Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Lift those heavy eyelids: Quadrophenia von Franc Roddam

Beachy Head ist eine steile Kalkklippe an der englischen Südküste und in erster Linie bekannt für die hohe Anzahl der Selbstmörder, die sich dort in den Tod stürzen. Die Klippen sind unter anderem Schauplatz des Showdowns von Rowan Joffés Remake des britischen Filmklassikers Brighton Rock (auch empfehlenswert: das Original von 1947 mit dem jüngst verstorbenen Richard Attenborough in der Hauptrolle). Für das Remake wurde die Handlung des Films in die 60er Jahre verlegt – eine Ära, in der sich in Brighton teils unschöne Szenen abspielten. Das mondäne Seebad war damals Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen „Mods“ und „Rockers“, zwei Jugend-Subkulturen, die heute (zumindest am Kontinent) größtenteils in Vergessenheit geraten sind.

Grob umrissen handelt es sich bei „Mods“ um Liebhaber italienischer Mode und Musikstilen wie R&B, Ska und Soul, die sich bevorzugt auf Vespas und Lambrettas fortbewegen. „Rockers“ tragen Biker-Kleidung, bevorzugen 50er Jahre Rock’n’Roll und fahren Motorrad – unterscheiden sich also nicht allzu stark von modernen Motorradgangs. „Mods“ hingegen sind eine ausgestorbene Subkultur, deren Auftreten man heute wohl als exzentrisch bezeichnen würde: Junge Männer in maßgeschneiderten Anzügen auf liebevoll dekorierten Motorrollern. Aber in den 60er Jahren bereiteten sie den Weg für „Swinging London“ und wurden von Bands wie The Who musikalisch verewigt (deren gleichnamige Rock-Oper diente als Adaptionsgrundlage für Quadrophenia).

Quadrophenia: Jimmy während der Tumulte in BrightonQuadrophenia hat sich seit seinem Erscheinen 1979 (nicht nur) in Großbritannien zum Kultfilm entwickelt. Der Film beginnt im rötlichen Licht des Sonnenuntergangs vor Beachy Head, wo der Protagonist Jimmy entlangmarschiert. Erst am Ende des Films stellt sich heraus, dass dieser Spaziergang im Sonnenuntergang nicht Aufbruch, sondern Resignation ist. Jimmy war nach Brighton zurückgekehrt um das magische Gefühl zurückzugewinnen, das sein letzter Aufenthalt dort ausgelöst hatte. Das Wochenende zuvor hatte er dort an einer großen Straßenschlacht zwischen „Mods“ und „Rockers“ teilgenommen und mit der hübschen Steph angebandelt. Danach ging es steil bergab. Noch in Brighton wurde er im Getümmel der Kämpfe verhaftet und daraufhin von seinen Eltern rausgeworfen. Er kündigte seinen Job, wurde von Steph gedemütigt und sein geliebter Lambretta-Roller wurde in einem Unfall zum Totalschaden. Das klassische Bild des einsamen Helden, der sich siegessicher in den Sonnenuntergang verabschiedet, wird konterkariert durch den tragischen Helden, der keine Gewissheit im Leben mehr hat und seinen Lebenswandel in Frage stellen muss. Jimmy ist an einem Punkt angekommen, wo ihm nicht einmal mehr seine Amphetaminpillen weiterhelfen (Pillenschlucken ist ebenfalls unverzichtbarer Bestandteil der „Mod“-Kultur).

Der Film sorgte bei seinem Erscheinen, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Verschwinden der „Mod“-Subkultur für ein kurzes Revival der Szene. Das lässt schon erahnen, dass Quadrophenia agitatorisches Potenzial besitzt. Tatsächlich würde ich dieses Aufflackern der „Mod“-Kultur nach Erscheinen des Films eher den Qualitäten des Films zurechnen, als der Anziehungskraft von Vespa & Co. Das heißt, Quadrophenia zeichnet sich durch seine Form aus, die es bis heute vermag die Essenz von (Jugend-) Rebellion zu erfassen. Der Film bedient sich dabei verschiedener Stilelemente, die dazu dienen Nähe zum Protagonisten herzustellen. Jimmy ist sogleich Identifikations- und Versuchsobjekt, einerseits wird emotionale Nähe hergestellt, andererseits werden die verschiedenen Ausprägungen des Teenager- und „Mod“-Daseins an ihm durchdekliniert. Musik- und Tanzeinlagen dienen als dynamische Elemente, die den Erzählfluss unterbrechen und Stimmungen betonen, die Kameraarbeit ist größtenteils schlicht, bricht aber tumultartig und hektisch aus, wenn es die Gemütssituation des Protagonisten verlangt. Diese Elemente kennt man auch aus anderen Filmen, die sich mit ähnlichen Thematiken befassen. Gewalt, Musik und Drogen sind Fixpunkte in Filmen über Jugendkultur, darunter so verschiedene Filme wie L’Eau Froide und Après Mai von Olivier Assayas, If… von Lindsay Anderson, The Outsiders und Rumble Fish von Francis Ford Coppola, Kids von Larry Clark, Dazed and Confused von Richard Linklater und auch kommerziellere Vertreter des Subgenres wie Footloose oder American Pie.

Quadrophenia: Jimmy vor dem Pier von BrightonDer Entstehungsgeschichte des Films geschuldet ist der Film sehr musiklastig. Anders als Tommy, der ebenfalls auf einem Album von The Who basiert, ist Quadrophenia zwar kein Musical, die allgemeine Stimmung und das Tempo des Films werden aber durch den Soundtrack bestimmt. Das funktioniert tadellos, gerade bei einem Film über eine Szene, die sich so stark über Musik definiert. Noch dazu tragen Titel wie „You Really Got Me“ von The Kinks oder „My Generation“ von The Who die Teenagerrebellion, die Gegenstand des Films ist, in ihrer DNA. Andererseits, wird der Film bei denjenigen, die der Anziehungskraft dieser Musik nicht erliegen, kaum den gleichen Effekt auslösen. Es braucht es aber für den heutigen Zuseher keine Vorliebe für die Musik dieser Ära (auch wenn ein Mindestmaß an Wertschätzung den Filmgenuss erhöht) und Quadrophenia ist nicht bloß ein Kultfilm, weil Generationen von The Who-Fans dem Soundtrack des Films nicht wiederstehen konnten. Wie oben beschrieben, geht der Reiz des Films weit über die bloße Faszination für die „Mod“-Kultur (wozu auch die Musik gehört) hinaus, Quadrophenia erreicht diesen Grad, indem gekonnt die „Mod“-Elemente mit verschiedenen formalen Mitteln kombiniert werden.

Quadrophenia: Der Mod Jimmy auf seiner Lambretta