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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Tsai Ming-liang Retro: Madame Butterfly

Stilistisch auf völlig anderem Terrain als seine anderen Filme bewegt sich dieser zweigeteilte Kurzfilm von Tsai Ming-liang. Vielmehr gleicht „Madame Butterfly“, der als ein Projekt zum 150. Geburtstag von Giacomo Puccini entstand, einer Cinéma-Verité Übung in Schlichtheit, die es dennoch vermag, Gefühl zu tragen. Mit der gleichnamigen Oper des italienischen Komponisten verbindet den Film womöglich das Motiv des Wartens einer alleingelassenen Frau. Es geht um eine Frau am Bahnhof in Kuala Lumpur, sie möchte ein Ticket kaufen, hat aber zu wenig Geld. Was ihr eigentlich fehlt, ist ihr Liebhaber, der nicht erscheint am Bahnhof, der ihr nicht hilft, der nicht da ist, den sie anruft, auf den sie vergebens wartet. Offensichtlich wurde die Schauspielerin Perly Chua, die man unter anderem aus „I don’t want to sleep alone“ kennt in ein reales Setting geworfen, mit dem sie agieren musste. Mit einer Videokamera folgt ihr der Regisseur und keiner weiß, was passieren wird. Menschen starren verwundert in die Kamera, sie agieren anders mit der Schauspielerin als man erwarten kann. Aus dieser performativen Drehmethode entsteht eine Dynamik, die man unter anderem auch bei einigen Walker-Filmen von Tsai Ming-liang beobachten kann. Die Interaktion der Umwelt mit dem Film wird zu einem Faszinosum. Dabei kann man sich nie sicher sein, ob der Regisseur doch einige Statisten inszeniert hat. Er selbst gab in einem Gespräch zur Walker-Reihe zumindest bekannt, dass er keinerlei dokumentarischen Anspruch an diese Filme stelle.

In einer Szene möchte die Frau für ihr Ticket bezahlen. Sie legt ihr Geld auf den Tisch und stellt fest, dass es zu wenig ist. Dem Ticketverkäufer würde das aber reichen, ein Mann der die Situation mitbekommt, bietet ihr an für das wenige restliche Geld aufzukommen. Aber Perly Chua scheint einem unsichtbaren Script zu folgen. Sie sagt, dass sie nicht fahren könne, weil sie nicht genug Geld habe, weil ihr Mann es ihr bringen würde. Ob diese Situation gescriptet ist oder ob das Verhalten der Menschen überraschend kam, bleibt unklar. Jedenfalls impliziert dieses Verhalten, dass die Frau eigentlich gar kein Ticket möchte. Dadurch wird ihr Verlangen nach dem abwesenden Mann verstärkt. Die Situationen werden in ihrer voller Banalität und Präsenz eingefangen. Es gibt keine Dramatisierungen oder aufgedrückte Nuancen, sondern alles entsteht im Flow der Longtake-Kunst.

Madame Butterfly

Damit ist „Madame Butterfly“ trotz seiner scheinbaren Unterschiedlichkeit zum restlichen Oeuvre des Regisseurs Ausdruck seiner Fähigkeiten. Gerade dadurch, dass die ästhetische Schönheit einer dokumentarischen Banalität weicht, wird der Blick auf den Kern des Filmschaffens von Tsai Ming-liang frei. Seine Gefühle speisen sich nämlich keineswegs aus einer Manipulation der Welt, sondern aus ihrer Betrachtung. Statt unseren Blick zu lenken, lenkt er ihn ins Schweifen. Unsere Augen vollziehen die Schwenks, sie werden überfahren, um zu leuchten. Wir sind es, die seine Geschichten füllen mit unseren Gefühlen. Er gibt uns simple Situationen, die wir so oder anders kennen und lässt uns daran teilhaben. Nicht im Sinne einer Agitation, die uns handeln lässt, sondern in Form einer Initiierung unserer eigenen Erinnerungen und Gefühle. Er zwingt einen förmlich dazu, den Kopf beim Schauen auszuschalten und sich der eigenen Melancholie, Nostalgie und Gefühlswelt hinzugeben. Dadurch wird er zum Filmemacher des Bedauerns. Man beginnt sich selbst zu bedauern. Damit meine ich, dass man sich selbst auflöst und nur noch zwischen Augen/Ohren und Gefühl existiert. In seinen anderen Filmen wird der Effekt durch seine außerordentliche Bildgestaltung, seine poetische Lichtsetzung und sein aufregendes Sound-Design nur mehr verstärkt, sodass die Tränen seiner Figuren von der Leinwand auf uns tropfen.

Die Begeisterung für die ausgebleichte Videoästhetik ist dem Filmemacher jedenfalls nicht verloren gegangen. Und so folgt er seiner Protagonistin hektisch über den belebten Bahnhof in einer zunächst ewigscheinenden Irrbewegung gleich eines inneren Labyrinths ohne Ausweg. In gewisser Weise ist dieser Film bereits ein Walker-Film, er könnte aber auch als Spin-Off von „I don’t want to sleep alone“ verstanden werden oder nicht. Später, der klaren Zweiteilung folgend liegt die Frau auf einem Bett. Schatten und Sonne tanzen auf ihrer Haut und den Laken. Die Handkamera fängt die Schönheit ein, will aber nicht jene stilisierten in die Leinwand gemeißelten Bilder provozieren, die man so häufig bei Tsai Ming-liang sieht. Dennoch erzählt er wieder von Einsamkeit und Isolation. Die Frau streckt ihre Hand aus und verbleibt in einer Position des puren Longings.