Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Le Milieu du Monde von Alain Tanner

Es ist einer dieser Winter, die nicht enden wollen. Ich sitze in einer Altbauwohnung im achtzehnten Bezirk Wiens und blicke seit Wochen in ein gleichbleibendes städtisches Gelände. Der Himmel ist grau und mit Ausnahme eines seit wenigen Tagen zwischen den kahlen Baumkronen umherfliegenden Rotdrosselschwarms kündet nichts vom Frühling. In den Fenstern auf der Straße gegenüber sehe ich Lichter, die eine gewisse Wärme versprechen. Die Menschen hier bleiben lieber drinnen, verstecken sich in wohlständiger Behaglichkeit. Gestern habe ich mir Alain Tanners Le Milieu du Monde angesehen und ich konnte nicht anders, als zu bemerken, wie sehr die Jahreszeit und der Ort, an dem ich mich befinde, mit der dritten Zusammenarbeit des Genfer Filmemachers mit dem großen britischen Denker John Berger in einen Dialog treten. Es gibt sicherlich den richtige Ort und die richtige Zeit für einen Film. Manchmal liegt das daran, dass ein Film einem genau das zu geben scheint, was gerade fehlt. Manchmal aber fließen die Bilder und Töne nachgerade in die erlebte Wirklichkeit ein, sie wirken wie eine Fortsetzung, dessen, was sich jenseits der Leinwand oder des Bildschirms zeigt. Damit meine ich nicht Marketinggags, wie Vorführungen von Spielbergs Jaws im Uferwasser eines Meeres, die ja letztlich vom Film ablenken, weil man mehr mit der Umgebung beschäftigt ist. Damit meine ich eher die Wiederaufnahme eines mentalen Zustands, den ein Film erst ins Bewusstsein rückt. In diesem Fall jenem der so benannten «Normalisierung» und der Grenzen bürgerlicher Vorstellungskraft.

Wie man überall nachlesen kann, erzählt der Film von einer Liebesgeschichte zwischen einer italienischen Kellnerin und einem Lokalpolitiker im Schweizer Kanton Vaud, ebendort, wo sich einer gewissen Auffassung nach die Mitte des Kontinents befindet, also der Ort, der gleich weit vom nördlichen und südlichen Meer entfernt liegt. Ein Ort der geographischen und mentalen Mitte. Beide haben unterschiedliche Vorstellungen des Glücks, der Mann riskiert seine politische Karriere mit dieser Liebschaft und kann nicht anders, als seine eigenen Erwartungen an das Glück auf die Frau zu projizieren, die ganz andere Bedürfnisse hätte, die etwa nach Italien möchte, die gesehen werden möchte, als das, was sie ist. In skizzenartigen Szenen fühlt der Film den feinsten Regungen im Zwischenmenschlichen nach und je länger man schaut, desto deutlicher spürt man, dass das Begehren nicht mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Einklang zu bringen ist, vor allem nicht das weibliche Begehren, wenn dann in kurzen, gestohlenen Momenten der körperlichen Lust. Der Film nimmt das bürgerliche Subjekt und damit auch sich selbst (denn der Film weiß genau um seine eigene Bürgerlichkeit) auseinander, aber nicht, indem er die Liebenden oder den liebenden Mann an den Pranger stellt, sondern indem er eine gesellschaftliche Situation vorführt, die erst diese Symptome des Ungleichgewichts hervorbringt. Der Film benennt dies Symptome als Normalisierung und beschreibt sie in einem der Fiktion vorangehenden Voice-Over wie folgt: «Hoffnungen bleiben, aber sie werden in stereotypen Eigenschaften normalisiert. Wörter und Erklärungen ändern sich und Hoffnungen werden begraben.» Diese Normalisierung ist in mancher Hinsicht das Gegenteil der heute vielerorts furchtauslösenden Radikalisierung, in anderer Hinsicht sind die beiden Geschwister. Dazu braucht es vielleicht eine Erläuterung: Zunächst einmal sind wohl beide Tendenzen, das Normalisieren und das Radikalisieren, menschlich und notwendig. Sie sind ein bisschen wie das Zwerchfell einer gesellschaftlichen Einstellung. Manchmal braucht es Entspannung, manchmal Verkrampfung. Werden sie aber zu einer politischen Norm, einer Ideologie, widersprechen sie den individuellen Atemrhythmen. Sie treten folglich in einen Widerspruch mit den Menschen, die nicht so handeln können, wie sie es müssten, um glücklich zu sein. Die Radikalen werden müde vor Windmühlen und in ihrem Bedürfnis nach Mitte, die Normalisierten ersticken im Monotonen ihrer erzwungenen Ausgeglichenheit. Das luftabschnürende Verhalten des Mannes im Film ist kein bewusstes, ihm fehlt es schlicht an der Vorstellungskraft für eine andere Welt. Er benimmt sich so, wie das Patriarchat ihm das beigebracht hat. Das Patriarchat begrenzt seine Vorstellungen eines gesellschaftlichen Ausbruchs. Und das obwohl sein Umgang mit seiner Karriere und seiner in die Brüche gegangenen Ehe durchaus irrationale, wahrhaftig rebellische Züge aufweist, so leichtsinnig, wie er sich in ein neues Leben wirft. Nur bleibt das bloße Fantasie eines Mannes, der kein einziges Mal im Film zuhört, wenn seine Partnerin etwas erzählt.

In wiederkehrenden Landschaftsbildern eines Feldes und der dahinter liegenden Baumreihe zeigt Kameramann Renato Berta den zumindest im Möglichkeitsraum liegenden und durchaus metaphorischen Wechsel der Jahreszeiten. Obwohl die Handlung im tiefsten Winter abläuft, sieht man plötzlich blühende Rapsfelder und das kräftige Grüne des Sommers. Das sind innere Bilder, die einen Ausbruch aus dem Vorgeschriebenen andeuten. Sie korrelieren mit den abrupten Schnitten des Films, die bisweilen kausal-chronologische Zusammenhänge aus den Angeln heben, um sich dann doch in eine alles beherrschenden Gleichmäßigkeit einzugliedern. Man könnte sagen, dass sie das Verlieben bebildern, aber ganz so platt arbeitet Tanner nicht. Denn schon im nächsten Bild ist wieder Winter. Weniger als um subjektive Gefühlsbilder scheint es mir hier um die Feststellung zu gehen, dass der Winter nicht aus dem Gelände weicht. Er bleibt und setzt sich als feste Eisschicht auf den springenden Knospen ab. Wir haben gelernt, bereits im Winter den nahenden Frühling zu erkennen in einer Landschaft, der Film aber lehrt uns, den bleibenden Winter zu erkennen. Das in den Boden übergehende Laub, das Spüren der Kälte in der Rinde eines Baumes. Das bezieht sich nicht nur auf die Natur, sondern auch auf die Mechanismen, die menschliche Gefühle auf Schiene halten. Einmal schlägt der Mann einen Purzelbaum im Gras. Im Endeffekt bleibt das sein größter Ausbruch. Man denkt an die berühmte Szene in Mauvais sang von Leos Carax, in der Denis Lavant zu Bowies Modern Love über einen Gehweg rennt und springt, aber man vergisst so leicht, in welcher Traurigkeit, welcher Leere er zu seiner Liebe zurückkommt, ganz so, als wäre moderne Liebe nur für die Dauer eines Lieds möglich. Juliet Berto, die eine andere Kellnerin bei Tanner spielt, drückt das einmal banaler aus, als sie davon berichtet, wie sehr sie sich vergnügt, seit es die Pille gibt und wie einsam sie letztlich geblieben ist. Die weibliche Hauptrolle, gespielt von Olimpia Carlisi trägt diese Einsamkeit ist eine Art innere Verletzung oder Verirrung in sich. Sie verbleibt den ganzen Film in einem Halbdunkel, das sich erst nach und nach erklärt. Nicht durch irgendein dramaturgisches Element sondern durch den Blick, den der Mann und mit ihm der Film auf sie wirft.

Der Film erinnert mich daran, jetzt wo ich wieder an meinem Schreibtisch in Wien sitze und aus dem Fenster blicke, dass ich mir den Frühling auch heute nur bedingt vorstellen kann. Er erinnert mich daran, wie begrenzt meine Imagination eines Lebens und eines Glücks in diesem Leben ist, wie vorgefertigt die Modelle des «guten Lebens» doch sind. Obwohl Tanners Film in vielerlei Hinsicht ein Produkt der 1970er Jahre und deren Bedauern versiegender Revolutionen ist, spricht er im Jetzt. Das ist wohl Zeichen einer gewissen Qualität, aber auch einer subjektiven sentimentalen Fügung, wenn man so will.

Jedenfalls wollte der Zufall, dass ich in der Zeit, in der ich mit der Idee konfrontiert wurde, einen kurzen Text zu diesem Film und der Rolle Bertos in ihm zu schreiben, einige der Schriften John Bergers über Künstler gelesen habe. Das ist erstmal einschüchternd. Liest man heute Denker wie Berger, muss man sich fühlen wie Maler Anfang des 20. Jahrhunderts, die auf das blickten, was ihre Kollegen hundert(e) Jahre zuvor fabriziert haben. Sein Schreiben ist von einer Tiefe, die dem üblichen Oberflächendiskurs des Kinos fast lächerlich erscheinen lässt. Einer der Texte ist ein geschriebener Dialog Bergers mit seiner Tochter Katya Berger Andreadakis zum Werk Tizians. Als ich Le Milieu du Monde gesehen habe, musste ich an diesen Austausch denken, der fast zwei Jahrzehnte nach Bergers Arbeit am Drehbuch des Films niedergeschrieben wurde. Vater und Tochter denken darin über die Präsenz des weiblichen Körpers in den Werken des venezianischen Malers nach. Auf der einen Seite streifen sie Gedanken, die Berger anderswo in die Nähe des Konzepts des male gaze gebracht hätte, als sie etwa von der aus den Bildern des Malers sprechenden Macht und Fleischlichkeit seines Blicks berichten. Ein zweiter Gedankenstrang entdeckt aber den Maler selbst in den von ihm gemalten Frauen, in seinem Versuch, überall zugleich zu sein, in allem, was er gemalt hat. Dabei, so schreibt Andreadakis, bemerkte Tizian, dass er letztlich nur ein Mann bleiben würde. Er stieß also auf die Grenzen seines Geschlechts, seines Existenz, seiner Kunst und sicher auch der Gesellschaft, in der er sein Werk vollbrachte. Die Szenen, in denen die Kamera in nur kärglich beleuchteten Zimmern auf dem nackten Körper der Kellnerin verharrt, sind genau das für den Film, denke ich. Sie sind nicht gleichzusetzen mit der üblichen Geilheit der sogenannten Autoren, sie sind ein Versuch, das Andere, in diesem Fall das Weibliche zu sehen und zu werden. Fast penetrant lässt Tanner die Szenen aus dem Bewusstsein des männlichen Protagonisten laufen, bleibt ein bisschen länger an Orten als dieser, um zu zeigen, dass die Welt auch jenseits der männlichen Vorstellungskraft weitergeht. Und doch entkommt er seinen Vorstellungen nicht. Er entkommt ihnen nicht, Berger entkommt ihnen nicht und schon gar nicht der Protagonist.

Leidenschaft ist ein Privileg. Es hat mit Klasse, Herkunft und Geschlecht zu tun. Als die Kellnerinnen zusammensitzen, wird das deutlich. Niemand von ihnen glaubt wirklich an das Glück, an die Liebe und schon gar nicht an die Ehe. Berto, die kaum vorkommt in diesem Film, zeigt ihre Knie aber nicht ihr Herz. Sie wirkt fast zynisch in ihren kleinen Gesten, Fragen und Sätzen, in denen sich alles um die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Liebe dreht. In ihrer und allen anderen Figuren offenbart sich, dass das gesellschaftliche Dilemma erst emotional und dann ideologisch ist. Dabei ist es erstaunlicherweise und entgegen der vom Voice-Over geäußerten Gewissheit diesbezüglich unerheblich, wo dieser Film spielt, ob in der Mitte oder am Rand der Welt. Die Schweiz ist ein Zustand, keine geographische Einheit. Wichtiger ist, von wo aus man den Film betrachtet, als wo er spielt. Ich bin mir nicht sicher, ob in diesem Fall für Tanner und Berger die ideologische Denkarbeit aus der Begegnung mit menschlichen Existenzen kommt und nicht andersherum, um ehrlich zu sein. Tatsächlich hatte Tanner Berger ursprünglich schlicht damit konfrontiert, einen Film über eine italienische Migrantin zu machen, in die sich einen Schweizer Politiker verliebt. Die Figuren wirken exemplarisch, ein Vergleich mit Brecht bietet sich an, Tanner selbst sprach von einem epischen Kino. Man spürt eine Reibung im Film zwischen Naturalismus und Theorie, zwischen einem Verständnis von Menschen als widersprüchliche, individualistische Wesen und einem Bild von ihnen als beispielhafte Opfer von Systemen. Im Gegensatz zu Tizian (der Vergleich ist zugegeben groß) transzendiert die Präsenz und Materialität ihrer Bilder nicht die dahinter liegenden Ideen. Ich habe das Gefühl bekommen, einer angewandten Theorie zuzusehen. So wirkt alles ein bisschen gewollt auf mich oder zumindest wie eine arg bewusste dramaturgische Setzung: Der Sex, die Gespräche, die Liebe, die Politik. Ich sehe nie nur Individuen, ich sehe eine Gesellschaft in ihrer Abgestumpftheit. Le Milieu du Monde ist ein Lehrstück. Aber nicht nur. Denn in den Blicken auf die kahle, schneebedeckte Landschaft hält sich ein zeitüberdauerndes Gefühl, als würden wir alle unter einer Decke liegen, um auf eine Sonne zu warten, die nie kommt, wenn wir nicht hinausgehen.