Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Mole Antonelliana

Rainer on the Road: Museo Nazionale di Cinema in Turin

Ein ver­reg­ne­ter Sams­tag­nach­mit­tag in Turin. Trotz der ungüns­ti­gen Wet­ter­ver­hält­nis­se bebt das his­to­ri­sche Zen­trum der pie­mon­te­si­schen Stadt mit Leben. Die Tori­ne­si schüt­zen sich vor dem beharr­li­chen Pras­seln des Regens mit über­di­men­sio­nier­ten Regen­schir­men, die an jeder Ecke von Stra­ßen­ver­käu­fern feil­ge­bo­ten wer­den. Ich ver­wen­de ungern Regen­schir­me. Sie sind für mich Aus­druck der mensch­li­chen Hybris, die glaubt sich den Natur­ge­wal­ten mit einer dün­nen Schicht Kunst­stoff ent­zie­hen zu kön­nen. Sper­rig sind die Din­ger auch, ande­ren Pas­san­ten sticht man bei der kleins­ten Unacht­sam­keit die Augen aus und im Übri­gen schaf­fe ich es nie den Schirm so gen Him­mel aus­zu­rich­ten, dass ich auch tat­säch­lich tro­cken blei­be. Außer­dem hat man ohne­hin nie einen dabei, wenn es nötig wäre. Kurz, Regen­schir­me sind eine rie­si­ge Mogel­pa­ckung und eine gro­ße Ent­täu­schung und des­halb hab ich den Spleen kul­ti­viert, kei­ne zu ver­wen­den. Ich ver­ste­he ohne­hin nicht ganz, wes­halb die Turi­ner Bevöl­ke­rung über­haupt auf die­se unsin­ni­ge Erfin­dung zurück­greift, denn die Bou­le­vards in der Innen­stadt sind von groß­zü­gi­gen Arka­den gesäumt, die auch bei unfreund­lichs­ten Wet­ter­be­din­gun­gen eine tro­cke­ne Fort­be­we­gung ermög­li­chen. Das Rät­sel scheint gelöst, als ich in eine der Sei­ten­gas­sen ein­bie­ge, die von der Via Po (und ihren Arka­den) abzwei­gen. Dort hat sich eine lan­ge Schlan­ge von Men­schen gebil­det, die unter frei­em Him­mel, aber mit auf­ge­spann­ten Regen­schir­men, vor dem Ein­gang des Museo Nazio­na­le di Cine­ma aus­har­ren. Tra­gen die Turi­ner des­halb Regen­schir­me mit sich her­um, dass sie jeder­zeit tro­cken ins Kino­mu­se­um gelan­gen kön­nen? Ist das Muse­um des­halb auf dem ita­lie­ni­schen Zwei-Cent-Stück abgebildet?

Das alles ist das Wunsch­den­ken eines Cine­phi­len, denn nach einer kur­zen Erkun­dung der Lage zeigt sich, dass die lan­ge Schlan­ge dem Pan­or­a­ma­lift gilt, der die Besu­cher bis an die Spit­ze der 167 Meter hohen Mole Anto­nel­lia­na bringt. Die Mole, ursprüng­lich von der jüdi­schen Gemein­de Turins als Syn­ago­ge in Auf­trag gege­ben, ist das Wahr­zei­chen der Stadt. Der Archi­tekt Ales­san­dro Anto­nel­li hat­te damals in einem Anflug von Grö­ßen­wahn ein Gebäu­de geplant, dass die Mit­tel der Auf­trag­ge­ber bei wei­tem über­stieg, wes­halb die Mole nie als Syn­ago­ge genutzt wur­de und bereits vor ihrer Fer­tig­stel­lung an die Stadt ver­kauft wer­den muss­te. Das Museo Nazio­na­le di Cine­ma ist erst seit 2000 im Gebäu­de unter­ge­bracht, und bequem über einen zwei­ten Ein­gang (ganz ohne Schlan­ge­ste­hen) zu errei­chen. Das ist gut so, denn eine Stun­de im Regen ist ein Besuch nicht wert.

Museo Nazionale di Cinema

Grob lässt sich der Auf­bau des Muse­ums in drei Tei­le ein­tei­len: eine umfang­rei­che Samm­lung über Pre-Cine­ma, eine Art Aben­teu­er­spiel­platz im Erd­ge­schoss der rie­si­gen Kup­pel­hal­le und einem Aus­stel­lungs­be­reich in der Gale­rie dar­über. Zusätz­lich gehört zum Muse­um noch ein Kino, das im Gebäu­de neben­an unter­ge­bracht ist und als Cine­ma­thek und Fes­ti­val­ki­no genutzt wird. Wie ich schon in mei­nem Text über das Muse­um für Film und Fern­se­hen in Ber­lin ange­merkt habe, ist die Idee eines Muse­ums, das sich mit Film beschäf­tigt ohne die Wer­ke selbst ins Zen­trum zu rücken pro­ble­ma­tisch. Das Museo Nazio­na­le di Cine­ma umschifft das zunächst geschickt, indem es sich im ers­ten Teil der Aus­stel­lung als Tech­nik­mu­se­um prä­sen­tiert und sich auf prä-kine­ma­to­gra­phi­sche For­men kon­zen­triert. „Archäo­lo­gie des Kinos“ heißt der Rund­gang, der meh­re­re hun­dert Jah­re an Ent­wick­lung im Bereich opti­scher und audio­vi­su­el­ler Medi­en abdeckt. Dabei erfüllt die Aus­stel­lung alle Anfor­de­run­gen eines moder­nen Muse­ums, kom­bi­niert theo­re­ti­sche Erklä­run­gen der Funk­ti­ons­wei­se von Lin­sen und Gerät­schaf­ten mit inter­ak­ti­ven Ele­men­ten. Von unter­schied­lichs­ten Lin­sen- und Spie­gel­sys­te­men über Kai­ser­pan­ora­men bis hin zum Kine­to­scope las­sen sich alle die­se frü­hen For­men audio­vi­su­el­ler Medi­en und opti­scher Spie­le­rei­en aus­pro­bie­ren und anfas­sen. Es gibt im wahrs­ten Sinn des Wor­tes viel zu tun und zu sehen. Was man sieht ist aller­dings eine ande­re Fra­ge: Erschre­ckend wie vie­le der Aus­stel­lungs­stü­cke als Digi­ta­li­sa­te prä­sen­tiert wer­den, und das ohne in irgend­ei­ner Wei­se auf den Fak­si­mi­le-Cha­rak­ter der Expo­na­te hin­zu­wei­sen. Es ist sinn­los Later­na magi­ca-Pro­jek­tio­nen mit dem Bea­mer zu simu­lie­ren, sinn­los in ein Kine­to­scope einen klei­nen Bild­schirm ein­zu­bau­en, sinn­los Fil­me der Gebrü­der Lumiè­re digi­tal zu pro­ji­zie­ren und mit dem Rat­tern eines Pro­jek­tors zu unter­le­gen. Es ist sinn­los und falsch. Es ver­lei­tet den Besu­cher die­se For­men des Audio­vi­su­el­len mit dem Seh­erleb­nis eines Flach­bild­schirms oder einer DCP-Pro­jek­ti­on zu ver­glei­chen. Die­ser Ver­gleich führt unwei­ger­lich zu einer Her­ab­stu­fung des Pre-Cine­ma als pri­mi­ti­ve Vor­stu­fe in einer ima­gi­nier­ten linea­ren Ent­wick­lungs­ge­schich­te der media­len Bil­derpro­duk­ti­on, anstatt sie als eigen­stän­di­ge Phä­no­me­ne zu ver­ste­hen, die unter den gege­be­nen tech­ni­schen, öko­no­mi­schen und sozia­len Vor­aus­set­zun­gen, bestimm­te Bedürf­nis­se der Men­schen nach Bil­dern und Geschich­ten befrie­dig­ten. Es ist erschre­ckend und fatal, dass sich ein Kino­mu­se­um (und das Museo Nazio­na­le di Cine­ma ist dar­in nicht das ein­zi­ge) mit der Glo­ri­fi­zie­rung und Nost­al­gi­sie­rung des Kinos zufrie­den gibt und sich nicht dar­um bemüht Erklä­run­gen zu geben, wie und war­um Film, Kino und Gesell­schaft nun­mehr über hun­dert Jah­re so eng ver­zahnt sind. Es lässt sei­ne arg­lo­sen Besu­cher ohne tie­fe­res Ver­ständ­nis des­sen zurück, was ihnen eben auf­ge­tischt wur­de, indem es sogar noch ver­sucht sei­ne Täu­schungs­prak­ti­ken zu ver­schlei­ern, anstatt sie selbst­kri­tisch zu thematisieren.

Museo Nazionale di Cinema

Spä­tes­tens am Ende des Rund­gangs, wenn nach der Vor­füh­rung eini­ger Lumiè­re-Fil­me die Lein­wand hoch­ge­zo­gen wird und einem das Modell einer Loko­mo­ti­ve ent­ge­gen­kommt, hat sich der Ein­druck bestä­tigt, dass sich das Museo Nazio­na­le di Cine­ma eher als Ver­gnü­gungs­park denn als Muse­um ver­steht. Dem­entspre­chend geht es im zwei­ten Teil des Muse­ums, in der majes­tä­ti­schen Kup­pel­hal­le der Mole Anto­nel­lia­na, wei­ter. Dort wird ein publi­kums­wirk­sa­mes Pop­spek­ta­kel mit viel Pomp und Tra­ra gebo­ten, fast ohne jeg­li­che Kon­tex­tua­li­sie­rung oder kri­ti­sche Distanz. Die Räum­lich­kei­ten sind grob the­ma­tisch geord­net (Wes­tern, Musi­cal, Hor­ror,…) und beher­ber­gen bunt zusam­men­ge­wür­fel­tes Stück­werk aus Film­aus­schnit­ten, Pla­ka­ten, Set­fo­tos und Star­por­träts. Alles reiht sich will­kür­lich anein­an­der und giert um die Auf­merk­sam­keit der Besu­cher, die zu die­sem Zeit­punkt wohl gar nicht mehr anders kön­nen, als „Film“ und „Kino“ als eine lang ver­ges­se­ne Kul­tur­prak­tik zu ver­ste­hen, die frü­her ein­mal so etwas wie gesell­schaft­li­che Rele­vanz hat­te. Man wähnt sich im Inne­ren eines Süß­wa­ren­la­dens, alles ist bunt, schrill und zucker­süß und zu vie­le Kost­pro­ben füh­ren zu Herz­ra­sen, Kopf­weh und Bauch­schmer­zen. Der Begriff von Kino, der hier ver­mit­telt wird, ist der eines abge­dun­kel­ten Orts, an dem man sich gegen­sei­tig mit Pop­corn bewirft.

Flüch­tet man sich schnell aus der Kup­pel­hal­le in die Gale­rie, fin­det man dann auch kaum mehr Gefal­len an der impo­san­ten Samm­lung kuba­ni­scher Film­pla­ka­te, die im Moment als tem­po­rä­re Aus­stel­lung zu besich­ti­gen ist. Nach so viel Abstump­fung und Ärger­nis ver­sucht man die­sen wohl inter­es­san­tes­ten Teil des Muse­ums mög­lichst schnell hin­ter sich zu brin­gen, um sich im Regen von der kleb­ri­gen Gefall­sucht und Markt­hei­sche­rei rein­zu­wa­schen. Die Kühn­heit, Unan­ge­passt­heit und Abs­trak­ti­on mit der die kuba­ni­schen Zeich­ner sich in ihren Gegen­stän­den näher­ten, soll­ten sich die Kura­to­ren (wenn über­haupt jemand in die­sem Muse­um die­se Bezeich­nung ver­dient) auch zu Her­zen neh­men. Das nächs­te Mal stel­le ich mich auch lie­ber in den Regen und war­te auf den Panoramalift.