Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Rückbilder

Ein Rück­bild in einem Film, das ist, wenn in einem Bild plötz­lich etwas offen­bar oder zwei­fel­haft wird, was man schon vor­her gese­hen hat. Als wür­den die Bil­der in einem Film aus sich her­vor­ge­hen wie die Blü­ten eines wie­der­keh­ren­den Echos. Man spürt, dass es etwas in die­sen Bil­dern gibt, das sie bin­det an eine Zeit­lich­keit, der man selbst zunächst gar nicht gewahr war. Bis sich eben exakt in die­sem Bild, die­sem Rück­bild etwas Unbe­stimm­tes mani­fes­tiert, das weder mit Erin­ne­rung noch mit Effekt­ha­sche­rei zu tun hat, son­dern schlicht die Dun­kel­heit mit einem wei­te­ren Schat­ten durch­zieht, sodass man den Ein­druck hat jemand wür­de einem mit einem Fin­ger in die Augen tip­pen. Dabei sind Rück­bil­der nie nar­ra­tiv, sie beleuch­ten eher den Rand des Bil­des, eine klei­ne Ges­te, viel­leicht gar eine Lee­re, ein Nichts und aus die­sem schält sich in der Fol­ge eine Wie­der­kehr. Sie ermög­li­chen einen Rück­wurf des Betrach­ters. Nicht auf sich selbst oder etwas jen­seits des Kinos, viel­mehr eine Art Flash­back, der nicht auf der Lein­wand, son­dern im Auge des Betrach­ters statt­fin­det. Als wür­de die die­ge­ti­sche Welt ein­mal ausatmen.

Ein Rück­bild, das kön­nen meh­re­re Bil­der sein (zum Bei­spiel bei Apichat­pong Weer­a­set­ha­kul und sei­nem Ceme­tery of Sple­ndour, als man in einer Mon­ta­ge­se­quenz plötz­lich zu bemer­ken beginnt, dass man womög­lich träumt), das kön­nen wie­der­keh­ren­de Bil­der sein (zum Bei­spiel bei Nico­las Roeg, der Rück­bil­dern eine Zukunfts­form geben kann, weil sie vor und nach ihrer nar­ra­ti­ven Gegen­wart exis­tie­ren) und das kön­nen auch ein­zel­ne Bil­der sein (etwa bei Tsai Ming-liang und sei­ner Ein­schlaf­sze­ne in What Time is it The­re?, bei der man förm­lich hyp­no­ti­siert wird, sich selbst ver­lässt und wie­der zurück­kehrt). Nun ist es sehr schwer über die­se Phä­no­me­ne zu schrei­ben, denn ihnen liegt der ein­fa­che Ver­dacht bei, dass sie Teil einer sub­jek­ti­ven Seh­erfah­rung sind. Das mag in vie­len Fäl­len sicher­lich zutref­fen, jedoch unter­liegt die Posi­tio­nie­rung die­ser Bil­der und auch das Hal­ten ihrer Dau­er eine sehr bewuss­ten Ent­schei­dung in den genann­ten Fäl­len und so stellt sich sehr wohl die Fra­ge, ob es Kri­te­ri­en gibt, in denen ein Bild zu einem Rück­bild wird, Augen­bli­cke, in denen Bil­der rück­wärts wirken.

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Im Kon­text einer Dau­er der ein­zel­nen Ein­stel­lung ver­mag sich ein lang­sa­mes Auf­kla­ren voll­zie­hen. Die­ses Auf­kla­ren ist zum Bei­spiel in Bela Tarrs Sátán­tan­gó bezeich­nen­der­wei­se eine Ver­un­k­la­rung, denn sie wird vor­an­ge­trie­ben durch einen kom­men­den und gehen­den Nebel, der glei­cher­ma­ßen unwirk­lich und zufäl­lig wirkt. Aus dem Off hört man die Erzähl­stim­me die Gedan­ken des jun­gen Mäd­chens wie­der­ge­ben. Dar­in geht es um die Ver­knüp­fung ver­schie­dens­ter Ele­men­te des Lebens und je län­ger man die­ses Bild mit einem Baum im Vor­der­grund, einer Rui­ne im Hin­ter­grund und Nebel­schwa­den, die sich dazwi­schen bewe­gen, betrach­tet, des­to stär­ker spürt man, dass etwas im Bild davor pas­siert sein muss, was man womög­lich gar nicht so rea­li­siert hat­te. Nicht, dass man ver­passt hät­te, wie sich das Mäd­chen töd­lich ver­gif­tet und auf den Tod war­tend hin­legt, aber der Tod selbst, sei­ne nicht dar­stell­ba­re Exis­tenz und Kon­se­quenz wird einem erst im Rück­bild bewusst. Das Mus­ter­bild eines Todes in der Kame­ra fin­det sich womög­lich in Pro­fes­sio­ne: repor­ter von Michel­an­ge­lo Anto­nio­ni, in der berühm­ten vor­letz­ten Ein­stel­lung des Films, als die Kame­ra sich durch das ver­git­ter­te Fens­ter nach drau­ßen bewegt, ja schwebt und den Prot­ago­nis­ten aus der Prä­senz ver­liert. Es wur­de viel über die­se Sze­ne nach­ge­dacht, man­che sahen dar­in die Auto­no­mie der Kame­ra bei Anto­nio­ni, ande­re eine spi­ri­tu­el­le Dar­stel­lung der See­le, die den Kör­per ver­lässt. Womög­lich han­delt es sich aber nur um die zeit­lich ver­zö­ger­te Dar­stel­lung eines ein­tre­ten­den oder bereits ein­ge­tre­te­nen, eines in jedem Fall unum­gäng­li­chen Moments, der eben nach einem sol­chen Rück­bild ver­langt. Eben jenes legt Cris­ti Puiu in sei­nem Moar­tea dom­nu­lui Lăză­res­cu in das Schwarz nach dem Film. Hier wirkt das Ende des Film rück­wir­kend wie der Tod der Figur. Der Mann liegt und hört auf zu atmen. Man bleibt bei ihm, dann wird das Bild schwarz. Der Tod mög­li­cher­wei­se. All­ge­mein bie­ten sich schwar­ze Frames oder län­ge­res Aus­set­zen von reprä­sen­ta­ti­ver Bild­lich­keit an, um ein Rück­bild zu ermög­li­chen. Ent­leer­te Bil­der, die in sich das Reich­tum der Infor­ma­tio­nen ihrer eigen­tüm­li­chen Prä­senz ber­gen. Die­se Bil­der zeich­nen sich vor allem bei län­ge­rer Ein­stel­lungs­dau­er oft schlicht dadurch aus, dass sie gemacht wur­den und an die­ser oder jener Stel­le im Film plat­ziert wur­den bezie­hungs­wei­se so und so lan­ge gehal­ten wur­den, nicht durch das, was sie zei­gen. Ein Bei­spiel sind wie­der­keh­ren­de Bil­der, wie­der­hol­te Hand­lun­gen in unter­schied­li­chen Bil­dern oder unter­schied­li­che Bil­der zu glei­chen Tonspuren.

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Man könn­te zum Bei­spiel behaup­ten, dass man­che Fil­me von Mar­gue­ri­te Duras ein­zi­ge Rück­bil­der sind. La Femme du Gan­ge oder Son nom de Veni­se dans Cal­cut­ta désert tra­gen in sich die Ver­lo­ren­heit einer mög­li­chen und/​oder ver­gan­ge­nen Hand­lung, die­se Fil­me exis­tie­ren nur, weil sie schon vor­bei sind, wenn die Kame­ra dort ist. Man sieht Figu­ren (wenn man sie sieht) und kann sich nicht sicher sein, dass sie von der Hand­lung wis­sen, die im Off dia­lo­gisch erzählt wird. Dabei filmt Duras mit Vor­lie­be gegen das Licht. Sie blickt auf Fens­ter, Kron­leuch­ter und die Son­ne hin­ter dem Meer und in die­sem Licht ermög­licht sich ein Rück­bild, das kein Bedau­ern zulas­sen will, weil es von Beginn an eine Hoff­nungs­lo­sig­keit, ja eine Sinn­lo­sig­keit eta­bliert und klar ist, dass das was wir hören schon vor­bei ist, wäh­rend das was wir sehen nur mehr das blas­se Echo einer Ver­gäng­lich­keit ist, die uns so stark berührt, weil sich in ihr der Oze­an des­sen öff­net, was hät­te sein kön­nen, was war, was nie mehr wie­der kommt. Das Licht spielt nicht umsonst auch in Ceme­tery of Sple­ndour eine ent­schei­den­de Rol­le, der Licht­wech­sel, das Sur­ren. Ohne sich zu sehr auf freu­dia­ni­sches Gebiet zu bege­ben könn­te man die­se Lich­ter und ihre Betrach­tung durch­aus mit der Ursze­ne des tan­zen­den Feu­ers und den Bli­cken, die man als Kind dar­auf wirft ver­glei­chen. Es ist in die­sen Flam­men, dass Sehen etwas Pures hat und den Betrach­ter zugleich auf sich selbst zurück­wirft. Ist das Feu­er in der Gegen­wart? Man kann es schwer sagen, wenn man sich nicht gera­de ver­brennt. Es ist viel­mehr ohne Zeit. Daher ist es auch so gut, wenn sich etwas im Bild sturr bewegt, womög­lich in Krei­sen wie die Roll­trep­pen bei Apichat­pong Weer­a­set­ha­kul oder eine Was­ser­müh­le bei Tsai Ming-liang. Bewe­gen, die einen davon­tra­gen, obwohl man sich in ihnen verliert.

Duras filmt etwas Abwe­sen­des und letzt­lich geht es genau dar­um in Rück­bil­dern. Der Unter­schied zur Erin­ne­rung ist, dass die­se noch dar­stell­bar ist, wäh­rend das Rück­bild von den Din­gen han­delt, die es nicht sind. Daher spielt auch die Mon­ta­ge so eine essen­ti­el­le Rol­le für das Rück­bild, das was zwi­schen zwei Bil­dern pas­siert. Das Rück­bild ist eher ein Bild des Ver­ges­sens als der Erinnerung.

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Ein sehr ein­fa­ches Bei­spiel: In The Illi­ac Pas­si­on von Gre­go­ry J. Mar­ko­pou­los sieht man in einem Bild wie Schau­spie­ler Puder/​Sternenstaub aus ihren Hän­den fal­len las­sen und pus­ten. In einem nächs­ten Bild (es muss nicht das aller­nächs­te sein) sieht man wie die­ser Staub über die Köp­fe ande­rer Men­schen fällt wie eine Bot­schaft aus dem Him­mel. Man ver­steht die ers­te Hand­lung durch das zwei­te Bild. Das gan­ze geht über die simp­le Ver­ket­tung aus Ursa­che und Wir­kung hin­aus, da die bei­den Bil­der offen­sicht­lich nicht wirk­lich räum­lich zusam­men­hän­gen. Viel­mehr ver­än­dert das zwei­te Bild das Poten­zi­al des ers­ten Bilds, setzt es in ein neu­es Licht. In nar­ra­ti­ve­ren Film­for­men geschieht eine sol­che ver­zö­ger­te Erkennt­nis oft durch Per­spek­tiv­wech­sel. Man sieht die glei­che Sze­ne aus einer ande­ren Per­spek­ti­ve. Dabei ent­steht dann so etwas wie ein Meta-Rück­bild, dem die Sug­ges­tiv­kraft des ein­fa­chen Rück­bilds abhan­den gekom­men ist. Denn wie bereits erwähnt, hängt das Rück­bild auch immer an einer Unklar­heit, nicht an einer Auf­klä­rung. Es hängt dar­an, dass wir das, was dazwi­schen pas­siert, nicht sehen, selbst wenn es kei­nen Schnitt gibt. Etwa das Ein­schla­fen von Lee Kang-sheng vor dem Fern­se­her in Tsai Ming-liang. Ein sus­pen­dier­ter Augen­blick wie das Ein­schla­fen im nor­ma­len Leben. Ein Rück­bild ist so etwas wie die Dar­stel­lung der Erin­ne­rung an den Moment des Ein­schla­fens. Dass was wir davon wis­sen ist: Wir sind eingeschlafen.

Duras ist auch inso­fern ein gutes Bei­spiel, weil sich die­se Echo­wir­kung oft zwi­schen Bild und Ton voll­zieht. Das Offen­las­sen einer Ver­zö­ge­rung zwi­schen dem Text und dem Bild wie etwa bei Ger­hard Friedl, Chan­tal Aker­mans Je tu il elle oder Straub, Huil­lets Trop tôt/​Trop tard bewirkt genau die­ses Gefühl eines Rück­bilds. Die Mög­lich­keit einer rück­wir­ken­den Wir­kung tut sich immer dann auf, wenn Ton und Bild bei­de auto­nom agie­ren, neben­ein­an­der, unab­hän­gig von­ein­an­der statt über­ein­an­der lie­gen. Ein wenig wie das Lie­bes­spiel von Echo und Nar­ziss, bei dem sich etwas auf­tut genau weil es die­se Ver­zö­ge­rung gibt. Bil­der, die zu spät kom­men. Dar­in liegt auch ein gro­ßes Dra­ma, eine gro­ße Melan­cho­lie. Bei Duras kommt noch hin­zu, dass sie ihre Rück­bil­der über ver­schie­de­ne Fil­me hin­weg eta­bliert. Wenn Depar­dieu in La Femme du Gan­ge immer wie­der die Melo­die aus India Song summt ver­än­dert das sämt­li­che Wir­kun­gen bei­der Fil­me und ihrer Bil­der. Als wür­de die eige­ne Erin­ne­rung an den ande­ren Film ent­wei­chen und durch Depar­dieus Kör­per, das Auge von Duras flie­ßen. Natür­lich fin­den sich sol­che Echos zwi­schen Fil­men stän­dig und über­all, sie sind im bes­ten Fall auch ein wich­ti­ger Bestand­teil kura­to­ri­scher Arbeit mit Film. Statt sich auf das zu Fokus­sie­ren, was zwei Fil­me gemein­sam haben, funk­tio­niert das Kura­tie­ren oft viel bes­ser, wenn man sich auf die dunk­len Fle­cke zwi­schen den Fil­men kon­zen­triert, das was sie trennt. Der Raum zwi­schen zwei Fil­men ist letzt­lich das, was sie beson­ders macht in ihrer Kom­bi­na­ti­on. Vor kur­zem wur­den bei­spiels­wei­se neue Fil­me von James Ben­ning im Öster­rei­chi­schen Film­mu­se­um gezeigt. Dazu gehör­ten die bei­den Wer­ke Spring Equin­ox und Fall Equin­ox. Bei­de zeig­ten, wie der Titel ver­rät, eine bestimm­te Jah­res­zeit an einem bestimm­ten Tag. Für sich ste­hend waren es fas­zi­nie­ren­de Beob­ach­tun­gen von Licht und Natur. Aber in der Kom­bi­na­ti­on han­del­ten sie auch vom Som­mer, von der Jah­res­zeit dazwi­schen, der Zeit, die wir nicht gese­hen haben, deren Fol­ge wir nur noch erken­nen konn­ten. Der­art leg­te Ben­ning den Fokus auf die unfilm­ba­re Veränderung.

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Was ein Rück­bild ist, ist damit nur unzu­rei­chend erklärt. Viel­leicht liegt das dar­an, dass ein Rück­bild gar nicht sein kann, son­dern nur sein könn­te. Der Kon­junk­tiv des Kinos, der in einer Welt des Zwei­fels und der Fik­tio­nen wich­ti­ger denn je scheint. Dabei geht es nicht um die pseu­do-moder­ne Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät wie etwa bei Bert­rand Bonel­lo oder Bri­an De Pal­ma, son­dern genau dar­um, dass es gar kei­ne Per­spek­ti­vi­tät mehr gibt oder bes­ser: Eine Unsi­cher­heit der Per­spek­ti­ve. Die Wahr­neh­mung davon, dass man immer erst zu spät versteht.