Keine Szene in Jacques Rivettes fabelhaften Secret défense existiert für die folgende oder ein größeres Konstrukt, sondern sämtliche Szenen sind in sich selbst ein ganzer Film, eine Sensation. Statt der relativen Existenz von Bildern, die nur atmen, damit eine Plotidee Luft bekommt, inszeniert Rivette für den Augenblick. Das wiederholte Aus- und Anziehen einer Jacke, eine unbewegliche Geste, ein Bild an der Wand, eine Spiegelung in einem Zugfenster am Bahnhof, all das ist Zeugnis der Dokumentation, die sich in der hochfiktionalen Welt von Rivette abspielt. Das Unbeschreibliche daran ist, dass er trotzdem in jeder Sekunde die Frage provoziert: Was kommt als nächstes? Diese Ansammlung an Momenten bedeutet und bedeutet nicht. Nichts liegt hier Ideen zu Grunde, alles folgt einer Logik der Bewegung. Die Bilder fragen danach gedeutet zu werden, aber geben neue Rätsel auf. Unter den Thrillern, die Rivette drehte, ist Secret défense mit Sicherheit der vollendetste. Die Geheimnisse und in sich selbst verschachtelten Schachteln, in denen diese bewahrt werden, sind hier virtuos ineinander gefügt.
Sylvie, gespielt von einer Sandrine Bonnaire am Rande der Ingrid Bergman ist Rivettes Versuchsobjekt. Sie arbeitet in einer gleichermaßen an Vertigo und der Orestie angelegten Handlung als Wissenschaftlerin, es geht um Genforschung, sie füllt blaue Flüssigkeiten in Glasbehälter, sie füllt rote Flüssigkeiten in Glasbehälter. In ihr arbeitet eine Spannung zwischen aktiver Protagonisten, die Steine ins Rollen bringt und passiver Mitfahrerin, die eigentlich immerzu nichts dafür kann. In dieser Art mischt Rivette zwei Tendenzen des Genres zu einer faszinierenden und irritierenden Figur. Eines Tages taucht ihr Bruder auf, Grégoire Colin in unbeweglichem Trotz. Er habe herausgefunden, dass der Tod ihres Vaters kein Unfall war, sondern Mord. Zusammen würde das mit einem gewissen Walser (Jerzy Radziwilowicz) hängen, Sie will zunächst nichts davon hören, dann wird sie neugierig und rutscht schließlich immer tiefer hinein. Es beginnt etwas, das man eigentlich gerne mit Floskeln wie „Katz-und-Maus-Spiel“ umschreiben würde. Allerdings spielt die fließend perfektionierte Kamera von William Lubtchansky und die in sich greifenden und aneinander vorbei gleitenden Bewegungen nicht mit bei diesem Spiel. Vielmehr zeigt Rivette auch die Wege, die zwischen Katz und Maus liegen. Wie Cristi Puius Aurora oder Michelangelo Antonionis Professione: reporter entgleitet die Narration immer wieder in ihre Umstände. Wie Puiu einmal zur überdurchschnittlichen Länge von Aurora sagte: „Es ist halt nicht so einfach, jemanden umzubringen.“
Eine unvergessliche Fahrt mit der Metro begleitet Sandrine Bonnaire in einem Findungsprozess und auf einer Reise. Sie steigt ein, fährt, steigt aus, geht durch den Bahnhof, wartet wieder, steigt wieder ein und fährt. Sie wird immerzu konfrontiert, muss verarbeiten, handelt, verarbeitet, verliert sich in der Fiktion, die sich nicht von einem Überbau ernährt, sondern von einem Mosaik, das sich beständig entzieht. Rivette fährt zielsicher auf sämtliche Auflösungen zu, um sie dann nochmal hinauszuzögern. Als würde man durch Schatten wandern, in Erwartung eines Lichts, um dann in einem anderen Schatten zu landen. Jede Offenbarung trägt ein neues Geheimnis in sich oder wird gar zum Geheimnis in der Person, der es offenbart wurde. Irgendwann wird das Versteck bei Rivette immer interessanter, als das was versteckt wird. Man denke an das Spinnennetz in seinem Le Pont du Nord, die Pillen in Céline et Julie vont en bateau oder jedes nächste Bild in Duelle. So wird Secret défense beinahe zum Meta-Thriller. Nur vergisst man, dass es überhaupt ein Thriller ist.
Die Bilder sind so aufgeladen mit Präsenz, dass sich die vergehende Zeit in Räumlichkeit verwandelt. Und der Raum wird zur moralischen und ästhetischen Frage. Existiert er etwa nur als Kulisse, als Stimmungsbild oder wie erklären sich die als Statisten getarnten Phantome, die in und aus den Bildern rücken wie Erinnerungen? Woher kommen die merkwürdigen Töne im Film? Wieso sind so viele Glasscheiben mit Kratzern versehen? Was ist es, dass uns weiter suchen lässt im Bild? Immer wieder kadriert Lubtchansky die Figuren hinter Glas, etwas ist unberührbar, festgefahren. Als wäre die Welt eine Rückprojektion. Alles erzählt von der Unvermeidlichkeit einer Reise, was dadurch verstärkt wird, dass die Wahrheiten des Films sich aus der Vergangenheit entfalten. Rivette sucht häufig Silhouetten und schattenhafte Figuren, die sich vor Fenster stellen. Dabei verändert er Positionen oft nur minimal und erzählt durch einen Schnitt die ganze Verunsicherung einer Figur, erzeugt Desorientierung und diese unheimlichen Drang jede kleine Präsenz im Film als eine Notwendigkeit wahrzunehmen.
Rot und Blau tauchen immer wieder im Film auf. Sie spielen ein eigenes Spiel. Sei es in den obligatorischen Handschuhen einer verdächtigen Frau, in knalligen Tönen an Wänden oder als anderweitige auffällige Kostümelemente. Eigentlich spielt jedes Objekt ein eigenes Spiel. Einmal verharrt Bonnaire auf einem Gemälde, die Kamera schwenkt darüber, im Ton sind Geräusche zu hören, die nicht in die Welt des Films zu gehören scheinen. Sie tragen einen hinfort, bringen einen zum Blicken, Lauschen, die Wahrnehmung wird geschärft. Nach Filmen von Rivette geht man oft mit anderen Augen durch Städte. Man nimmt sie als Labyrinth war, man vermutet hinter jedem Objekt ein Geheimnis und Löcher in Wänden existieren nur, um durch sie hindurch zu verschwinden. Neben Städten und entlegenen Orten sind es auch Häuser, die Rivette wie kaum ein Zweiter in ihrer Architektur verdeutlicht und gleichzeitig zu einem kaum zu durchdringenden Mysterium werden lässt. Man denkt dabei immer an seinen Céline et Julie vont en bateau, weil die Häuser zwischen ihrer realen Existenz und Kulissenhaftigkeit oszillieren. Eigentlich wird dort Theater gespielt wie in L’amour par terre. Aber die Kulisse des Theaters ist real. Genau in diesem Verhältnis findet sich Rivette. Die Location für das Haus von Walser habe er wegen der Treppe dort ausgesucht, sagt der Hitchcock-Fan Rivette. Eine Treppe, die schließlich das große Drama am Ende des Films begleiten wird. Dennoch filmt er die Treppe nicht so wie Hitchcock. Sie ist kein Zeichen für irgendwas, kein Indikator, sondern sie ist eine Treppe.
So oder so merkt man immerzu, dass irgendetwas nicht stimmt im Film, etwas ist nicht ganz dort, wo es sein sollte. Das gilt räumlich und zeitlich. Figuren werden meist in amerikanischen oder halbnahen Einstellungen leicht untersichtig kadriert, immer in Bewegung, die von der Kamera in beschwingten Fahrten oft im Halb- oder Gegenlicht eingefangen wird. Es entsteht eine enorme Verdichtung, die gegen und doch mit der Zeit arbeiten, die zwischen Katz und Maus vergeht. Vor allem die langsamen Zufahrten erzeugen eine immense Spannung, die nur aus Bewegung besteht. Lubtchansky zeigt uns auch wieder, was Schwarz ist. In dieser Hinsicht kann man ihn ruhig als Gustave Courbet des Kinos ansehen. Im Schwarz seiner Bilder lauert ein Unbehagen, das nur aus der Dunkelheit besteht. Auch die Montage von Nicole Lubtchansky arbeitet hin auf diese Präsenz des Kinematographen, die weiß, dass ein Schnitt das Auge mehr verunsichern kann, als ein Plotpoint. Dass alles geschieht aber nie so, dass es auf sich selbst aufmerksam macht. Es ordnet sich weder einer Handlung unter noch sich selbst, sondern existiert schlicht und unendlich als Kino. So wie der Übergang zwischen Tag und Nacht nicht einfach nur Wachsein und Schlafen bedeuten kann.