Text: Michelle Koch
Im Zentrum steht die titelgebende Institution, der 1938 gegründete und bis zu den Dreharbeiten stetig wachsende Arbeiterclub „Dial House Social Club“, in dem sich Sheffields Arbeiter:innen an den Wochenenden und nach den täglichen Strapazen zum geselligen Beisammensein, zum Reden, Rauchen, Biertrinken, Karten-, Billard- oder Bingospielen treffen. Hier wird ihnen und ihren Familien nicht nur an fünf Tagen in der Woche ein musikalisches Unterhaltungsprogramm mit Bands und Künstler:innen aus unterschiedlichen Genres geboten. Die geleisteten Beiträge und die durch den Gastronomiebetrieb erwirtschafteten Einnahmen bieten den Mitgliedern auch ein Mindestmaß an Sicherheit in finanziellen und gesundheitlichen Notlagen, Regenerationsmaßnahmen gegen körperliche Gebrechen, die sich nach jahrelanger Arbeit manifestieren, sowie die Möglichkeit, ihre Kinder auf Ausflüge zu schicken. Nicht durch den Arbeitskampf der Proletarisierten, sondern durch ihren selbstorganisierten Zusammenschluss jenseits der Fabrikmauern scheint an diesem Ort die Utopie verwirklicht, der entfremdeten und vereinzelnden Lohnarbeit einen Sinn, etwas Eigenes, Lebendiges, Menschliches entgegenzusetzen. Dass für dieses Freizeit-Refugium die Arbeit im Stahlwerk, an den Hochöfen und Fließbändern aber gerade konstituierend ist, wird in Ein Arbeiterclub in Sheffield in keinem Moment ausgeblendet. Von Beginn an arbeitet Nestler, der in einer Vielzahl seiner Filme den Lebensbedingungen der handwerklich und körperlich Arbeitenden Sichtbarkeit verleiht, den unauflöslichen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen sozioökonomischen Orten heraus, die den Alltag seiner Protagonist:innen prägen. Nicht etwa durch erklärenden Sprechertext oder Interviews, sondern durch atmosphärische O-Töne, diegetische Musik und die Abfolge der poetischen, gleichsam distanzierten wie von Empathie zeugenden Bilder, die er mit dem Kameramann Dirk Alvermann im Stahlwerk, auf den Straßen und im Arbeiterclub von Sheffield eingefangen hat: Musiker:innen auf der Bühne, Arbeiter:innen beim Verlassen der Fabrik oder in einem fahrenden Bus, Kinder, die auf den Straßen spielen, Frauen beim Einkauf, Männer in Anzügen beim Kartenspielen, Arbeiter an einem Glühofen, beim Bearbeiten eines Metallblocks, bei der Kaffeepause, Männer und Frauen beim Tanzen, erschöpfte Gesichter, die in die Kamera lachen, Arbeiterhände, die einen Bingoschein ausfüllen, Arbeiterhände, die Besteckgriffe bohren, Kettenhunde, Wohnblocks und rauchende Schornsteine. In einer präzisen Montage, deren Rhythmus maßgeblich von den eingestreuten Fotografien bestimmt wird, die Zäsuren setzen, den Fluss unterbrechen, macht Nestler nicht nur die Dialektik der widerstreitenden Realitäten erfahrbar, die hier wie im Leben der Proletarisierten koexistieren. Er öffnet den Blick auch für die Realitäten der unterprivilegiertesten sozialen Gruppen, die an den Fließbändern und Maschinen der Fabriken sowie auf der Showbühne des Arbeiterclubs wirken, aus der scheinbar solidarischen Arbeiter:innengemeinschaft jedoch ausgeschlossen bleiben. Exemplarisch für diese Marginalisierten: Ein Schwarzes Mädchen, das vom Rand aus auf das fröhliche Ringelreihen der Altersgenossinnen schaut, zum Kreis der Tanzenden aber keinen Zugang findet. Dass die „Arbeiter“ bei der Fernsehausstrahlung des Films 1965 von der deutschen Sendeanstalt kurzerhand aus dem Titel verbannt und durch „Menschen“ ersetzt wurden, zeugt vom politisch-aufklärerischen Potenzial, das Nestlers Film – und nicht nur diesem – innewohnt.