Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notizen zu Peter Nestler: Ein Arbeiterclub in Sheffield

Text: Michel­le Koch

Im Zen­trum steht die titel­ge­ben­de Insti­tu­ti­on, der 1938 gegrün­de­te und bis zu den Dreh­ar­bei­ten ste­tig wach­sen­de Arbei­ter­club „Dial House Social Club“, in dem sich Shef­fields Arbeiter:innen an den Wochen­en­den und nach den täg­li­chen Stra­pa­zen zum gesel­li­gen Bei­sam­men­sein, zum Reden, Rau­chen, Bier­trin­ken, Karten‑, Bil­lard- oder Bin­go­spie­len tref­fen. Hier wird ihnen und ihren Fami­li­en nicht nur an fünf Tagen in der Woche ein musi­ka­li­sches Unter­hal­tungs­pro­gramm mit Bands und Künstler:innen aus unter­schied­li­chen Gen­res gebo­ten. Die geleis­te­ten Bei­trä­ge und die durch den Gas­tro­no­mie­be­trieb erwirt­schaf­te­ten Ein­nah­men bie­ten den Mit­glie­dern auch ein Min­dest­maß an Sicher­heit in finan­zi­el­len und gesund­heit­li­chen Not­la­gen, Rege­ne­ra­ti­ons­maß­nah­men gegen kör­per­li­che Gebre­chen, die sich nach jah­re­lan­ger Arbeit mani­fes­tie­ren, sowie die Mög­lich­keit, ihre Kin­der auf Aus­flü­ge zu schi­cken. Nicht durch den Arbeits­kampf der Pro­le­ta­ri­sier­ten, son­dern durch ihren selbst­or­ga­ni­sier­ten Zusam­men­schluss jen­seits der Fabrik­mau­ern scheint an die­sem Ort die Uto­pie ver­wirk­licht, der ent­frem­de­ten und ver­ein­zeln­den Lohn­ar­beit einen Sinn, etwas Eige­nes, Leben­di­ges, Mensch­li­ches ent­ge­gen­zu­set­zen. Dass für die­ses Frei­zeit-Refu­gi­um die Arbeit im Stahl­werk, an den Hoch­öfen und Fließ­bän­dern aber gera­de kon­sti­tu­ie­rend ist, wird in Ein Arbei­ter­club in Shef­field in kei­nem Moment aus­ge­blen­det. Von Beginn an arbei­tet Nest­ler, der in einer Viel­zahl sei­ner Fil­me den Lebens­be­din­gun­gen der hand­werk­lich und kör­per­lich Arbei­ten­den Sicht­bar­keit ver­leiht, den unauf­lös­li­chen Zusam­men­hang zwi­schen den unter­schied­li­chen sozio­öko­no­mi­schen Orten her­aus, die den All­tag sei­ner Protagonist:innen prä­gen. Nicht etwa durch erklä­ren­den Spre­cher­text oder Inter­views, son­dern durch atmo­sphä­ri­sche O‑Töne, die­ge­ti­sche Musik und die Abfol­ge der poe­ti­schen, gleich­sam distan­zier­ten wie von Empa­thie zeu­gen­den Bil­der, die er mit dem Kame­ra­mann Dirk Alver­mann im Stahl­werk, auf den Stra­ßen und im Arbei­ter­club von Shef­field ein­ge­fan­gen hat: Musiker:innen auf der Büh­ne, Arbeiter:innen beim Ver­las­sen der Fabrik oder in einem fah­ren­den Bus, Kin­der, die auf den Stra­ßen spie­len, Frau­en beim Ein­kauf, Män­ner in Anzü­gen beim Kar­ten­spie­len, Arbei­ter an einem Glüh­ofen, beim Bear­bei­ten eines Metall­blocks, bei der Kaf­fee­pau­se, Män­ner und Frau­en beim Tan­zen, erschöpf­te Gesich­ter, die in die Kame­ra lachen, Arbei­ter­hän­de, die einen Bin­go­schein aus­fül­len, Arbei­ter­hän­de, die Besteck­grif­fe boh­ren, Ket­ten­hun­de, Wohn­blocks und rau­chen­de Schorn­stei­ne. In einer prä­zi­sen Mon­ta­ge, deren Rhyth­mus maß­geb­lich von den ein­ge­streu­ten Foto­gra­fien bestimmt wird, die Zäsu­ren set­zen, den Fluss unter­bre­chen, macht Nest­ler nicht nur die Dia­lek­tik der wider­strei­ten­den Rea­li­tä­ten erfahr­bar, die hier wie im Leben der Pro­le­ta­ri­sier­ten koexis­tie­ren. Er öff­net den Blick auch für die Rea­li­tä­ten der unter­pri­vi­le­gier­tes­ten sozia­len Grup­pen, die an den Fließ­bän­dern und Maschi­nen der Fabri­ken sowie auf der Show­büh­ne des Arbei­ter­clubs wir­ken, aus der schein­bar soli­da­ri­schen Arbeiter:innengemeinschaft jedoch aus­ge­schlos­sen blei­ben. Exem­pla­risch für die­se Mar­gi­na­li­sier­ten: Ein Schwar­zes Mäd­chen, das vom Rand aus auf das fröh­li­che Rin­gel­rei­hen der Alters­ge­nos­sin­nen schaut, zum Kreis der Tan­zen­den aber kei­nen Zugang fin­det. Dass die „Arbei­ter“ bei der Fern­seh­aus­strah­lung des Films 1965 von der deut­schen Sen­de­an­stalt kur­zer­hand aus dem Titel ver­bannt und durch „Men­schen“ ersetzt wur­den, zeugt vom poli­tisch-auf­klä­re­ri­schen Poten­zi­al, das Nest­lers Film – und nicht nur die­sem – innewohnt.