Text: Gary Vanisian
Die Kamera blickt auf die Frankfurter Wolkenkratzer-Silhouette (Ende der 1980er Jahre wirkte sie noch bescheiden aber schon markant) nördlich des Mains. Unter ihnen die Stadt: Bauten der 1950er und 1960er Jahre. Ohne die in der Bildmitte sichtbaren Gebäude der Katharinenkirche und der Liebfrauenkirche würde nichts davon zeugen, dass diese Stadt, über deren Dächer die Kamera nun zu schwenken beginnt, schon Jahrhunderte vorher existiert hat. Dann erfasst die Kamera noch die Paulskirche, Teile der Gebäude auf dem Römerberg, und endet schließlich beim Kaiserdom St. Bartholomäus. Es folgt die aufsichtige Aufnahme einer achtspurigen, vielbefahrenen innerstädtischen Autostraße, gesäumt von Baukränen. Unter diese Aufbruch, aber auch graue Einförmigkeit vermittelnden Bilder legt sich Peter Nestlers Stimme: „In den mehr als 800 Jahren jüdischer Geschichte in Frankfurt hat es drei jüdische Gemeinden gegeben. Die erste wurde niedergemacht im Mai 1241. Die zweite fiel einem Pogrom zum Opfer im Jahr 1349. Die dritte haben die Nazis auf dem Gewissen. Heute leben etwa 3.000 Juden in dieser Stadt. 1933 waren es über 30.000.“
Im Auftrag des am 9. November 1988 eröffneten Jüdischen Museums Frankfurt entstanden, drückt Nestlers Film schon in den ersten 30 Sekunden eine schmerzliche Wahrheit aus: Die Stadt Frankfurt existiert, wächst und lebt weiter, im sogenannten Gang der Geschichte lässt sie sich nicht aufhalten von der immer wieder aufbrechenden Vernichtungs-wut. Das Zur des Titels Zur Geschichte der Juden in Frankfurt stellt sicher, dass wer auch immer diesen Film im Museum betrachtet, keine vollständige Geschichte der Frankfurter Judenheit erwartet. Der Vergleich mit der längeren Fernseharbeit Die Judengasse zeigt, wie Nestler dort im historischen Abriss dieses Films präziser, aber nicht weniger persönlich darstellen konnte. Dort heißt es, ebenfalls zu Beginn: „Die Juden in Frankfurt hat es schon vor 1000 Jahren gegeben. In der Stadt findet man die Spuren. […] Damals [1628] war es schon die dritte jüdische Gemeinde in Frankfurt. Die erste Gemeinde endete in der ‚Judenschlacht‘ 1241. Der zweiten Gemeinde wurde 1349 in den Tagen der Pest und der durchs Land ziehenden fanatischen Geißler der Garaus gemacht.“
„Niedergemacht“, „haben […] auf dem Gewissen“, „Garaus gemacht“: Nestler wählt Formulierungen, die im heutigen Sprachgebrauch besonders historisch wirken, um die jahrhundertealte Tradition der Schändung des jüdischen Lebens in Frankfurt zu vermitteln. Zur Geschichte der Juden in Frankfurt unternimmt den leidenschaftlichen, man möchte fast sagen alchimistischen Versuch, das untergangene jüdische Leben durch die Beschwörung seiner physischen Spuren, seiner Dinglichkeit wiederherzustellen: Er lebt von seinen Texturen, Oberflächen, der Haptik von Fotografien und Stichen, Grabsteinen, Fotos, Reklamemarken, Seiten aus festtäglichen Gebetbüchern und Chroniken, und „Devotionalia“: eine antisemitische „Freifahrtkarte nach Jerusalem – hin und nicht mehr zurück“. Ein besonderes Augenmerk richtet der Film auf herausragende jüdische Persönlichkeiten der Frankfurter Geschichte, darunter die Familie Rothschild, der Schriftsteller und Publizist Ludwig Börne, der Chemie-Unternehmer Leopold Cassella, der Bankier und Stifter Theodor Stern. Grabsteine erinnern an ihre Namen. Am Ende des Films: die riesige Baustelle, auf der das Kundenzentrum der Frankfurter Stadtwerke errichtet wird. Zwei Kinder schauen über einen niedrigen Bauzaun auf die Gerüste, das Metall und die Kräne, die bald die kürzlich aufgefundenen Reste der ehemaligen Frankfurter Judengasse ein zweites Mal unerbittlich zudecken werden. Nestler findet Worte für eine Ohnmacht, für die es keine Worte gibt: „Für wenige Monate war ein Zusammenhang da.“