Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Taubenblicke VII

Tau­ben­bli­cke VII

Febru­ar am Land: Die ers­ten blü­hen­den Schnee­glöck­chen des Jah­res am Weg­rand, die, nach dem Nacht­schlaf, im Früh­mor­gen­licht ihre müden Bli­cke auf die Schu­he von uns Vor­bei­ge­hen­den rich­ten, und im Gras vorm Haus liegt eine tote Kohl­mei­se, der schwar­ze Streif auf ihrem Bauch das ein­zi­ge Dunk­le im rund­her­um leuch­ten­den Grün

Ver­wechs­lung: Die gel­ben, in den Sträu­chern hän­gen­den Ein­wi­ckel­pa­pie­re der Süßig­kei­ten unter der Bir­ke sind Forsythien

Der dunk­le Win­kel im Schlaf­zim­mer, der durch die vor­bei­zi­schen­de Tau­be vor dem Fens­ter für den Rest des Tages erhellt wird

Zau­ber­le­se­zei­chen: Ver­schie­de­ne abge­bil­de­te Vögel auf einer nicht abge­schick­ten Post­kar­te, die beim Auf­schla­gen des Buches zum Sin­gen gebracht wer­den – herr­li­che Begleit­mu­sik beim Lesen, jeder ein­zel­ne Ton wie ein Wort – und ihr sofor­ti­ges Ver­stum­men, sobald das Buch zuge­klappt wird

Am Fens­ter ste­hend, früh­abends: In der zuneh­men­den Dun­kel­heit klin­gen die Kin­der­stim­men unten im Park fer­ner, als sie es sind; ihr Näher­rü­cken beim Ein­set­zen des Nachtigallgesangs

Lie­bes­ge­schich­te: Die Krä­he auf der Stra­ßen­la­ter­ne wäscht sich im Mor­gen­re­gen, und dar­un­ter tauscht ein jun­ges, ver­knall­tes Paar ihre Bril­len aus; ihre ver­schwom­me­nen Bli­cke auf­ein­an­der durch die nas­sen Linsen

Aus Dank­bar­keit für den Besit­zer des Fri­seur­la­dens, der lächelnd Brö­sel an die Tau­ben ver­füt­tert, die spon­ta­ne Ent­schei­dung, mir bei ihm die Haa­re schnei­den zu las­sen (Im Gegen­satz zu den Men­schen, die mit einem Fuß auf den Boden stamp­fen, um die Tau­ben beim Essen zu ver­scheu­chen: Hass)

Der ver­las­se­ne, rot­ge­färb­te Bahn­hof, eher einem Schup­pen gleich, irgend­wo zwi­schen Sem­me­ring und Mürz­zu­schlag, aus dem Zug­fens­ter erblickt und den Wunsch ver­spürt, dort aus­zu­stei­gen, um ihn für ein paar Stun­den Gesell­schaft zu leis­ten, ihn in sei­ner Ein­sam­keit zu trösten

Auf der Rück­rei­se, ein paar Tage spä­ter: Wo der Bahn­hof stand, ist nun eine lee­re Flä­che; schwe­ben­de Federn über brau­nem Gras

Eine Pflan­ze durch­quert den Park; über ihrem Kopf eine flie­gen­de schwar­ze Kappe

Das Schul­kind an einer Stra­ßen­kreu­zung, sein Kopf hek­tisch links und rechts zuckend wie eine…eben, wie eine Taube

Und am Fens­ter­brett eines Nach­bars im obe­ren Stock sitzt tat­säch­lich ein Papa­gei – nein, sogar zwei! – beleuch­tet vom Licht einer Lam­pe; ihre rot­gelb­oran­ge­nen Bäu­che eine Wie­der­ho­lung der nun erlo­sche­nen Abend­him­mels­far­ben; und der unwill­kür­li­che Aus­ruf des dies alles Sehen­den (wenn auch an nie­mand gerich­tet): „Schau!“