Locarno-Tagebuch: Tag 8: Sprachlos, verlobt und verstört

Just der Tag, an dem ich mein Quartier wechselte, begann mit dem bisher stärksten Regenguss (ich spreche von wahrlich sintflutartigen Dimensionen). Meine Laune war dementsprechend gleich in der Früh im Keller. Glücklicherweise konnte ich mich und meine nassen Sachen die nächsten knapp vier Stunden im Kino trocknen lassen, denn Jean Eustaches La Maman et la Putain stand am Programm. Der Film ist ein Meisterwerk, das sollte hinlänglich bekannt sein (HIER unsere Besprechung von Patrick aus dem vergangenen Jahr), und der Regen war danach auch vorbei (es blieb aber herbstlich unfreundlich).

Menage à trois

La maman et la putain

Als nächstes, war ein anderer französischer Meister an der Reihe. Jean-Luc Godards Cannes-Beitrag Adieu au Langage wurde in 3D gezeigt. Vor der Vorführung warnt man uns noch „Prepare to get blind“, und die Warnung war nicht ganz unbegründet. Was folgt sind die ungewöhnlichsten siebzig Minuten des Festivals bisher, denn Adieu au Langage ist ein ausgegorener Experimentalfilm (und damit, soweit ich informiert bin, der einzige im Programm). Godard verabschiedet sich darin von der filmischen Sprache, was dazu führt, dass der Film nur schwer in Worte zu fassen ist. Es unterscheidet ihn nicht allzu viel von den großen Werken des New American Cinema (ich musste vor allem an Brakhage denken, auch wenn Godard weniger abstrakt ist), die die Möglichkeiten der filmischen Form und Grenzen der Wahrnehmung austesten. Godard zeigt auf, was man mit 3D alles anstellen kann, und man fragt sich warum es einen Opa dafür braucht, solch einen Film zu machen. Apropos: Den Film nicht in 3D zu sehen, macht absolut keinen Sinn. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er überhaupt in 2D darstellbar ist.

Adieu au Langage

Adieu au Langage

Am Abend stand noch Joel Potrykus‘ Buzzard an. Was ich von diesem Film halten soll, weiß ich selbst noch nicht ganz. Buzzard ist ein Midnight Movie, aber kein Horrorfilm: lustig, nerdig, etwas abstoßend und verstörend. Der Film ist jener Strömung innerhalb der US-Indie-Szene zuzuordnen, der Mumblecore-ähnliche Ästhetik anstrebt, ohne deren philosophischen Background zu teilen. Das Leben des Taugenichts Martin Jackitansky wird folglich durch ein paar (mehr oder weniger) glückliche Fügungen aus seinen üblichen Bahnen geworfen und nimmt teils absurde Dimensionen an. Die (krampfhaften) Versuche dessen Leben mit Spannung aufzuladen werden konterkariert durch allerlei verrückte Einfälle (wie eine bereits legendäre, lange, ungeschnittene Sequenz, in der sich Marty über einen Teller Spaghetti hermacht). Potrykus selbst is like the most American American I’ve seen in a while, and stuff.

Buzzard Trading Cards

Buzzard Trading Cards

Zwischen so viel Wahnsinn und Chaos, war es ganz nett, wieder Mal einen Sprung bei der Retrospektive Titanus vorbeizuschauen, wo Ermanno Olmis I Fidanzati gezeigt wurde. Der Film beginnt mit einer unglaublich schönen Eröffnungssequenz und lässt danach auch kaum spürbar nach. Was besonders beeindruckt ist die geradezu elliptische Erzählweise. Olmi schneidet ohne Vorwarnung durch Zeit und Raum, besonders vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Film um eine Romanze aus den 60er Jahren eines italienischen Großstudios handelt. Zeichen und Wunder geschehen immer wieder!

PS: Auch Víctor Erice läuft in Locarno herum. Unübersehbar seine tiefschwarze Haarpracht, die furchtbar schlecht gefärbt, und deshalb wie ein Toupet aussieht.

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