Die liebe, kleine, große, alte Dame Agnès Varda beeindruckt mich mit jedem Film ein wenig mehr. Selbst in ihren fiktionalen Werken zeigt sich ihr dokumentarisches Auge fürs Alltägliche. Schöne Beispiele dafür finden sich in Sans toit ni loi, dem Gewinner des Goldenen Löwen von 1985, in dem sie mehrmals auf Inszenierungsmittel zurückgreift, die man eher aus dem Dokumentarfilm kennt (z.B. Interviews mit „Zeugen“) und in dem sie immer wieder mit der Kamera auf Orten und Plätzen verharrt, die unmöglich aus den Händen eines Szenenbildners stammen können. Sans toit ni loi fügte sich auch wunderbar in mein restliches Tagesprogramm ein, denn für einen depressiven Start in den Tag sorgte der Wettbewerbsbeitrag L’Abri des in Tangiers geborenen und in der Schweiz arbeitenden Filmemachers Fernand Melgar. L’Abri ist ein Dokumentarfilm, der Geschichte(n) rund um ein Obdachlosenasyl in Lausanne erzählt. Weder zu polemisch, noch zu objektiv nähert sich Melgar dieser diffizilen Materie. Weder verflucht er die Verantwortlichen oder die mittellosen Immigranten, noch glorifiziert er die Mitarbeiter der Hilfsorganisation oder die kälteleidenden, bettelnden Obdachlosen. Trotz seiner sozialpolitischen Sprengkraft wird der Film so nicht zu einer rein inhaltlichen Übung, sondern bleibt durch die menschliche Nähe, die Melgar zu beiden Seiten aufbaut, ein Film. L’Abri ist ein legitimer Nachfolger der Direct Cinema-Bewegung, indem er es schafft ohne Kommentar oder übermäßigen Einsatz von Zwischentiteln, eine dramaturgisch durchstrukturierte „Geschichte“ zu erzählen.
Was gibt’s sonst noch Neues? Einen erstmaligen Besuch beim Concorso Cineasti del presente, dem Wettbewerb für Debut- und Zweitfilme junger Filmemacher. Songs of the North von Soon-mi Yoo ist in erster Linie wegen seiner Entstehungsgeschichte interessant. Der Film wurde nämlich (illegal) in Nordkorea gedreht, ein Film über ein Land, zu dem der (Süd-)Koreanerin jahrelang der Zugang verwehrt worden ist, wie sie gleich zu Anfang in einem Zwischentitel festhält. Der Film hätte Agnès Varda Stolz gemacht: Gefilmt mit eher mittelmäßigen Kameras, teils versteckt, kombiniert mit Archivmaterialien und Ausschnitten aus nordkoreanischen Propagandafilmen. Das Ergebnis ist, wenn man mich fragt, zwar eher relevant und interessant, als „gut“, aber alles in allem wiegt hier die Faszination für das Artefakt an sich, die Mängel der filmischen Form auf. Darüber hinaus, und weil auch das hier immer wieder thematisiert wird, ein genuin digitales Werk, das auf 35mm, oder selbst auf 16mm, schlicht nicht machbar gewesen wäre.
Außerdem habe ich mir Original-Schweizerschokolade gegönnt (CHF 5,85). Mjam, mjam.
PS: Cineteca di Bologna-Restauration eines Antonioni-Films auf großer Leinwand, mi piace.