The Stranger von Orson Welles ist eine jener Filme, bei denen man besonders die Kraft eines Filmemachers spürt, der aus jeder Szene ein kleines visuelles Ereignis macht und damit einen eigentlich durchschnittlichen Film, zu einem erinnerungswürdigen Vibe verhilft. Der Film ist der einzige von Welles, der bei seinem Release positive Zahlen in den Vereinigten Staaten schrieb und wird von vielen Theoretikern und Kritikern abgelehnt beziehungsweise als minderes Werk im Schaffen von Welles betrachtet. Schuld daran dürfte ein recht flaches und doch gleichermaßen abstruses Drehbuch sein (der desaströse Geschmack der Academy wird hier mal wieder klar, denn der Film wurde ausgerechnet für Bestes Drehbuch nominiert bei den Oscars…) und die Tatsache, dass Welles den Film selbst als eine Ausnahme beschrieben hat, da er nach seinen Problemen mit The Magnificent Ambersons seine Enfant terrible-Status loswerden wollte. Schließlich bekannte er sich dazu, dass The Stranger der schlechteste seiner Filme sei. Zudem hätte man 30 Minuten geschnitten, die Welles selbst geschrieben hatte (eine Verfolgungsjagd in Argentinien). Aber wie so oft tragen die ungeliebten Kinder ungeahnte Qualitäten in sich.
Der Film spielt in einer paranoiden Nachkriegswelt, die kurzerhand in die amerikanische Kleinstadt Harper verlegt wird. Dort ist der kauzige Detective Wilson (ein methodisch-gelassener Edward G. Robinson)auf der Suche nach dem geflohenen Nazi-Drahtzieher Franz Kindler. Dieser hat inzwischen eine neue Identität angenommen, Charles Rankin und heiratet die Tochter des Richters, äußerst nervig dargestellt von Loretta Young. Welles gibt den Nazi selbst und auch wenn ihm das Deutsche nicht wirklich liegt, so liegt ihm doch das Dunkle und Bedrohliche. Einmal erklärt er seiner Frau in einem flüsternd-tödlichen Ton, dass der Hund von nun an eingesperrt werden würde. Man erschrickt fast, obwohl Welles kaum seine Stimme erhöht. Das Zauberwort hier ist Präsenz. Es beginnt ein Katz-und-Maus Spiel zwischen Wilson und Kindler, bei dem der Zuseher immerzu etwas mehr weiß, als die Figuren. Das bedeutet nicht, dass wir uns hier unbedingt auf Hitchcock-Terrain bewegen, denn zu dominant sind die verleugneten, vergessenen und erfundenen Identitäten, die Welles immer wieder heimsuchen. Sie finden sich vor allem auf seinem eigenen Gesicht, dass jeder Zeit oszilliert zwischen völliger Panik, berechnendem Charme und Zärtlichkeit. Zudem war die Nazi-Thematik, die für uns heute etwas ermüdend wirken könnte damals tatsächlich innovativ in Hollywood. The Stranger gilt als erster Hollywoodfilm, indem Bilder aus den Konzentrationslagern zu sehen waren.
Dennoch sind die etwas arg einfache Gut-Böse Unterscheidung und die stark simplifizierten Vorgänge, kaum zu ignorieren. Weder erreicht der Film jenen labyrinthischen Rausch, der die Existenz einer Story sonst bei Welles oft obsolet macht, noch sind die Figuren und ihre Welt in sich jederzeit glaubwürdig. Die Sinnlichkeit, die man sucht, liegt vielleicht wo anders, in der Heimeligkeit des Films, der Simplizität, die in ihrer Dichte immer wieder den Silhouettenrausch von Welles antizipiert, aber sich nie völlig darin verliert. Ein Bemühen um Schlichtheit tut dem Ganzen nicht wirklich weh, denn das aufgeladene Thema des Films würde kaum mehr visuelle Macht vertragen. Und doch scheinen sie immer wieder durch die langen Sequenzen ohne Schnitt (zum Beispiel in einer bemerkenswerten Szene im Wald), die extravaganten Top-Shots, Weitwinkelaufnahmen in einer expressionistischen Perfektion, die in der Uhr, für die Franz Kindler einen tödlichen Fetisch hat, gipfelt, in einer herrlich überzogenen Schlusssequenz.
Besonders in Erinnerung bleibt eine Leiter, die durch geschickte Objektivwechsel immer gefährlicher und höher wirkt. Sie führt in den Glockenturm der Kirche, hinauf zur Uhr, dort wo selbstverständlich das Finale des Films stattfinden muss. Dort finden sich nicht nur das zweite entscheidende Objekt, die Uhr, sondern dort zeigt sich auch die Poesie von Welles, wenn er beispielweise Tauben durch das Bild huschen lässt im Atemzug eines Gegenschusses, der bei ihm immer mit extremen Respekt für Zeit und Raum einer Szene eingesetzt wird. Die manipulierenden Effekte kreiert Welles möglichst selten mit Montage, sondern mehr mit Licht&Schatten, Kameraperspektiven, Bewegungen und seinen Objektiven. Auch das überlappende Tondesign ist bemerkenswert. So hören wir die Uhr immer wieder und auch das krachende Holz der Leiter, obwohl wir gar nicht im selben Raum sind. Die Uhr selbst läuft rückwärts, vorwärts, sie wird repariert, es ist die Zeit, die einen einholen wird, die einen vielleicht überholen wird, von der sich Kindler wünscht, dass sie zurückkehrt. Es ist die Zeit, die man nicht vergessen kann und es spricht für Welles, dass er diese Symbolik bis zur materiellen Schmerzgrenze auslotet und die Uhr tatsächlich zu einem Charakter werden lässt, denn die Teufel der Zeit sind letztlich zwar albtraumhafte Gestalten, aber voller Gerechtigkeit.
Der Film ist public domain und kann unter anderem hier legal angesehen werden:
https://archive.org/details/TheStranger720p
Trotzdem hat man ihn nur im Kino wirklich gesehen.