror zum Teil als absurde Schwarzhumorigkeit entblößt. So soll der halbtote Großvater selbst Sally töten, bringt aber nicht mehr genug Kraft auf, ihr mit dem Hammer den Kopf einzuschlagen und auch die unbeholfene Beiläufigkeit von Leatherface sowie die Tatsache, dass ihm die Opfer mehr oder weniger in die Arme laufen, kann einer gewissen Komik nicht entbehren. Diese Komik ist aber sadistisch. Nur, dass der Sadismus hier dem Kino gehört und nicht irgendeiner amoralischen gesellschaftlichen Tendenz. Denn The Texas Chainsaw Massacre ist weder torture porn, noch geht es ihm um die Freude am Leid. Es geht ihm um den Appetit am Sehen. Dieser wird immer dann ausgelöst, wenn wir nicht in Erwartung sind, sondern wenn der Schock von der Leine gelassen wird. Wenn das Böse hier sichtbar wird, dann erscheint es zwar noch immer abartig, aber lange nicht mehr böse, denn diese Gestalten sind unbeholfen, unmenschlich, brutal und absurd. Man denke nur an die Stimme von Leatherface, die Freude daran, mit der Säge Äste zu zersägen als wären sie Menschenbeine, seine Überraschung über die zweite Besucherin und die Streitereien innerhalb der Familie. Wenn man sich nirgends mehr festhalten kann, dann muss man akzeptieren, dass man in einem Land von Psychopathen lebt und dann will man ihnen einfach nur zusehen, dann beginnt man zu genießen und daran ist nichts falsch oder verwerflich, denn das Kino ist ein Garten unserer Blicke und der sadistische Blick ist nicht mehr als eine der interessantesten, abgründigsten Blumen darin.

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Die Kopie, die im Filmmuseum zu sehen war, fügte der Rauheit noch einige Kanten hinzu. Zum einen gab es französische Untertitel, die vor allem zu Beginn mit einer derartigen Verzögerung projiziert wurden, dass ich mir nicht sicher war, ob das nicht einfach eine absichtliche weitere Deformierungsstrategie des Films ist. Zum anderen waren die Kratzer und Spuren auf dem filmischen Material von einer poetischen Schönheit, die mit der Direktheit der körnigen Ästhetik von The Texas Chainsaw Massacre nahezu perfekt harmonierte. Ein Film irgendwo aus der Garage, wie eine frühe Aufnahme eines Nirvana-Tracks, manchmal wirkt es so als würden ein paar Teenager einfach Spaß haben, aber so ist das auch bei Takeshi Kitano.

Land of the Dead: POV und Hors Champs in Halloween und Profondo Rosso

Der Filmemacher und ehemalige Chefredakteur der Cahiers du Cinéma Thierry Jousse hat in einem Video über die Filmmusik bei Quentin Tarantino, das er für die arte-Serie Blow-Up gemacht hat, erwähnt, dass er zunächst Probleme mit den Filmen des Amerikaners gehabt habe bis er mit Jackie Brown verstanden hätte, dass bei Tarantino die Bilder Musik sind und die Musik Bilder. Vielleicht geht es mir ähnlich bei Dario Argento, dessen Profondo Rosso ich trotz meiner Aversionen gegen alles was ich bislang vom Italiener sah, einiges abgewinnen konnte. Zuvor zeigte das Österreichische Filmmuseum allerdings den Klassiker Halloween von John Carpenter, den ich ebenfalls zum ersten Mal sah. In beiden Filmen scheint sich die Kamera immer wieder mit den Mördern zu verbünden und man kann sich nie sicher sein, ob das was man gerade sieht nicht doch der Blickwinkel des Killers ist. Schon in der Eröffnungssequenz von Halloween, die weniger ein Kindheitstrauma als eine Vorbereitung des Publikums auf Schlimmes ist, folgen wir bis zu einem schönen Perspektivwechsel am Ende dem Blick des Mörders aus der ersten Person. Erst am Ende erfahren wir eindeutig, dass es sich dabei um ein Kind handelt und sein Opfer an jenem Halloweenabend in den 60er Jahren seine Schwester war. Dann macht der Film einen Zeitsprung und wir sehen die Flucht des Kindes, Michael Myers, der 15 Jahre später natürlich kein Kind mehr ist. Da passenderweise gerade Halloween ist und ein paar Teenagerinnen durch die Bilder hüpfen, ist der Rest des Films eine klare Sache. So klar, dass Carpenter ein und dasselbe System von Anfang bis zur Mitte des Films und ein ähnliches System von der Mitte bis zum Ende des Films wiederholt. Natürlich kann man die beiden Systeme in ihrer Anwendung nicht ganz so stark voneinander trennen, weil sie sich durchaus überschneiden und variiert werden, aber im Kern sind es genau diese zwei. Das erste System ist jenes der Point-of-View-Angst. Hier zeigt sich weshalb das Horrorgenre derart geeignet für die filmische Sprache ist, selbst wenn man es wie Carpenter in stupider, einzig auf Effekt zielender Art und Weise bedient. Es ist ein Kino der Blicke und der Abwesenheit. In dieser ersten Hälfte gibt es neben einer parallelen Ermittlungsarbeit durch den betreuenden Psychiater des Mörders drei Blicke.

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1. Blick

Der erste Blick ist jener der Protagonistin Laurie (Jamie Lee Curtis). Sie beginnt einen Mann zu sehen, der sie ganz still beobachtet. Er steht einfach da mit einer Maske. Immer wenn sie ihren Blick wiederholt oder anderen zeigen möchte, was sie sieht, ist dieser Mann nicht mehr da. Die Beunruhigung, die von diesen Bildern ausgeht, ist offensichtlich, denn erstens wissen wir im Gegensatz zur Protagonistin von der Bedrohung, die von dieser Person ausgeht und zweitens geht ein großer Horror aus von Dingen, die aus Bildern verschwinden ohne logische Erklärung. Wenn der hors-champ, also der Off-Screen selbst zu einem übersinnlichen Element wird, dann können wir auch dem Film nicht mehr trauen. Halloween nutzt diese Tatsache bis zur Schmerzgrenze aus und man fühlt sich beobachtet, weil man selbst nicht beobachten darf. Das Verschwinden der Figur löst eine entscheidende Frage in uns aus: Wohin ist er verschwunden? Die Ränder des Bildes und das, was wir nicht sehen können, werden entscheidend und da Carpenter einen Film gemacht hat wie ein Blatt Papier, das zur Hälfte weiß ist und zur Hälfte schwarz und darüber hinaus nichts zulässt, werden wir nur in solche Situationen geworfen. In seiner Simplizität und auf das Publikum zielenden Effektivität ist dieser Film der Gipfel des Grauens, eine Maschine könnte ihn gemacht haben, kein Mensch.

2. Blick

Der zweite Blick schließt an die Eröffnungssequenz an und ist sicherlich der virtuoseste im Film. Es handelt sich um den Point-of-View des Mörders selbst. Als Laurie und der kleine Junge, auf den sie am Abend aufpasst vor dem ehemaligen Haus der Myers stehen, blickt die Kamera aus dem Inneren des Hauses auf die beiden. Dann fährt die Kamera langsam zurück und offenbart die Schulter des Mörders im Schatten des verlassenen Hauses. Wir erfahren, dass der Blick aus dem inneren des Hauses sein Blick gewesen ist. Begleitet wird diese Einstellung immer mit dem Atmen von Myers. Sie wird sehr häufig wiederholt.

3. Blick

Der dritte Blick ist jener, der Laurie und ihre Freundinnen beobachtet. Hier gibt es die Erwartungshaltung des Off-Screens, dramaturgische Fatalitäten und vor allem-und das ist zugleich die Überleitung zum zweiten System-den Bildhintergrund. Der Bildhintergrund hat hier immer eine ironische Komponente. Es ist erstaunlich, dass wir uns in den Einstellungen in denen Myers in der Tiefe des Bildes auftaucht (manchmal wird er gar nur abgeschwenkt, was einen besonders effektvollen Schauder erzielt), mehr mit ihm verbinden können als in jenen, wenn wir durch seine Augen blicken. Es ist fast entspannend, wenn man ihn sieht. Die Einstellungen aus seiner Sicht dagegen behalten etwas Essentielles und Beunruhigendes im Off-Screen, nämlich seine Erscheinung, um die eigentlich den ganzen Film ein großes Geheimnis gemacht wird. Müssen wir sehen, um uns wohl zu fühlen? Ich glaube die Wahrheit liegt im Dazwischen. Wenn wir nur erahnen, nur Fetzen sehen, dann beginnt der Horror. Kamerabewegungen, Montage, Kameraperspektive, Licht und Schatten, alles in Halloween arbeitet mit diesem Wissen, der Film kann und will sich nicht für etwas anderes interessieren als den nächsten Schock. Besonders ironisch gelingt Carpenter ein solcher Moment im Bildhintergrund als er uns mal wieder sehen lässt, was die Figuren nicht sehen. So könnte der Psychiater den Mörder schon viel früher finden, wenn er sich nur im richtigen Moment an einer Straßenkreuzung umdrehen würde.

Halloween2

Das zweite System unterscheidet sich zunächst einmal dramaturgisch vom ersten, denn irgendwann wird der Mörder auch zuschlagen. Daher entspricht dieses System einer Wellenbewegung, wogegen das erste System eine ansteigende Gerade war. Der zweite Blick bleibt genauso bestehen und der dritte Blick wird gar noch entscheidender, denn nun wird der Off-Screen tatsächlich zum On-Screen und unsere Befürchtungen werden begleitet von dieser eintönigen Klimpermusik und einem lauten, musikalischen Schockeinsatz. Es kommt genau ein neuer Blick dazu, der für sich schon die Einfallslosigkeit des Films deutlich macht. (aber wen interessiert das, wenn man gar nicht mehr hinsehen will? Der 5. Blick wäre daher der Blick, der sich bei manchen Zusehern von der Leinwand löst…)

4. Blick

Dabei geht es um den Blick der Abartigkeit. Dieser stellt das Böse selbst aus, das Unfassbare, das Psychopathische, das wir nicht verstehen können, auch wenn wir es sehen. So beobachten wir wie der Mörder neugierig ein Opfer betrachtet, das er mit seinem Messer in die Wand genagelt hat oder wir sehen durch die Augen von Laurie die Leichen in einem Zimmer. Zusammen mit einer Art übersinnlichen Ungreifbarkeit des Mörders, die sich immer wieder in den wie von magischer Hand zugehenden Türen, die es auch in Profondo Rosso gibt, äußert und einer völlig aus dem Kontext geworfenen Dummheit der Figuren entsteht so kein Film, sondern eine Serie von Schocker-Clips und Überwältigungen, die eine eigene Form von Spaß bringen sollen, den man wohl am ehesten mit Freizeitparkattraktionen vergleichen kann. Wie bei einer besonders gefährlichen Attraktion lebt man dabei die ganze Zeit in Angst bis es sich auflöst und man eine Art freudiges Echo eines Adrenalinkicks verspürt.

Das Problem an dieser Strategie ist neben ihrer schnellen Abnutzung und ihrer manipulativen Haltung vor allem, dass sie den Blick beengt. Damit meine ich, dass man diese Filme nicht sieht. Vielmehr wird man mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert, der Film hebt die ganze Zeit einen Spiegel vor das Publikum, der ihnen das gibt, was sie nicht sehen wollen, aber doch erwarten. Aber er zeigt ihnen nichts, was sie nicht erwartet haben, kein wirklicher Horror des Unvorstellbaren, keine Fantastik, keine wirkliche Überraschung. Er zeigt ihnen keine Figuren, kein Leben, keine Welt, alles findet im Kopf statt. Manche würden Halloween diese Eigenschaften als Qualität anerkennen, dann aber nur, weil sie sich selbst wichtiger nehmen als den Film.

Profondo Rosso

Anders sieht es da bei Argento aus, denn in seinem Profondo Rosso werden ähnliche Blickstrukturen weitaus virtuoser initiiert und vor allem mit Raumkonstruktionen und einer Bilderflut an Motiven verbunden. Wie in vielen seiner Filme von seinem Debut L’uccello dalle piume di cristallo an wird ganz in Hitchcock-Manier eine außenstehende Person in ein Verbrechen involviert. Im Gegensatz zu Hitchcock begnügen sich diese Männer aber nicht mit dem Fetisch des Blicks und des Wissens, sondern es scheint auch immer um das Berühren zu gehen. Argento betont das mit Nahaufnahmen von Händen, Gesichtern und Augen. Er lässt seine Figuren Gegenstände berühren und macht seine Welt spürbar. Dadurch wird auch der Horror deutlich spürbarer. Der Pianist Marcus Daly (David Hemmings) wird Zeuge eines Mordes und beginnt zusammen mit seiner On-Off Freundin, der Journalistin Gianna die Stücke des Falls zusammenzusetzen. Natürlich werden sie auch selbst zum Ziel des Täters. Es ist dies eine klassische Krimihandlung, die Argento-und damit komme ich zu meinen einleitenden Gedanken zurück-wie Musik komponiert. Im Gegensatz zum deutlich wilderen Suspiria, bei dem ich jene Wellenbewegungen, die auf Schocks hinarbeiten unter dem ganzen Wirrwarr aus visueller Reizüberflutung sehr stark spürte, scheint Argento hier rhythmisch an ganz anderen Dingen interessiert zu sein. Dabei ist er eben ein Filmemacher wie Tarantino, der nicht wirklich am Leben selbst interessiert zu sein scheint, sondern dessen Leben Film ist. Um sich nicht in Redundanz zu verlieren, bedarf es daher einer möglichst großen Überwältigungsstrategie, dem von mir angeprangerten Augenzwinkermodus, der sich selbst über den Film stellt und ein technisches Geschick, das über sich selbst hinausweist. Argento ist selbst ein Pianist, der mit den Motiven des Giallos spielt und sie nur im Bezug zum Kino ernst nimmt. Er will keine wirklich psychologisch motivierte Handlung erzählen, er mag nur wie diese in Film getaucht wirkt und aussieht, wie sie klingt. Wie Tarantino macht er Fanfilme. Da Argento aber scheinbar keine Dialoge inszenieren kann, muss er sich anderweitig helfen. So spielt er mit den Motiven des Kindheitstraumas ohne sich jemals darin zu involvieren: Der Flashback am Ende, das ständig in Verbindung mit den Morden auftauchende Lied, das diegetische und non-diegetische Musik verbindet, die Zeichnung, die als Spur dient und kinderhafte Züge trägt, die Puppen, deren Köpfe rollen werden, das junge, etwas unheimliche Mädchen, das Daly zur Geistervilla bringen wird und wer will (ich nicht) vermag auch im Mord an Gianna eine psychologische Thematik der Kinderlosigkeit interpretieren. Schließlich begnügt sich der sonst nicht mit Effekt geizende Argento bei ihr mit einem einfachen Messer im Bauch. Es gibt noch mehr solche Motive, die ein Puzzle kreieren, dessen Auflösung sich wie ein Daumenkino zusammenschließt. Wie ein Daumenkino, weil es unheimlich schnell geht und man die Blicke, die bei Carpenter so deutlich getrennt werden können, bei Argento kaum mehr sieht und weil sie nicht mehr nur auf den bloßen manipulativen Schockeffekt zielen, sondern auf eine Schönheit des filmischen Horrors. Argento drückt seine Liebe zu einer bestimmten Form des Kinos aus. Er bezweifelt gleichzeitig die Relevanz einer solchen psychologischen Leseart als er Daly sagen lässt, dass der wahre Grund dafür, dass er Pianist sei nicht in einer Verarbeitung eines Kindheitstraumas läge, sondern schlicht weil er Musik liebe. Es wirkt so als könnte Argento das über sein eigenes Schaffen gesagt haben. Sinnentleerte Obsessionen?

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Mehr noch ist Profondo Rosso ein Film über das Gedächtnis, das sich wie die Räume im Film durch Montagen und Eindrücke, durch Fahrten und Licht im Schatten bewegt. Zwar hatte er den Weg der Erinnerung in seinem L’uccello dalle piume di cristallo deutlich intensiver und dringlicher, mit sprunghaften Fetzen von Flashbacks, die wie die Messer in seinen Filmen auf die Zuschauer prasseln, gestaltet, in Profondo Rosso vermag er es aber seine Bilder mit dem Gedächtnis der Figur zu verbinden. So erschließt er zum einen die Räume in einer ähnlichen Art und Weise wie Daly sein Gedächtnis erschließen muss, um die Wahrheit zu erkennen. Es gibt Fahrten durch die Korridore, schnelle Schnitte von Fassadenbildern, Ransprünge, plötzliche Totalen und eben die ständigen Blickwechsel, die nicht nur auf eine Bedrohung, sondern auch auf eine Suche nach der Wahrheit hindeuten. So wird hier wie in Halloween mit dem hors-champs und dem Point-of-View des unbekannten Mörders gespielt, aber neben der Spannung, die diese erzeugen, involvieren sie uns auch in der Suche nach der Wahrheit. Wem gehört dieses Flüstern? Was haben wir gesehen? Warum haben wir nicht hingesehen? Warum verstehen wir nicht? Und die Räume verbergen Dinge vor uns wie unsere Erinnerung.

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So verbirgt sich immer wieder eine weitere Ebene hinter den Oberflächen und Fassaden. Daly entdeckt die gesuchte Zeichnung hinter dem Putz einer Wand und er entdeckt sie nicht mal völlig, er schlägt mit einem Hammer durch eine Wand, um Räume zu entdecken, ein Opfer versucht mit ihren Fingern, eine Botschaft auf den von der schwülen Feuchtigkeit des Badezimmers angelaufenen Fließen zu hinterlassen, die nur sichtbar werden, wenn man im Badezimmer eine ähnliche Feuchtigkeit und Temperatur erzeugt, ganz so wie ein Madeleine-Moment bei Proust, nur auf eine raumbezogene Bildsprache übertragen. Außerdem gibt es ständig Fenster und Jalousien, Räume bestehen auch aus ihrer Kehrseite, dem oben, dem unten und dem weit entfernt. Ähnlich verhält es sich mit der Erinnerung an den Mord. Sie ist überall und dadurch hat Daly und hat auch der Zuseher das Gefühl, etwas Entscheidendes zu übersehen. Spiegel, Gemälde und die kinematographische Realität verbinden sich so in der Schlusssequenz zu einem Bilderreigen des Horrors, der stets in sich gefangen bleibt, nichts an sich heranlässt, aber im Fall von Profondo Rosso eine cineastische Eleganz aufweist, ein Gefühl für Bilder, Rhythmus, der einen nicht beschießt, sondern schauen lässt, der einem die Lust am Sehen schenkt und somit Bilder macht, die wie Musik erklingen.

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Abschließend könnte man noch auf die Bedeutung der Bewaffnung im Horrorfilm eingehen. Das Screening von Halloween und Profondo Rosso hintereinander legt das nahe, da beide Filme ihre Opfer mit langen Stricknadeln zur Verteidigung ausrüsten. Die Frage nach der Bewaffnung ist trotz ihrer scheinbaren Absurdität von hoher Relevanz, da sie letztlich mit der Körperlichkeit, Abartigkeit, Isolation und auch mit den Blicken und dem Off-Screen eines Films zu tun haben. Es ist klar, dass wenn sich eine Figur mit einer Stricknadel bewaffnet, dass sie dem Bösen, dem Schockierenden, dem Gefährlichen sehr nahe kommen muss, um sich zu wehren. Eine Stricknadel impliziert auch ein Verharren, ein Warten, man wird kaum mit dieser Waffe auf einen Gegner losrennen, man muss ihn überraschen. (ähnliches gilt für das Messer, das in beiden Filmen viel häufiger schneidende Auftritte bekommt…) Argento scheint sowieso mehr Zeit damit zu verbringen, sich zu überlegen wie schön und gewaltvoll, wie verrückt ein Mord geschehen könnte, als ob dieser Sinn macht. Das Gute daran ist, dass er dies vor allem deshalb tut, um seinen aufgesetzten Horror mit Körperlichkeit zu bestücken, die ihn greifbarer macht. Das, was hängen bleibt, also unser Gedächtnis, die Bilder, die einen nicht verlassen, sind natürlich bei jedem Zuseher unterschiedlich. Aber es ist klar, dass es bei Argento oft jene Momente des Horrors selbst sind wie ein besonders blutiger Tod oder das plötzliche hereinfahren einer Puppe und bei Carpenter einzig die Erwartung an den Horror.