Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Neige von Juliet Berto

Schnee gibt es in Juliet Bertos möglicherweise bekanntester Regiearbeit, gemeinsam mit Jean-Henri Roger, eigentlich kaum zu sehen. Kalt ist es trotzdem. Und so spielt der Film vor allem seine Stärke im Atmosphärischen aus, in dem, wie er in ein Milieu eintaucht, dessen Charakter sich vor allem in Farben und Lichtern zu erkennen gibt, wovon der Film so viel wie möglich zeigen will. Zu keiner Zeit verlässt der Film die Straßen des Pariser Viertel Pigalle – dort, wo sich Prostitution, Straßengewalt und Drogenhandel täglich und zu jeder Zeit kreuzen. Was heute eine gewisse touristische Anziehungskraft versprüht, das bescheidene Nachdämmern des Moulin Rougelichts, dem fehlt schon hier die gewisse Exzessivität des Rausches, die in allen Geschichten seit dem Grand Guignol einst lebendig gehalten wurde. Eine Stripshow auf offener Straße sieht eher aus wie ein kleines Jahrmarktstheater als eine Verführungsinszenierung. Viel wichtiger ist hier das Handeln mit Amphetaminen. Kokain beziehungsweise Neige. Oder soll es doch Heroin sein? Bobby, ein Drogendealer, verteilt zwischen den Reihen der Zuschauer seinen Stoff. Lange wird es jedoch nicht dauern, bis ihn die Polizei durch einen Hinweis entdeckt und am Ende einer Verfolgungsjagd plötzlich tötet. Am Tresen eines der vielen Lokale im Pigalle, wo Anita, gespielt von Juliet Berto selbst, arbeitet, bedauert man seinen Tod. Jeder hat von dem Ereignis bereits gehört, nicht wenige kannten den Jungen.

Daneben erzählt der Film von einem Drogenabhängigen, der in eine Krise stürzt, weil er keinen Stoff mehr besitzt. Außerdem von einem derangierten Boxer, der Anita mal etwas grob, mal etwas zärtlicher umwirbt. Zwischen all den Geschichten, die sich miteinander verzweigen, wie die Straßen des Viertels, befindet sich Juliet Berto als eine Gefährtin der Verlorenen und Verlassenen. Weniger eine Beobachterin des Geschehens, als eine, die zweifellos handeln, aufopferungsvoll den Menschen bei ihren Problemen zur Seite stehen will, aber dann doch an der Ohnmacht scheitert, die drohend über der Ort zu liegen scheint, so wie die Kamera die Straßenzüge und Plätze gelegentlich von oben betrachtet. Neben Anita geht meist ein Straßenpriester durch die Straßen, gespielt von Robert Liensol, der ihre Rolle verdoppelt. Gemeinsam wirken sie wie engelhafte Seelsorger, fast wie Sozialarbeiter, ihre eigenen Probleme spielen kaum eine Rolle. Bertos Film versucht dabei gerade die Vielschichtigkeit des Lebens im Viertels hörbar zu machen, wenn in den zahlreichen Bars und Läden weniger Französisch, sondern mehr Arabisch, Italienisch oder Kreolisch gesprochen wird. Dahingehend tritt das künstlerische Anliegen, einen Film mit einer abgeschlossenen, spannungsreichen Handlung zu erzählen, in Neige zugunsten eines sozialen Auftrags, mit dem sich Juliet Berto wohl eher identifiziert, allmählich in den Hintergrund. Die Handlungsstränge zerfließen und Anita lässt sich mitreißen, was auch für persönlichen Grenzen der Figuren gilt, so wie Anita in der U-Bahn von einem Fremden unwillentlich geküsst oder ihr Freund am Ende des Films blutspritzend vor weißen Fliesen erschossen wird. Der Exzess bleibt ein Bild.

Was Bertos Kino als Regisseurin und Schauspielerin eint, wird vielleicht nirgends so deutlich wie in einer zunächst verwirrend wirkenden Szene im Boxstudio. Von einem auf den anderen Moment wechseln ihre Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen als befände sie sich in einem Schaukampf, der nicht dazu dient, den Gegner zu beeindrucken oder zu besiegen, sondern ihn zum gemeinsamen Tanzen zu bewegen. In einem Augenblick glaubt man, Berto ginge zu weit, sie verzieht den Mund etwas zu stark, überrascht, von dem, was passiert, schaut etwas zu schief, nur um im nächsten eine ausgleichende Bewegung, wie eine Verlagerung des Körperschwerpunkts von ihr zu sehen. Ihre Arbeit ist keine mit Allegorien, nicht unbedingt ein Kino der Intellektualität, viel mehr bewegt sie sich durch ihre Filme mit einem anhaltendem Gestus des Ausprobierens und Überraschens, der zwischen realer Ernsthaftigkeit und spielerischem Einfallsreichtum changiert und danach sucht, wie weit man mit dem eigenen Körper gehen kann. In jedem Faustschlag, sei er auch noch so gekünstelt, närrisch, lockend oder infantil, steckt indes eine muskuläre Anspannung, die sich ihrer Bedeutung noch nicht ganz sicher ist.