Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

"Ventos de Agosto"

Locarno-Tagebuch: Tag 3: Wo Französisch noch eine Weltsprache ist

Nach­dem ich an Tag 2 vor allem den unzäh­li­gen Retro­spek­ti­ven Besu­che abge­stat­tet habe, über­kam mich ein wenig das schlech­te Gewis­sen. Soll­te man auf einem Film­fes­ti­val nicht eher die neu­en Fil­me anse­hen, die man viel­leicht nie mehr im Kino zu sehen bekommt? Statt­des­sen ver­schwen­de ich mei­ne Zeit in Utz und Le Por­no­gra­phe, die man sich auch auf DVD besor­gen könn­te. Nun denn, der drit­te Tag hat­te eini­ges Neu­es zu bie­ten, wäh­rend Locar­no sich von sei­ner bewölk­ten Sei­te zeigte.

Der Piazza Grande in Locarno
Piaz­za Grande

Der Tag beginnt win­dig (Ach­tung Wort­witz!), mit Gabri­el Mas­ca­ros Vent­os de Agos­to, einem Film, der sehr im Geis­te des zeit­ge­nös­si­schen Welt­ki­nos steht. Ein biss­chen Jugend, ein biss­chen Gene­ra­tio­nen­kon­flikt, ein biss­chen Kli­ma­wan­del, ein biss­chen Nackt­heit, ein biss­chen Quir­ki­ness und ganz viel bewuss­te Cool­ness. Die ein­zel­nen Ver­satz­stü­cke, die­ses doch recht epi­so­dischen Werks sind zwar schön anzu­se­hen und zeu­gen von Ideen­reich­tum, wir­ken in ihrer Zusam­men­stel­lung aller­dings unmo­ti­viert und zusam­men­ge­schus­tert. Das macht die Ange­le­gen­heit unnö­tig zäh.

Windmessung in
Vent­os de Agosto

Auf Vent­os de Agos­to folgt mein (vor­aus­sicht­lich) ein­zi­ger Besuch eines Kurz­film­pro­gramms. Ich hat­te in der Vor­be­rei­tung die­ser Spar­te nur wenig Auf­merk­sam­keit gewid­met, und die fünf Fil­me im gezeig­ten Pro­gramm konn­ten mich nicht davon über­zeu­gen mei­ne Pla­nung zu ändern. Ehr­lich gesagt, erwar­te ich mir von einem Pro­gramm in Locar­no, einem Fes­ti­val, das für kine­ma­ti­sche Inno­va­ti­on steht, ganz ein­fach mehr. Die fünf Fil­me waren schnö­de und kon­ven­tio­nel­le Spiel­fil­me – nicht schlecht gemacht aber kei­nes­wegs an den Gren­zen der fil­mi­schen Form. Ein­zig Mor­gan Knib­bes Ship­w­reck, eine poe­ti­sche Refle­xi­on über ein Schiffs­un­glück im Okto­ber 2013 vor der Insel Lam­pe­du­sa schafft es mich for­mal zu über­zeu­gen. Bezeich­nend hin­ge­gen, dass es selbst in Locar­no reicht, wenn man einen gro­ßen Namen im Cast hat (Mela­nie Grif­fith im schmerz­haft kon­ven­tio­nel­len Thirst, der aus­sieht, als könn­te er es in die Oscar-Kurz­film­spar­te schaf­fen – das ist kein Kompliment)

Bestuhlung im PalaVideo in Locarno
Sexy Bestuh­lung

Danach gelang es schließ­lich end­lich einem Film mit etwas Kühn­heit auf­zu­war­ten. Eugè­ne Greens La Sapi­en­za dürf­te ein Anwär­ter für Jury­prei­se sein. Ein außer­ge­wöhn­li­cher Film, wenn auch kein per­sön­li­cher Favo­rit, zugleich eine Archi­tek­tur­stu­die und ein Mus­ter­bei­spiel an Ver­frem­dung. Der Film han­delt vom Archi­tek­ten Alex­and­re Schmidt, der mit sei­ner Frau Ali­é­nor in die Hei­mat des tes­si­ni­schen Barock­ar­chi­tek­ten Fran­ces­co Bor­ro­mi­ni reist. Bor­ro­mi­ni ist ein Idol des Schwei­zer Star­ar­chi­tek­ten, der zur Zeit eine Schaf­fens­kri­se durch­zu­ste­hen hat und sich nun von Bor­ro­mi­ni inspi­rie­ren las­sen will. In Bis­so­ne (Bor­ro­mi­nis Hei­mat­ort) tref­fen sie auf ein unge­wöhn­li­ches Geschwis­ter­paar – die Schwes­ter lei­det an Schwä­che­an­fäl­len, der Bru­der ist ange­hen­der Archi­tek­tur­stu­dent. Auf Vor­schlag Ali­é­nors bleibt sie zurück und ermög­licht dem Bru­der mit Alex­and­re nach Rom wei­ter­zu­rei­sen. Dar­aus erge­ben sich span­nen­de Refle­xio­nen über Licht, Men­schen, Raum und Leben. Green weiß in die­sen Dia­lo­gen über Archi­tek­tur grö­ße­re Weis­hei­ten ein­zu­brin­gen, ohne jedoch auf­ge­setzt phi­lo­so­phisch zu wir­ken. Die Schau­spie­ler, und das mein­te ich mit Ver­frem­dung, spie­len mecha­nisch, ohne Emo­ti­on, allen vor­an Fabri­zio Ron­gio­ne als Schmidt. Greens stren­ge, sym­me­tri­sche Kadrie­rung der Gesprä­che, die Prot­ago­nis­ten sit­zen sich, zumeist kaf­fee­trin­kend, an Tischen gegen­über, ver­stärkt das robo­ter­haf­te Geha­be der Cha­rak­te­re noch. Alles in allem, wirkt La Sapi­en­za äußert barock und archi­tek­to­nisch, der Inhalt spie­gelt sich also im Stil wie­der – auf die ein oder ande­re Marot­te hät­te man aller­dings ver­zich­ten können.

Mei­ne täg­li­che Dosis Léaud wur­de mit Jean-Luc Godards Mas­cu­lin fémi­nin gestillt. Léaud sieht immer noch eher unge­sund aus und mur­melt aber­mals ein biss­chen welt­fremd ein paar Wor­te ins Mikro. Der Film zeigt vor, was ich mir von den Wett­be­werbs­fil­men wün­schen wür­de – küh­nes, inno­va­ti­ves Filmemachen.

Jean-Pierre Léaud in
Mas­cu­lin féminin

Auch Agnès Var­da ist per­sön­lich in Locar­no anwe­send (erstaun­lich ob ihres doch recht fort­ge­schrit­te­nen Alters) und legt, anders als Léaud, bei der Vor­stel­lung ihres Films Docu­men­teur so rich­tig los, sodass ich ihren fran­zö­si­schen Aus­füh­run­gen schon bald nicht mehr fol­gen kann. Fran­zö­sisch wird hier prin­zi­pi­ell nicht über­setzt und als Lin­gua fran­ca vor­aus­ge­setzt – auch Mas­cu­lin fémi­nin wur­de in Ori­gi­nal­ver­si­on ohne Unter­ti­tel gezeigt. Ita­lie­ni­sche Ansa­gen und Ein­füh­run­gen wer­den kurio­ser­wei­se über­setzt – ins Fran­zö­si­sche. Docu­men­teur ist ein sel­ten gezeig­ter Film, des­halb habe ich dies­mal kein schlech­tes Gewis­sen, dafür auf einen neu­en Film zu ver­zich­ten. Der Film mischt fik­tio­na­le und doku­men­ta­ri­sche Form und bie­tet somit eine groß­ar­ti­ge Gele­gen­heit Agnès Var­das Gespür für die Poe­sie des All­tags zu bewundern.

Anders, wenn auch nicht weni­ger beein­dru­ckend, mein Tages­ab­schluss Il sole negli occhi, ein neo-rea­lis­tisch ange­hauch­tes Melo­dra­ma von Anto­nio Pietran­ge­li. Ein Film aus dem Jahr 1953, des­sen Dra­ma­tur­gie und Fina­le sei­ner Zeit knap­pe fünf­zig Jah­re vor­aus ist. Der Film ist weder beson­ders flas­hy, noch beson­ders „schön“ im her­kömm­li­chen Sin­ne, aber wirkt sehr orga­nisch (trotz eini­gen kit­schi­gen Momen­ten). Die Geschich­te eines unschul­di­gen Mäd­chens vom Land, das in Rom als Haus­mäd­chen arbei­ten muss und sich in der Stadt zurecht fin­den muss klingt auf den ers­ten Blick wenig welt­be­we­gend, dank eini­ger span­nen­der Wen­dun­gen und der engels­glei­chen Gestalt Gabrie­le Fer­zet­tis, kann der Film aber über sich hin­aus­wach­sen und tran­szen­diert in gewis­ser Wei­se die Limi­ta­tio­nen sei­nes Gen­res und Milieus. Ein schö­ner Abschluss, und vor allem einer, bei dem es kei­ne Mühe macht wachzubleiben.

La Grande Dame Agnès Varda
Agnès Var­da

PS: Mein Ita­lie­nisch, das nie beson­ders gut war, beginnt wie­der auf­zu­fri­schen und ich zweif­le immer mehr an der Sinn­haf­tig­keit mei­nes Fran­zö­sisch-Schul­un­ter­richts, dass ich ver­gleichs­wei­se schlecht beherrsche.

PPS: Ein Ita­lie­ner sah mich heu­te befrem­dend an, als ich mir Was­ser aus der Lei­tung in mei­ne Plas­tik­fla­sche fül­le. Er fragt mich, ob man das Was­ser trin­ken kann, ich nicke. Als er so rich­tig los­le­gen will, endet unse­re Kon­ver­sa­ti­on, als ich ihm zu ver­ste­hen gebe, dass ich kaum Ita­lie­nisch spre­che. Long sto­ry short, ich hof­fe das Was­ser in Locar­no ist trinkbar.

PPPS: Für die Qua­li­tät mei­ner Fotos möch­te ich mich an die­ser Stel­le ent­schul­di­gen. Ich bin lei­der der schlech­tes­te Foto­graf, den ich kenne.