Text: Maja Roth
Das stolze idealistische Votum, das den Menschen zum Maß aller Dinge erhebt, wird 1929 von Sergej Tretjakov in seinem Aufsatz Die Biografie der Dinge aufs Korn genommen; aufs Sandkorn, um genau zu sein, wenn Tretjakov schreibt: »diese Formeln sind nichts anderes als Sandkörnchen, um die herum sich die bürgerliche Kunst kristallisiert, die Kunst einer Epoche der freien Konkurrenz und des Wettbewerbs.« Am klassisch-bürgerlichen Romancier stört ihn das Gefräßige; Helden würden mit unstillbarem Hunger – um der Subjektivität willen – die ganze Realität verschlingen. Tretjakov stellt dem eine Erzählweise gegenüber, die Dinge und ihre Produktionsprozesse ernst nimmt und damit Gesellschaft erst wahrhaft sichtbar macht: »an der Biografie des Dings sind unbedingt die Massen beteiligt. Also nicht der Einzelmensch, der durch das System der Dinge geht, sondern das Ding, das durch das System des Menschen geht.«
Die Forderung Tretjakovs, der für die Literatur reklamierte, »solche Bücher wie ›Der Wald‹, ›Das Brot‹, ›Die Kohle‹, ›Das Eisen‹, ›Der Flachs‹, ›Die Baumwolle‹, ›Das Papier‹, ›Die Lokomotive‹, ›Der Betrieb‹ sind noch nicht geschrieben. Wir brauchen sie (…)«, wird zwischen 1969 und 1975 in einer Reihe für das schwedische Fernsehen produzierter Filme realisiert. Peter und Zsóka Nestler interessieren sich in diesen 16mm-Filmen für Dinge in ihrem Gang durch menschgemachte Systeme genauso wie für deren spezifische Stofflichkeit und sozialhistorischen Wandel. Wider die Resignation gegenüber dem Fernsehen als ideologischer Mattscheibe arbeiten sie mit dem Medium im Sinne einer kritisch-emanzipativen Medienpädagogik, die Produktionszusammenhänge historisch einbettet und nachvollziehbar macht. Der Zweiteiler Hur gör man Glas? ist in seiner Stoffauswahl ganz den vielgestaltigen Aggregat- und Produktionszuständen eines Materials verschrieben, das gewissermaßen vom Sandkörnchen bis hin zu seiner Kristallisation durch viele Hände (Teil 1: Hantverksmässig) und Maschinen (Teil 2: Maskinell) gleitet.
Als Kostbarkeit aus den venezianischen Werkstätten in Murano dem Adel und in bleigefaßter bemalter Form der Kirche vorbehalten, umhüllte Glas und dessen Produktion lange ein alchemischer Schleier. Als in Werner Herzogs Herz aus Glas etwa das Wissen um die Rubinglasherstellung mit dem Glasbläsermeister Mehlbeck verstirbt, verfällt die Bevölkerung eines bayrischen Dorfes in eine psychedelisch-prophetische Entrücktheit. Das Filmbild verklärt sich, wie der verzerrte Blick durch mittelalterliche Butzenscheiben. Demgegenüber ist Peter und Zsóka Nestler an einer Entmythologisierung des Materials gelegen. Mit anthropologischem Interesse setzt der erste Teil des Films mit einem Objekt vor zweitausendfünfhundert Jahren in Ägypten ein, geht über zu den römischen Kolonien am Rhein und verlautbart schließlich: »Glas war eine Kostbarkeit«. Nun wird in poetischem Schwarz-Weiß, das in kontrastreichen Einstellungen von Schmelzöfen oder dem Einsatz von Kühlflüssigkeit von der unmittelbaren Präsenz der Elemente berichtet, jeder einzelne Handgriff des manufakturellen Herstellungsprozesses sichtbar. Glas ist ein Komposit aus Quarzsand, Soda und Kalk, manchmal Metalloxiden; es ist aber auch ein Komposit aus Fertigkeiten wie Schaufeln, Kratzen, Blasen – Modeln, Walken, Prüfen – Schleifen, Bemalen und Waschen, wie uns die Montage verrät, die Bilder aus unterschiedlichen Betrieben zu einem Produktionsablauf verkettet
Auch die Materialität des Herstellungsprozesses interessiert die Kamera: das Eisenrohr der Glasmacherpfeife steht gleichberechtig neben der hölzernen Model, die der Form der liquiden Glasmasse Halt gibt. Großaufnahmen der Hände machen das Feingefühl im Umgang mit dem Material sichtbar: In jenen Händen steckt ein Wissen über die Verhaltensweisen des Glases, über dessen Ausdehnung und Schwerkraft. Diese evidente, begreifliche wie augenscheinliche Nachvollziehbarkeit verfolgt Peter Nestlers Kamera und Kommentar: »Wenn die Zusammensetzung der Glasmasse falsch war, wurde das Glas als krank bezeichnet. Es zerfiel nach einiger Zeit.«
Die objektive Welt, die Welt der Dinge und Prozesse, interessiert auch den Kulturfilm der 1930er-Jahre. Landschaftsfilme, Filme bäuerlichen Lebens und die scheinbar sachliche, entdramatisierte Beobachtung von Herstellungsprozessen, sind etwa Sujets der Reichsstelle für den Unterrichtsfilm. Nestlers Uppför Donau, Ödenwaldstetten und Filme der objektbiographischen Reihe wie Tyg oder Bergshantering / Järnhantering verhalten sich aber mit ganz anderem Erkenntnisinteresse im Umgang mit ihren Sujets. Wenn Wilfried Basse 1936 erzählt, Wie ein Ziegelstein entsteht, verschwindet der Mensch hinter dem Ziegelstein; die Arbeiter werden zu dem Arbeiter stilisiert. Peter und Zsóka Nestler verweigern sich der Verallgemeinerung und wenden sich mit geduldiger Kamera der Feinmotorik zu, die von den Bedingungen der Arbeit erzählt. Das erzählerische Interesse Nestlers mit der Losung »auch die Donau ist ein Sozialphänomen« geht gleichberechtigt mit den Phänomenen vor der Kamera um: »Vom Verwert- und Verderbprozeß der Ökonomie und der Bürokratie sind Menschen wie Dinge in gleicher Weise betroffen. (…) Weil Nestler ökonomisch denkt, gerinnt das Unbelebte nicht zur Allegorie«, beobachtet Sebastian Feldmann.
Wie eine große Kontrastmontage verhält sich der zweite Teil zum ersten. Hatte die ägyptische Glasamphore die Erzählung einer traditionsreichen Kulturgeschichte eröffnet, so springt das Bild einer Anzeige mit Zahlenwerten zur industriellen Produktionsweise des Ist-Zustands dieser vermeintlichen Entwicklungslinie. Hier dirigiert die Maschine das Maß. Regelmäßige Kolbenstöße geben den Takt vor, der keine Akzente kennt. Flaschen, Linsen, Waschmaschinen-Bullaugen werden nach einem strikten Rezept produziert, das sich in Zahlen und genauen Maßeinheiten ausdrückt. Nicht ohne Staunen versucht die Kamera die megalomanen wie kleinteiligen, verwinkelten Strukturen der Anlagen zu verfolgen. War in der Manufaktur jeder Handgriff sicht- und nachvollziehbar, wird der Herstellungsprozess in den austauschbaren automatisierten Maschinen abstrakt; waren die Elemente wie Feuer und Wasser zuvor präsent, blickt die Kamera nun auf metallverhüllte Formen, von der nur der Kommentar verrät, dass es sich um Heizwannen oder Kühltunnel oder »Maschinen vom Typ IS« handelt. Wenn Karl Marx 1857 beipflichtete, »die Produktion produziert (…) nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand«, dann fragt sich, welche Subjekte in jenen undurchdringlichen maschinellen Anlagen modelliert werden.
Tretjakov hatte im Sinne der Forderung nach dem Neuen Menschen insistiert: »Ja der Mensch selbst wird vor uns in einer neuen und vollwertigen Weise entstehen, wenn wir ihn wie ein Ding auf dem Erzählfließband entlanglaufen lassen.« Peter und Zsóka Nestler aber kümmern sich um den Einzelmenschen, den Tretjakov noch zur Seite gedrängt hatte. Das Nach- und Nebeneinander der Produktionsverfahren deckt auf: Den Neuen Menschen hätte der Kontrolleur der Fließbandproduktion womöglich mit müdem Blick aussortiert und damit den Kreislauf von Korn und Kristallisation im Handumdrehen rücküberführt.