Text: David Perrin
Die fünfte Einstellung besteht aus einem Kameraschwenk von rechts nach links über das Panorama des titelgebenden Siels, mit den scheinbar sinnlosen, schief in den Schlamm gehämmerten Holzpfählen verschiedener Größen, die die Grenze zwischen Wasser und Land bilden; das Wasser selbst wirkt bewegungslos, es spiegelt nicht einmal den grauen Himmel; am Ende des Schwenks Häuser, die in der trüben Landschaft von ihrer eigenen Einsamkeit zerdrückt werden. Eine trügerische Machtlosigkeit geht vom Siel aus, und im Wahrnehmen des Bildes könnten einem Worte wie „schön“, „poetisch“ und „künstlerisch“ einfallen. Aber das Bild auf solche zu reduzieren, wäre nichts weiter als eine Zierde, um die eigene Blindheit zu vertuschen.
Was also gibt es zu sehen?
Auf den ersten Blick erscheint das Dorf, an dessen Ende das alte Siel liegt, trotz der Zeichen der Zivilisation, leer, unheimlich, vergessen. Doch dann zeigt sich das erste Wesen: Ein Kind mit Schultasche auf dem Rücken und Mütze auf dem Kopf, das eine matschige, von Regenpfützen und kahlen Bäumen gesäumte Straße entlanggeht. Auf der linken Seite zweistöckige Häuser mit offenen Fensterläden, jedes Gebäude von Mauern umzäunt; auf der rechten dünne, hölzerne Strommasten, die zusammen mit der Straße und dem sich von der Kamera entfernenden Kind, den Blick zum Horizont leiten. Dann, für einen flüchtigen Moment (blinzelt man, ist er schon weg) dreht sich das Kind um, und schaut in die Kamera, schaut auf uns. Dieses Über-die-Schulter-Schauen mag als Sinnbild für Nestlers Gesamtwerk gelten: Ein Blick in die Vergangenheit, auf das, was früher mal war und nie wieder zurückkehren wird, was aber zugleich flussähnlich, träge oder tobend, in die Gegenwart fließt, sie überschwemmt.
Was gibt es noch?
Eine alte Frau, die einen Brief in einen Briefkasten wirft, die Backsteine des Postamts teilweise weiß gebleicht; das an der Mauer befestige Schild mit der komischen Aufschrift „Kraftpost“. Weiße Tücher auf einer Wäscheleine, die heftig im Wind flattern – unvorstellbar, dass sie bei diesem nassen Wetter jemals trocknen.
Was noch?
Arbeitende und trinkende Seemänner, Kinder, die Stöcke als Lanzen durch die Luft werfen, morsche, von Sträuchern überwucherte Holzschuppen, rostige Boote, die wie tote Tiere am Ufer herumliegen, Schiffsteile, die schon längst ihren Zweck aufgegeben haben, weltabgekehrte Häuser mit wie für immer geschlossenen Vorhängen; Schlammbespritzte Autos, Mopeds, ölverschmierte Gesichter, ein Denkmal aus Stein für die „gefallenen Helden“ der beiden Weltkriege, der Wind, der Horizont, der schmale Himmel. Das Siel ist der lebensmüde Begleiter, der mit distanzierter Fürsorge beobachtet und miterlebt, wie die Kinder groß werden, wie die Seemänner ihre Blicke auf das weite Meer werfen, und wie die Alten ihre Gedanken an Vergangenheit und Zukunft mit Bier und Schnaps wegspülen. Ein geduldiges Beobachten des langsamen Verschwindens des Dorfes, das gefangen ist zwischen einem fernen, nie wiederkehrenden Damals und einem prekären Jetzt. „Und ich möchte wirklich manchmal wissen, was zu erzählen ist“, sagt das Siel über die Briefe schreibenden Einwohner. Ja, doch irgendwann wird die Zeit kommen, wenn es nichts mehr zu erzählen gibt.