In vielen Bildern von Tsai Ming-liangs „What time is it there?“ gibt es noch ein zweites Bild. Einen Ausweg, eine Fluchtmöglichkeit, in der Form einer geöffneten Tür, eines Nebenzimmers, einer Nebenstraße. Es ist ein Film, der in jeder Sekunde von einer anderen Welt träumt, von der Sehnsucht nach einer Flucht, die einmal vollzogen in Einsamkeit endet. Drei Protagonisten bevölkern die brillant ausgeleuchteten, feuchten Räume, Straßenecken und Plätze des Films. Da ist zum einen Hsiao-Kang gespielt von Lee Kang-sheng, dessen Vater gestorben ist und der Uhren verkauft an einer Brücke in Taipeh. Dann ist da seine Mutter, gespielt von Lu Yi-Ching, die den Tod ihres Mannes nicht wahrhaben will, die den buddhistischen Glaubensritualen rund um eine mögliche Wiedergeburt bis in die Extreme folgt und schließlich Shiang-chyi, gespielt von Chen Shiang-chyi, die einen langen Urlaub in Paris macht und sich davor noch eine Uhr bei Hsaio-Kang kauft. Es entsteht ein kurzer Funke zwischen den beiden, der in diesem Film zum Erlischen verdammt ist.
In einer konstanten Übersprunghandlung beginnt der junge Mann sämtliche Uhren, die ihm in die Finger kommen, umzustellen. Dabei portraitiert Tsai Ming-liang das sehnsüchtige Leiden des Fremden inmitten seiner Welt mal absurd, mal tragisch, mal entleert. Immer spürt man dabei den Druck eines möglichen Eskapismus, vom Sex mit einer Prostituierten, bis zum abstrakten Fliehen in eine andere Zeit Das ganze wird in gemäldegleichen Bildern vollzogen, die in ihrer Bildtiefe und Vielschichtigkeit ein sinnliches Fest für die Augen bereithalten. Hier werden auch unterschiedliche Arten der Trauerbewältigung angezeigt. Die Uhren (Mühlen und Windräder) drehen sich unbarmherzig, aber die Geister sind immer noch anwesend. Am Ende sind es nicht die Glaubensrituale, sondern der Traum und das Kino, die den Vater, den wir aus der ersten Szene kennen, zurückbringen. Das Kino als eine Geisterbeschwörung, die dann in „Goodbye, Dragon Inn“ ihre Fortsetzung bekommt.
Nicht viel besser ergeht es Shiang-chyi in Paris. In beängstigender Ruhe werden mögliche Begegnungen gezeigt, die nie zustande kommen. Mal liegt das an räumlicher Distanz, mal an kulturellen oder sprachlichen Unterschieden. Einzig eine junge Frau aus Hongkong scheint so etwas wie Wärme auszustrahlen. Die beiden verbringen eine Nacht zusammen, in der es zu einem verlegenen Kuss, mehr aber nicht kommt. Als die Mutter mit ihren Ritualen am Ende ist, offenbart sie in einer tieftraurigen Szene ihre Sehnsucht, in einer für den Regisseur so typischen Masturbationsszene an den Grenzen zwischen Absurdität und totaler Verletzlichkeit. Ein Zusammenkommen kann es in dieser Welt nicht geben, die nüchterne Einsamkeit bleibt als melancholisches, vom Tod determiniertes Gefühl. Die paradoxen Momente, in denen sich dieses Gefühl vollzieht, sind auch von Komik durchzogen.
Die versuchte Flucht drückt sich auch in den Kinobildern selbst aus. Zum einen flieht Hsiao-Kang einmal im wahrsten Sinne des Wortes ins Kino. Bei sich hat er eine Uhr, deren Zeit er-wie das Kino selbst-manipuliert. Zum anderen beginnt er sich Les quatre cents Coups von François Truffaut anzusehen, um wenigstens mit dem Kino in Paris zu sein. Darin beobachtet er den jungen Antoine Doinel auf der Flucht. In einem ewigen Kreis, der nur ist und nichts bedeutet oder beim Klauen der Milch. Das musikalische Thema des Nouvelle Vague Klassikers erklingt kurz im Abspann. Aber die Zeit macht vor dem Kino nicht halt und so sitzt Jean-Pierre Léaud plötzlich auf einer Bank neben Shiang-chyi in Paris. Natürlich ist diese Bank an einem Friedhof. Er versprüht den alten Charme, könnte aber auch ein Geist sein, einer der die Wälder von Apichatpong Weerasethakul heimsucht, ein Geist und die Vergangenheit des Kinos.
Wenn Tsai Ming-liang Filme über Entfremdung macht, dann ist What time is it there? am Endpunkt der Entfremdung angekommen, ein Moment, in dem man gar nicht mehr in der Welt ist, in der man vor Trauer nichts mehr wahrnimmt, vor Sehnsucht nichts mehr spürt oder nur noch als Geist ohne Berührung über die Oberflächen zweier Kontinente huscht. Was dann bleibt sind falschgehende Uhren, sind verschwundene Telefonnummern und der Schlaf. Was nicht mehr bleiben kann ist vielleicht das Kino. Oder gerade deswegen.