Nur scheinbar antiquiert – Über das Projekt The Songbook

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich etwas schief angesehen werde, wenn ich behaupte, dass ich fast ausschließlich „klassische“ bzw. „Kunstmusik“ höre. So, als würde mein Gegenüber mir sagen wollen: „Du bist doch ein junger Mensch, was willst du mit solch antiquierten Dingen?“ Es ist ja nicht so, dass ich Pop, Rock, Jazz usw. schlechter finden würde, ganz im Gegenteil, jedes Mal wenn ich mich in diese, für mich fast unbekannten, Gefilde der moderneren Musik wage, entdecke ich neue spannende Facetten, die sowohl meine Rezeption von zeitgenössischer Musik, als auch die von klassischer Musik und Kunst im Allgemeinen maßgeblich beeinflussen. Deshalb frage ich mich manchmal, warum der umgekehrte Prozess bei meinem mich schief ansehenden Gegenüber nicht auch genauso stattfindet. Gibt es denn irgendeine Hürde, die jemanden davon abhält sich mit „klassischer“ Kunst zu befassen? Ich glaube eigentlich nicht: ein Lied, ein Instrumentalstück, eine Oper, ist für mich genauso aktuell und lebensnahe, so greifbar und gegenwärtig, wie all jene kleinen und großen Situationen, denen ich täglich begegne. Texte und Musik stecken ständig in meinem Kopf und verbinden sich mit all meinen Erlebnissen und das immer wieder aufs Neue in wunderlichen und wunderbaren Symbiosen. Allzu oft dachte ich mir schon: „Wie passend wäre es jetzt, jemandem diesen oder jenen Vers von da Ponte, Wagner oder Hofmannsthal, diese Melodie von Mozart oder Beethoven entgegenzuwerfen? Die Verbindung aus Gegenwärtigem und dem scheinbar Antiquierten, die sich für mich und sicherlich viele andere wie von selbst ergibt, hat mich schon immer fasziniert. Deshalb war ich schnell begeistert als ich von dem Projekt The Songbook – Klassisches Lied trifft Videoclip gehört habe. Unter Unterstützung von ORF und Arte wurden acht Kurzfilme, die aus Konzepten von Studierenden der Wiener Filmakademie entstanden, realisiert. Die Filme sollten jeweils als eine Art Videoclip zu einem Kunstlied gestalten werden. Die Lieder wurden dabei von jungen Sängerinnen und Sängern eingespielt, die im Voraus von einer Jury ausgewählt wurden. Alle Beiträge und Informationen gibt es auf der Seite des Projekts: http://concert.arte.tv/de/collections/songbook

Natürlich bildeten sich in meinem Kopf schnell verschiedenste Erwartungen und Fragen. So spannend ich die Idee der „Verfilmung“ eines Liedes finde, so schwierig, um nicht zu sagen problematisch, ist sie auch. Es eröffnet sich ein riesiger Diskurs um das Verhältnis von Musik und Film im Allgemeinen und von bereits bekannten Stücken und Film im Speziellen. Ich selbst ändere eigentlich ständig meine Einstellung darüber, wie ich mir nun eine spannende Verbindung aus Klassischem und Modernem, aus Bekanntem und Unbekanntem, des Musikalischen mit dem Filmischen vorstelle. Mal denke ich mir: Rhythmus und Phrasierung sind doch Grundlagen der Musik, sowie des Films, also sollte der Film die feinen Regungen der Musik in sich aufnehmen und durch seine eigenen Mittel weiterspinnen. Ein anderes Mal möchte ich, dass die beiden Medien sich aneinander reiben, bis sie in einem gewaltigen Akt zerbersten. Meine eigene Einstellung zu einzelnen Lieder prägt meine Erwartungen an diese Verbindung und schließlich meine Wahrnehmung selbst maßgeblich mit. Habe ich das Lied schon oft gehört? Mag ich es? Wenn Lars von Trier beispielswiese in Melancholia die Welt zur Ouvertüre Tristan und Isolde untergehen lässt, nehme ich die Bilder, trotz ihrer Kraft, kaum mehr wahr, weil meine emotionale Bindung zur Musik überwiegt und meinen Blick überdeckt. Unabhängig von all diesen Faktoren, ist für mich allerdings das Wichtigste, dass in dieser Verbindung und Musik niemals a priori einer der beiden Verbindungspartner die Überhand gewinnt oder versucht, die Mittel des anderen zu kopieren. Natürlich kann es zu einem Spiel, oder besser gesagt Kampf, zwischen Musik und Film kommen, in dem das Musikalische und das Filmische wechselseitig die Oberhand gewinnen, aber es sollte niemals einen endgültigen Sieger in diesem Kampf geben. Am Ende ist es allerdings immer so, dass die eigenen Erwartungen nicht vollständig erfüllt werden können, deshalb bin ich immer offen für alles Neue, scheint es mir zu Beginn auch noch so unpassend. Und noch jedes Mal wurde ich überrascht über die Möglichkeiten, die diese Verbindung aus Musik und Film in sich trägt, und die Konzepte, die daraus entstehen, manchmal positiv, manchmal negativ.

So steht es für mich auch mit The Songbook: manche Beiträge vermochten mich zu fesseln, manche weniger. Mehrmals war ich sehr überrascht über die unkonventionellen Zugänge zu den Liedern, welche die jungen Regisseure für sich entdeckten, manchmal war ich etwas enttäuscht. Meine erste kleine dieser Enttäuschungen erlebte ich, als ich die Liste der realisierten Filme sah bzw. die Liste der Lieder, denen die Clips gewidmet wurden. Von insgesamt acht Liedern sind fünf von Franz Schubert komponiert. Ich hatte bereits mit einer Dominanz Schuberts gerechnet, wird er doch wie kein anderer deutscher Komponist mit dem Kunstlied verbunden, aber ich war dann doch überrascht, dass mehr als die Hälfte der Beiträge ein Schubert-Lied beinhalten. Erschwerend kommt für mich hinzu, dass die anderen drei Lieder von Robert Schumann, Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart sind, was ja an sich nichts Schlechtes ist, bedenkt man allerdings den engen Zeitrahmen zwischen Wiener Klassik und Frühromantik, in dem wir uns durch diese Auswahl bewegen, so erscheint es doch als eine verpasste Chance, dass nicht Lieder aus dem späten 19. und dem 20. Jahrhundert mit in die finale Auswahl kamen. Die musikalische Bandbreite der dargebotenen Filme beschränkt ist also leider sehr beschränkt und es wäre sicherlich sehr spannend gewesen zu sehen, wie beispielsweise ein Videoclip zu einem von Schönbergs atonalen Liedern ausgesehen hätte. Diese erste Enttäuschung verzog sich allerdings rasch, da ich schnell bemerkte, dass den Filmen zu den Liedern sehr unterschiedliche Herangehensweisen und Konzepte zugrunde liegen.

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Der erste Beitrag nimmt sich den Anfang von Schuberts Winterreise zur Grundlage. Henning Backhaus zeigt sich als Regisseur von Gute Nacht sehr textnahe. Zwar wird die Handlung durchaus charmant mit Sockenpuppen nachgestellt und das Ende des Liedes wird neu als Suizid interpretiert, durchaus ironisch, bedenkt man, dass es sich bei dem Lied eben um den Anfang der Winterreise handelt, doch stellt dieser Clip für mich genau das dar, was ich nicht sehen möchte: Eine tatsächliche Verfilmung des Liedes, also einen szenischen Nachvollzug der im Liedtext beschriebenen Handlungen. Es gibt zahlreiche direkte Bezüge zwischen Bild und Liedtext, die völlig abgeschlossen sind und weder Spannungs- noch Interpretationsräume öffnen. Backhaus‘ Film gelang es zwar recht ansehnlich, ein gewisse Komik mit dem doch eigentlich sehr ernsten Lied zu verbinden, ohne dass sie deplatziert wirken würde, aber ansonsten konnte mich der Clip kaum berühren, die Verbindung zwischen Musik und Film gelang für mich nicht, da jene Korrelation, die sich – leider zu stark – zwischen Bildinhalt und Liedtext wiederfindet, auf der musikalischen Ebene überhaupt nicht stattfindet. Es ist nicht leicht zu beschreiben, wodurch diese Verbindung gestört wird, es sind die bereits erwähnten Elemente des Rhythmus und der Phrase, die sich im Film nicht mit denen der Musik zusammenpassen wollen: Die Bewegungen der Handpuppen wirken zu schnell, manche Schnitte unpassend. Es ließe sich wohl damit am besten erklären: es ist so, als würden sich Film und Lied völlig unabhängig voneinander bewegen, aber was an sich für große Spannungsfelder sorgen könnte, wird durch die zu starke Bezugnahme des Bildes auf den Liedtext wieder verhindert.

Barbara Schärf hingegen versucht Schuberts Heidenröslein, durchaus modern, als Geschichte einer Vergewaltigung zu lesen und geht somit einen Schritt weiter, als es Backhaus tat. Es ist schade, dass diese Interpretation, die ja durchaus auf der Hand liegt und auch nicht neu ist, dem Text und dem Lied insofern nicht gerecht wird, als dass es sie einschränkt. Das Lied kann aus heutiger Sicht durchaus mehrdeutig verstanden werden, es kann eine Geschichte von Avancen eines jungen Mannes an ein junges Mädchen sein, ein Liebesspiel zwischen Koketterie und Ernst, Gewalt und Zärtlichkeit, eine Geschichte über Zusammenkunft und Trennung oder eben eine Darstellung einer Vergewaltigung. Diese Ambivalenz wird durch die einseitige Interpretation völlig vernichtet. Der Film zeigt uns eine (bereits bekannte) Facette des Liedes, obwohl er uns eigentlich neue Sichtweisen eröffnen könnte.

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Ich möchte gar nicht behaupten, dass es die unbedingte Aufgabe dieser Verbindung ist, Spannungsfelder und neue Sichtweisen zu erzeugen, aber Heidenröslein und Gute Nacht hätten dadurch sicherlich einen bleibenderen Eindruck bei mir hinterlassen. Dass unter Umständen eine sehr textnahe Umsetzung des Liedes als Videoclip eine spannende Option sein kann, zeigt Stefan Polaseks Der Erlkönig. Es sei allerdings erwähnt, dass Polasek mit der Wahl seines Liedes sozusagen einen strategischen Vorteil hat. Dem Erlkönig liegt ein höchst-dramatischer – und ich meine das im Sinne des Dramas – Text zugrunde, in dem mehrere Personen auftreten und sprechen. Schubert machte sich dies bei der Vertonung des Stückes zunutze und obwohl das Lied für nur eine Stimme geschrieben ist, klingt es, als würden drei Menschen (vier, wenn man den Erzähler zählt) sprechen. Schuberts Erlkönig ist durchaus bekannt dafür, einen enormen Spannungsaufbau zu haben, bei dem bestimmte Phrasen in immer weiter versträkter Form auftreten und Dissonanzen über das Stück hinweg immer weiter intensiviert werden. Polasek hat also eine perfekte Grundlage, um das Lied fast eins zu eins umzusetzen. Über hastige Kamerabewegungen nimmt er den galoppierenden Rhythmus der Klavierbegleitung in den Film auf, durch immer schneller werdende Schnitte vollzieht der den Spannungsaufbau der Musik nach. Seine Figuren sprechen lippensynchron den Text des Liedes mit. Polasek gelingt selbst jener Spagat, der im Heidenröslein misslang: den Subtext der Pädophilie ist in der Darstellung des Erlkönigs durchaus spürbar, ohne dass dabei jemals der Eindruck eines Fiebertraums gänzlich vernichtet wird, zu dem entpuppt sich der Erlkönig als Vater des Kindes, ohne dass jedoch wirklich eindeutige Implikationen entstehen. So schwebt Polaseks Erlkönig zwischen Textnähe und mehrere Interpretationsbenen ohne dabei jemals uneinheitlich oder abgelöst vom Lied zu wirken.

Eine völlig andere musikalische Grundlage hat sich Michael Podogil für seinen Videoclip ausgesucht. Der arme Peter von Schumann ist eine Momentaufnahme, ein Moment, der eine Geschichte impliziert, die sich davor abgespielt hat, ein Moment, der vermutlich auch in eine Handlung mündet, die sich nach ihm abspielt, aber schlussendlich: ein Moment. Und ein Moment ist es auch, den Podogil inszeniert, wenn der arme Punk Peter, bei der Goth-Hochzeit abseits der Gesellschaft und starrt verloren auf das glückliche Ehepaar. Die Zeit steht still, einzig ein schmunzelnder Sänger und die Kamera bewegen sich frei durch die Menge. Niemand bewegt sich, doch die Kamera bringt alles zum Tanzen. Podogils Beitrag ist kurz (er inszeniert nur den ersten Teil des Lieds), aber durchaus einprägsam. Die stark stilisierten und absurd wirkenden Bilder, bleiben im Kopf hängen, aber am Ende ist es nicht mehr: Der arme Peter ist schön anzusehen, auf eine absurde Wiese durchaus witzig und leicht, aber kein mitreißendes Erlebnis. Vielleicht liegt es auch nur an der Kürze, aber es wirkt für mich so, als würde es dem Clip an Dramaturgie fehlen, als würden die Bilder und Bewegungen, in ständig gleich bleibender Intensität einfach nebeneinander stehen, als würde die implizierten Konflikte dieses einen Moments, der hier aufgenommen wird, nur auf der Ebene des Liedes, nicht aber im Bild wiederzufinden sein.

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Wie gesagt: Manchmal wird man überrascht, manchmal eröffnen sich einem anderen Zugänge zu einem Lied, an die man selbst nicht gedacht hätte. So ein anderer ist Tobias Dörr, der einen Videoclip zu Mozarts Abendempfindung an Laura realisiert hat. Es gibt zwei Punkte, in denen sich dieser Beitrag von den vorherigen unterscheidet: Dörrs Inszenierung bewegt sich zwar thematisch in einem Bereich mit dem Lied, erzählt aber eine Handlung, die völlig unabhängig ist. Des Weiteren setzt Dörr auf einen Stil, der sich weit von dem wegbewegt, was in den anderen Beiträgen gezeigt wird. Es scheint vielleicht der Ansatz der anderen Regisseure gewesen zu sein, auf etwas in klassischem Sinne ästhetisches wie ein Kunstlied, mit im klassischen Sinne ästhetischen Bildern zu reagieren. Dörrs Bilder hingegen sind in dieser Hinsicht unästhetisch, sie ziehen ihren Reiz jedoch aus einer gewissen Energie, die ihnen innewohnt, eine lebendige Energie, die so wirkt, als wäre sie rein zufällig entstanden. Freilich sind die meisten Einstellungen auf ihre Weise durchkomponiert und bewusst gesetzt, doch wirken sie immer so, als würde alles, was sich innerhalb des Kaders befindet, ein Eigenleben führen, völlig unabhängig vom Regisseur, lebendig und greifbar. Dass der gesamte Clip dennoch in sich unglaublich schlüssig wirkt zeugt davon, dass dieser Eindruck trügt, hier stand definitiv ein klares Konzept dahinter, aber es verbirgt sich hinter dem, was sich dort vor der Kamera abspielt. Alle Intellektualität ist plötzlich verschwunden, es ist reine Lebenskraft zu spüren. Dieser „nicht-intellektuelle“ Zugang ist es vielleicht, der jene Hürde niederreißt, die zwischen unserem Alltag und der „klassischen“ Kunst steht. Was Kunst und unseren Alltag nämlich vereint, ist das Leben und die Energie, die in beiden steckt.

Mit dieser Feststellung lässt sich möglicherweise erklären, warum ich zu Magdalena Chmielewskas Gretchen am Spinnrade keinen Zugang finden konnte. Chmielewska schafft es sehr wohl filmische Äquivalente zur Musik zu finden, ohne sie dabei eins zu eins umzusetzen, so wird aus dem drehenden Spinnrad die wogende Ostsee; es gelingt ihr auch den – durchaus sehr extremen – Spannungsaufbau des Lieds nachzuvollziehen. Sie verliert sich jedoch zu stark in kalten, viel zu streng komponierten Bildern von gleich aussehenden Frauen in gerade geschnittenen Kleidern, die in symmetrischen Anordnungen nebeneinander sitzen. Diese Gretchen am Spinnrade ist ein Beitrag, dessen Konzept ich spannend finde, dessen Umsetzung ansprechend, ein Beitrag, von dem ich gedacht hätte, dass er mir zusagt. Doch am Ende war es nur Kälte, keine schweres Herz, keine Unruhe. Vielleicht sind es die natürlichen menschlichen Regungen, von denen es, trotz des komplexen Beziehungsgeflechtes, das dargestellt wird, keine in dem Beitrag gibt, die mir fehlen.

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Meist sind es die kleinen Gesten, die viel intensiver sind als das größte Spektakel. Diese kleinen, menschlichen Gesten, die mir im Gretchen am Spinnrade so schmerzlich fehlten, bilden das Zentrum von Henri Steinmetz‘ Videoclip zu Wer nie sein Brot mit Tränen aß von Franz Schubert. Steinmetz kreiert den längsten Beitrag zum Projekt The Songbook, indem er dem Lied ein sechsminütiges filmisches Präludium voranstellt. Dieses Vorspiel sensibilisiert den Zuschauer für das kommende Lied. In ihm werden kleine Regungen durch Close-Ups zu gigantischen Gesten aufgeblasen. Die leisesten Geräusche, wie das Reiben von Haut an Haut, oder Haut an Stoff, werden technisch verstärkt. Jede Bewegung wird verlangsamt, fließt langsam vor sich hin und dann ohne merklichen Übergang in die nächste. Ohne dass Musik zu hören ist, wird hier der Film zur Musik. Leitmotive werden eingeführt, menschliche Leitmotive: riesige Augen, Gemälde an der Wand und Hände, sprechende Hände. Zärtlichkeit und Gewalt stehen direkt nebeneinander. Weil die Gesten ineinander fließen, heben sich auch die Grenzen zwischen den Emotionen auf. Wie in Goethes Text verbinden sich die scheinbaren Kontraste Trauer und Freude, Liebe und Hass zu einer Einheit. Einem solch abstrakten Text filmisch gerecht zu werden, ist nicht leicht, wohnt doch dem Film stets eine gewisse konkrete Bestimmtheit inne, doch durch diese enorme Intensivierung der Mikrogesten gelingt es Steinmetz des real Unsichtbare filmisch sichtbar zu machen und so eine gewisse Ebene der Abstraktion zu erreichen, die für solch ein Lied durchaus nötig ist.

Der letzte Beitrag zum Songbook stammt von Anna Hawliczek und Patrick Vollrath. Haydns Lob der Faulheit ist eine kuriose Wahl, welche die beiden Regisseure allerdings in ein simples, aber passendes Konzept einbinden. Ein musikalisches Lob der Faulheit ist ja eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, genauso ein filmisches. Ein Sonnenaufgang vor alpiner Kulisse, dies ist das Lob der Faulheit für Hawliczek und Vollrath. Es ist freilich nicht leicht und überhaupt nicht faul, solch einen Beitrag zu drehen, aber der Gag funktioniert geht trotzdem auf. Durch die eingehenden Zwischentitel, die erklären, in welchem Kontext der Clip entstanden ist, wird man sofort darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Film auch über eine metafilmische Ebene verstanden werden kann und soll. Durch die Einfachheit des Beitrags, dem aber sehr viel Kraft innewohnt, begleitet er die Gedanken des Zuschauers weiter. Was als einfacher Gag beginnt, regt im Nachhinein plötzlich zum Denken an, wird wieder zum Gag und transformiert sich dann in etwas ganz anderes. Es ist ein Beitrag der zum Nachdenken anregt und über den es sich nachzudenken lohnt, denn die Sichtweise auf diesen scheinbar so einfachen wie schönen Sonnenaufgang ändert sich mit jedem erneuten Gedankenanstoß. Es ist ein Clip, der sich erst im Kopf des Zuschauers zusammensetzt und sich dort immer wieder aufs Neue wandelt, genauso wie es beim Nachdenken über Lessings Text, der an sich schon eine Unmöglichkeit darstellt, geschieht.

Ein – wenn auch kleine – Erwähnung soll noch den Sängerinnen und Sängern gewidmet sein, die an dem Projekt teilgenommen haben: Kristján Jóhannesson (Gute Nacht), Pavel Kvashnin (Heidenröslein), Matthias Hoffmann (Erlkönig), Daniel Foki (Der arme Peter), Anna-Katharina Tonauer (Abendempfindung an Laura), Caroline Jestaedt (Gretchen am Spinnrade), Dymfna Meijts (Wer nie sein Brot mit Tränen aß) und Theresa Zisser (Lob der Faulheit). Es ist hier leider nicht der Platz, auf gesangliche Feinheiten einzugehen, aber es sei gesagt, dass die Sänger selbstverständlich einen großen Teil zur Gestaltung und Wirkung der einzelnen Clips beitragen. Grundsätzlich sei erwähnt, dass sie alle ihren Part mit großem Text- und Musikverständnis gesungen haben und die Textverständlichkeit bei jedem einzelnen der Beiträge optimal ist.

Das Songbook ist eine Art von Projekt, für das ich schnell Interesse entwickelt habe, weil es sich mit einer Problematik befasst, mit der ich mich tagtäglich (gedanklich) beschäftige: die Frage nach dem, was „klassische“ Kunst ausmacht, sodass sie uns auch nach Jahrhunderten noch emotional so nahe gehen kann und die Aufgabe, diese Elemente, welche sie zur Kunst machen, nach außen zu kehren, gewissermaßen die Antiquitäten zu entstauben und neu zu entdecken. Doch nicht nur das: es gilt auch, die Antiquitäten umzumodeln, vielleicht zu zerschlagen und neu zusammenzusetzen. Allzu großer Respekt vor der „klassischen“ Kunst hält uns manchmal davon ab, mit ihr frei umzugehen. Es ist ein schmaler Grat, auf dem man sich bewegt, wenn man Kunstlieder vertont, eine keiner Bereich im Grenzgebiet zwischen intellektueller Kunsthörigkeit und Blindheit vor allgemeiner künstlerischer Qualität. Sich in dieser kleinen Grauzone zu bewegen, in der aus alter Kunst neue Kunst entstehen kann, ist nicht einfach und es gelingt auch nicht allen Regisseuren, die sich am Projekt The Songbook beteiligt haben, aber einige Beiträge erfüllten meine – doch sehr hoch angesetzten – Vorstellungen doch und werden mir in Erinnerung bleiben als Beispiel dafür, wie diese Gratwanderung gelingen kann.

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