Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Rear Projections: Secret défense von Jacques Rivette

Kei­ne Sze­ne in Jac­ques Rivet­tes fabel­haf­ten Secret défen­se exis­tiert für die fol­gen­de oder ein grö­ße­res Kon­strukt, son­dern sämt­li­che Sze­nen sind in sich selbst ein gan­zer Film, eine Sen­sa­ti­on. Statt der rela­ti­ven Exis­tenz von Bil­dern, die nur atmen, damit eine Plotidee Luft bekommt, insze­niert Rivet­te für den Augen­blick. Das wie­der­hol­te Aus- und Anzie­hen einer Jacke, eine unbe­weg­li­che Ges­te, ein Bild an der Wand, eine Spie­ge­lung in einem Zug­fens­ter am Bahn­hof, all das ist Zeug­nis der Doku­men­ta­ti­on, die sich in der hoch­fik­tio­na­len Welt von Rivet­te abspielt. Das Unbe­schreib­li­che dar­an ist, dass er trotz­dem in jeder Sekun­de die Fra­ge pro­vo­ziert: Was kommt als nächs­tes? Die­se Ansamm­lung an Momen­ten bedeu­tet und bedeu­tet nicht. Nichts liegt hier Ideen zu Grun­de, alles folgt einer Logik der Bewe­gung. Die Bil­der fra­gen danach gedeu­tet zu wer­den, aber geben neue Rät­sel auf. Unter den Thril­lern, die Rivet­te dreh­te, ist Secret défen­se mit Sicher­heit der voll­endets­te. Die Geheim­nis­se und in sich selbst ver­schach­tel­ten Schach­teln, in denen die­se bewahrt wer­den, sind hier vir­tu­os inein­an­der gefügt.

Secret défense von Jacques Rivette

Syl­vie, gespielt von einer Sand­ri­ne Bon­n­aire am Ran­de der Ingrid Berg­man ist Rivet­tes Ver­suchs­ob­jekt. Sie arbei­tet in einer glei­cher­ma­ßen an Ver­ti­go und der Ores­tie ange­leg­ten Hand­lung als Wis­sen­schaft­le­rin, es geht um Gen­for­schung, sie füllt blaue Flüs­sig­kei­ten in Glas­be­häl­ter, sie füllt rote Flüs­sig­kei­ten in Glas­be­häl­ter. In ihr arbei­tet eine Span­nung zwi­schen akti­ver Prot­ago­nis­ten, die Stei­ne ins Rol­len bringt und pas­si­ver Mit­fah­re­rin, die eigent­lich immer­zu nichts dafür kann. In die­ser Art mischt Rivet­te zwei Ten­den­zen des Gen­res zu einer fas­zi­nie­ren­den und irri­tie­ren­den Figur. Eines Tages taucht ihr Bru­der auf, Gré­go­i­re Colin in unbe­weg­li­chem Trotz. Er habe her­aus­ge­fun­den, dass der Tod ihres Vaters kein Unfall war, son­dern Mord. Zusam­men wür­de das mit einem gewis­sen Wal­ser (Jer­zy Rad­zi­wi­lo­wicz) hän­gen, Sie will zunächst nichts davon hören, dann wird sie neu­gie­rig und rutscht schließ­lich immer tie­fer hin­ein. Es beginnt etwas, das man eigent­lich ger­ne mit Flos­keln wie „Katz-und-Maus-Spiel“ umschrei­ben wür­de. Aller­dings spielt die flie­ßend per­fek­tio­nier­te Kame­ra von Wil­liam Lubt­chan­sky und die in sich grei­fen­den und anein­an­der vor­bei glei­ten­den Bewe­gun­gen nicht mit bei die­sem Spiel. Viel­mehr zeigt Rivet­te auch die Wege, die zwi­schen Katz und Maus lie­gen. Wie Cris­ti Pui­us Auro­ra oder Michel­an­ge­lo Anto­nio­nis Pro­fes­sio­ne: repor­ter ent­glei­tet die Nar­ra­ti­on immer wie­der in ihre Umstän­de. Wie Puiu ein­mal zur über­durch­schnitt­li­chen Län­ge von Auro­ra sag­te: „Es ist halt nicht so ein­fach, jeman­den umzubringen.“

Eine unver­gess­li­che Fahrt mit der Metro beglei­tet Sand­ri­ne Bon­n­aire in einem Fin­dungs­pro­zess und auf einer Rei­se. Sie steigt ein, fährt, steigt aus, geht durch den Bahn­hof, war­tet wie­der, steigt wie­der ein und fährt. Sie wird immer­zu kon­fron­tiert, muss ver­ar­bei­ten, han­delt, ver­ar­bei­tet, ver­liert sich in der Fik­ti­on, die sich nicht von einem Über­bau ernährt, son­dern von einem Mosa­ik, das sich bestän­dig ent­zieht. Rivet­te fährt ziel­si­cher auf sämt­li­che Auf­lö­sun­gen zu, um sie dann noch­mal hin­aus­zu­zö­gern. Als wür­de man durch Schat­ten wan­dern, in Erwar­tung eines Lichts, um dann in einem ande­ren Schat­ten zu lan­den. Jede Offen­ba­rung trägt ein neu­es Geheim­nis in sich oder wird gar zum Geheim­nis in der Per­son, der es offen­bart wur­de. Irgend­wann wird das Ver­steck bei Rivet­te immer inter­es­san­ter, als das was ver­steckt wird. Man den­ke an das Spin­nen­netz in sei­nem Le Pont du Nord, die Pil­len in Céli­ne et Julie vont en bateau oder jedes nächs­te Bild in Duel­le. So wird Secret défen­se bei­na­he zum Meta-Thril­ler. Nur ver­gisst man, dass es über­haupt ein Thril­ler ist.

Secret défense von Jacques Rivette

Die Bil­der sind so auf­ge­la­den mit Prä­senz, dass sich die ver­ge­hen­de Zeit in Räum­lich­keit ver­wan­delt. Und der Raum wird zur mora­li­schen und ästhe­ti­schen Fra­ge. Exis­tiert er etwa nur als Kulis­se, als Stim­mungs­bild oder wie erklä­ren sich die als Sta­tis­ten getarn­ten Phan­to­me, die in und aus den Bil­dern rücken wie Erin­ne­run­gen? Woher kom­men die merk­wür­di­gen Töne im Film? Wie­so sind so vie­le Glas­schei­ben mit Krat­zern ver­se­hen? Was ist es, dass uns wei­ter suchen lässt im Bild? Immer wie­der kadriert Lubt­chan­sky die Figu­ren hin­ter Glas, etwas ist unbe­rühr­bar, fest­ge­fah­ren. Als wäre die Welt eine Rück­pro­jek­ti­on. Alles erzählt von der Unver­meid­lich­keit einer Rei­se, was dadurch ver­stärkt wird, dass die Wahr­hei­ten des Films sich aus der Ver­gan­gen­heit ent­fal­ten. Rivet­te sucht häu­fig Sil­hou­et­ten und schat­ten­haf­te Figu­ren, die sich vor Fens­ter stel­len. Dabei ver­än­dert er Posi­tio­nen oft nur mini­mal und erzählt durch einen Schnitt die gan­ze Ver­un­si­che­rung einer Figur, erzeugt Des­ori­en­tie­rung und die­se unheim­li­chen Drang jede klei­ne Prä­senz im Film als eine Not­wen­dig­keit wahrzunehmen.

Rot und Blau tau­chen immer wie­der im Film auf. Sie spie­len ein eige­nes Spiel. Sei es in den obli­ga­to­ri­schen Hand­schu­hen einer ver­däch­ti­gen Frau, in knal­li­gen Tönen an Wän­den oder als ander­wei­ti­ge auf­fäl­li­ge Kos­tüm­ele­men­te. Eigent­lich spielt jedes Objekt ein eige­nes Spiel. Ein­mal ver­harrt Bon­n­aire auf einem Gemäl­de, die Kame­ra schwenkt dar­über, im Ton sind Geräu­sche zu hören, die nicht in die Welt des Films zu gehö­ren schei­nen. Sie tra­gen einen hin­fort, brin­gen einen zum Bli­cken, Lau­schen, die Wahr­neh­mung wird geschärft. Nach Fil­men von Rivet­te geht man oft mit ande­ren Augen durch Städ­te. Man nimmt sie als Laby­rinth war, man ver­mu­tet hin­ter jedem Objekt ein Geheim­nis und Löcher in Wän­den exis­tie­ren nur, um durch sie hin­durch zu ver­schwin­den. Neben Städ­ten und ent­le­ge­nen Orten sind es auch Häu­ser, die Rivet­te wie kaum ein Zwei­ter in ihrer Archi­tek­tur ver­deut­licht und gleich­zei­tig zu einem kaum zu durch­drin­gen­den Mys­te­ri­um wer­den lässt. Man denkt dabei immer an sei­nen Céli­ne et Julie vont en bateau, weil die Häu­ser zwi­schen ihrer rea­len Exis­tenz und Kulis­sen­haf­tig­keit oszil­lie­ren. Eigent­lich wird dort Thea­ter gespielt wie in L’amour par terre. Aber die Kulis­se des Thea­ters ist real. Genau in die­sem Ver­hält­nis fin­det sich Rivet­te. Die Loca­ti­on für das Haus von Wal­ser habe er wegen der Trep­pe dort aus­ge­sucht, sagt der Hitch­cock-Fan Rivet­te. Eine Trep­pe, die schließ­lich das gro­ße Dra­ma am Ende des Films beglei­ten wird. Den­noch filmt er die Trep­pe nicht so wie Hitch­cock. Sie ist kein Zei­chen für irgend­was, kein Indi­ka­tor, son­dern sie ist eine Treppe.

Secret défense von Jacques Rivette
So oder so merkt man immer­zu, dass irgend­et­was nicht stimmt im Film, etwas ist nicht ganz dort, wo es sein soll­te. Das gilt räum­lich und zeit­lich. Figu­ren wer­den meist in ame­ri­ka­ni­schen oder halb­na­hen Ein­stel­lun­gen leicht unter­sich­tig kadriert, immer in Bewe­gung, die von der Kame­ra in beschwing­ten Fahr­ten oft im Halb- oder Gegen­licht ein­ge­fan­gen wird. Es ent­steht eine enor­me Ver­dich­tung, die gegen und doch mit der Zeit arbei­ten, die zwi­schen Katz und Maus ver­geht. Vor allem die lang­sa­men Zufahr­ten erzeu­gen eine immense Span­nung, die nur aus Bewe­gung besteht. Lubt­chan­sky zeigt uns auch wie­der, was Schwarz ist. In die­ser Hin­sicht kann man ihn ruhig als Gust­ave Cour­bet des Kinos anse­hen. Im Schwarz sei­ner Bil­der lau­ert ein Unbe­ha­gen, das nur aus der Dun­kel­heit besteht. Auch die Mon­ta­ge von Nico­le Lubt­chan­sky arbei­tet hin auf die­se Prä­senz des Kine­ma­to­gra­phen, die weiß, dass ein Schnitt das Auge mehr ver­un­si­chern kann, als ein Plot­point. Dass alles geschieht aber nie so, dass es auf sich selbst auf­merk­sam macht. Es ord­net sich weder einer Hand­lung unter noch sich selbst, son­dern exis­tiert schlicht und unend­lich als Kino. So wie der Über­gang zwi­schen Tag und Nacht nicht ein­fach nur Wach­sein und Schla­fen bedeu­ten kann.