Gyeongju, der letzte Wettbewerbsfilm in meinem Programm, war um neun Uhr morgens nur spärlich besucht. Umso intensiver, kam mir vor, war die Erfahrung. Alles in allem, waren vielleicht fünfzig Zuseher im ca. 500 Personen fassenden Saal und diese Leere, gepaart mit der zweieinhalbstündigen Laufzeit verstärkte die Konfusion und Irre, in der sich der Protagonist Choi befindet. Choi ist Professor für Nordostasiatische Politik an der Universität von Peking und kehrt für das Begräbnis eines alten Freundes nach Korea zurück. Dort bleibt er aber nur kurz und zieht bald schon weiter nach Gyeongju. Gyeongju ist wegen seiner zahlreichen archäologischen Schätze und seines kulturellen Erbes, eine der beliebtesten Reisedestinationen Südkoreas. Dort hatte er vor sieben Jahren mit seinen zwei besten Freunden (darunter der nun verstorbene) einen Kurzurlaub verbracht und die Erinnerungen daran lassen ihn nicht mehr los. Warum genau das so ist, erschließt sich nicht ganz, aber Chois Begegnungen mit den Bewohnern des Ortes und seiner eigenen Vergangenheit, die sich immer wieder mit der Gegenwart vermengt, sind fein herausgearbeitet und offenbaren eine Sensibilität, die ich bei so vielen der anderen Wettbewerbsfilme vermisst habe. Locarno verstärkt meinen Eindruck, dass es sich die spannendsten Entwicklungen im Gegenwartskino in Asien abspielen.
Der letzte Film den ich am 67. Festival del Film Locarno gesehen habe war Rainer Werner Fassbinders Lola, der zu Ehren Armin Mueller-Stahls gezeigt wurde. Ich finde jedes Festival sollte mit einem Fassbinder-Film schließen, überhaupt Lola erscheint mir für solch einen Anlass als sehr geeignet. Ein Film, der gleichsam Wehmut und Erleichterung auszudrücken vermag. Beim Hinausgehen aus dem Kinosaal realisierte ich schockiert und irgendwie auch ein bisschen traurig, dass es nun vorbei war.
Bevor ich zu den offiziellen Preisträgern komme, die die Jury ausgewählt hat, noch zu meinen persönlichen Favoriten. Der beste Film, den ich am Festival gesehen habe, war Jean Eustaches La Maman et la Putain. Der beste Film im Wettbewerb Mula sa kung ano ang noon, gefolgt von Pedro Costas Cavalo Dinheiro. Mein persönlicher Spezialpreis geht an Christmas Again von Charles Poekel, weil er ohne groß zu brillieren oder anzugeben, alles richtig macht (und weil ich Filme erwähnen will, die Patrick nicht mögen würde).
Die Jury des Concorso Internazionale unter dem Vorsitz vom letztjährigen Venedig-Sieger Gianfranco Rosi schloss sich meiner Einschätzung mehr oder weniger an:
Der Pardo d’oro ging an „Mula sa kung ano ang noon“, der Spezialpreis der Jury an Listen Up Philip und der Preis für die Beste Regie an Cavalo Dinheiro. Auch mit den Schauspielpreisen für Ariane Labed (Fidelio, l’odyssée d’Alice) und Artem Bystrov (The Fool) kann ich leben, einzig dass Ventos de Agosto als Special Mention gewürdigt wird, stößt bei mir auf Unverständnis.
Die Preisträger des Concorso Cineasti del Presente habe ich allesamt nicht gesehen, gewonnen hat Navajazo von Ricardo Silva, der Preis für die Beste Regie ging an Simone Rapisarda Casanova für La creazione di significato und der Spezialpreis der Jury an Los Hongos von Oscar Ruiz Navia. Un jeune poète von Damien Manivel, den ich sehr gerne gesehen hätte, wurde mit einer lobenden Erwähnung bedacht.
Der Preis für den Debutfilm ging an Songs from the North von Soon-mi Yoo, Fidelio oder Christmas Again waren meiner Meinung nach bessere Filme, allerdings ist die Entstehungsgeschichte von Songs from the North wert ausgezeichnet zu werden.
In den Kurzfilmkategorien wurde Gott sei Dank keiner der furchtbaren, uninteressanten Filme ausgezeichnet, die ich so bekrittelt habe. Einzig Shipwreck von Morgan Knibbe, wurde zu Recht mit zwei Preisen bedacht (dem Pardino d’argento und der Nominierung für die European Film Awards).
Mula sa kung ano ang noon staubte neben dem Goldenen Leopard auch den FIPRESCI-Preis, den Premio „L’ambiente è qualità di vita“ und den Premio FICC/IFFS abes gibt sehr sehr sehr viele unabhängige Juries und Preise hier, um die Geduld meiner Leser nicht weiter zu strapazieren, verweise ich an dieser Stelle auf die komplette Liste auf der offiziellen Homepage
Mein erstes Fazit nach 11 Tagen Locarno: arm aber glücklich.