„(…) Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, –
höchstens: Säule, Turm . . . aber zu sagen, verstehs,
oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals
innig meinten zu sein. Ist nicht die heimliche List
dieser verschwiegenen Erde, wenn sie die Liebenden drängt,
daß sich in ihrem Gefühl jedes und jedes entzückt?(…)“
(aus den Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke)
Margaret Tait unterlag einem Missverständnis. Sie glaubte ihr ganzes Leben lang, egal ob im Schreiben oder im Filmen, dass man Sehen könne, dass man im Sehen näher an die Dinge, Menschen und Tiere herankomme, dass man durch Sehen wach bleibe. Welch Tragik in dieser Schönheit! Sie glaubte, dass man wirklich sehen könne. Kurz blinzle ich und verpasse die Wahrheit.
Ich stelle sie mir mit weit geöffneten Augen auf einem Felsen im eisigen Atlantikwind vor. Sie trotzt dem Salz in der Luft, schützt ihre Pupillen (wenn überhaupt) mit der Kamera. Diese ist nur eine Verlängerung ihrer Augen, ein Apparat, der ihr erlaubt noch mehr, noch genauer, noch bestimmter zu sehen. In ihrer Arbeit, die wir gemeinsam sahen (und hörten) vergangene Woche im Österreichischen Filmmuseum und der Alten Schmiede in Wien, hält sich dieser Glaube in jeder Sekunde, in jeder registrierten Geste. Ihr Blick streift nie an etwas vorbei, nichts wird nur nebenbei wahrgenommen, alles muss ganz und gar präsent sein. Etwa eine blasse Hand, die in einer bestimmten Bewegung eine Tür schließt oder eine andere Hand, die sanft Farben auf ein Holz streicht wie in Where I Am Is Here.
Sieht sie nur oder verwandelt sie mit ihrem Blick alles in Gesehenes? Ist ihr Blick der einer, die in die Welt verliebt ist? Die Schönheit jeder Sekunde als Wahrheit und Illusion zugleich.
Im Eigentlichen sieht man weniger, als man nicht sieht. Das weiß Tait nur zu gut. Im Kino sowieso, folgt doch auf jedes Licht eine Dunkelheit durch den Projektor. Deshalb sind es auch beinahe immer jene Bewegungen, die ihr Kameralicht festhält, die wie zufällig ins Bild springen, die nicht hergestellt wurden, um gesehen zu werden. Es sind Bewegungen, die unaufmerksam waren, unbewusste Zwischenzeitlichkeiten, Überreste unsichtbarer Verwehungen des Lebens. Ich frage mich, wo in ihrer Kamera, in ihren Worten, all jene Dinge verschwinden, die sie nicht sehen konnte. In ihrer eigenen Karriere im Unsichtbaren arbeitend wendet sich Taits Kino gegen alles, was man glaubt zu sehen, hin zu allem, was man sehen könnte, vielleicht sogar sollte. Sie lenkt dabei nicht den Blick, wie es mit Jonas Mekas ein anderer Poet des Schauens tat, sondern öffnet ihn. Sie verwendet ihre Bolex nicht, um die Augenblicke wie Erinnerungsfetzen in unsere Wahrnehmung zu schleudern, sondern, um möglichst große Portionen aus der Wirklichkeit zu schneiden. Sie äußerte, dass sie manche Dinge erst durch das Objektiv wahrnehme. Wie eine Goldgräberin hofft sie, in ihrem Seh-Sieb Gold zu finden. In einem Gespräch beklagte sie, dass sie allein arbeite und deshalb weniger filmen, registrieren, wahrnehmen könne. Ich stelle sie mir vor, hungrig durch die Landschaften rennend, auf der Suche nach dem nächsten Blick, der nächsten Gegenwärtigkeit. Gold, das ist für Tait ein schwarzer Vogel in einer Baumkrone, Menschen, die sich an einander klammern, eine Frau, die mit einer Pusteblume spielt in der Gerard Manley Hopkins Adaption The Leaden Echo and the Golden Echo oder im Wind wehendes Gras, das auf Steinen wächst in Land Makar. Ihre Hinwendung an das Sehen ist eine Feier des Lebens und eine wütende Anklage zugleich. Als würde sie von ihrem Felsen schreien: Schaut, schaut, schaut doch endlich!
Dabei bleibt ihr Blick zärtlich und warm, weil sie weiß, dass sie nur unaufgeregt wirklich sehen kann. Tait schaut alles gleich an. Es geht ihr nicht nur um das Sehen, es ist kein blindes Sehen, sondern ein bewusstes Sehen als Antwort auf das Denken. Ein Stein trägt für das Auge die gleiche Kraft wie ein Gesicht. “Oh, waves are made of waves/Waves are what they are“. In dieser bedingungslosen Haltung findet sich auch ein Geheimnis, das sie von anderen Autoren des suchenden Blicks unterscheidet. Vergleicht man ihre Filme zum Beispiel mit jüngeren Arbeiten von Jem Cohen oder James Benning fällt auf, dass es bei ihr keine willkürlichen Bilder gibt. Alles scheint, selbst wenn wackelig oder unsauber aufgenommen, unbedingt notwendig. Ihr Sehen sucht nicht nach dem Besonderen, nach dem Komischen oder dem Unterhaltsamen. Viel eher sucht ihr Sehen nach sich selbst, weil Tait insgeheim an einem Haus, ja an einer ganzen Stadt baute: “We builders must keep making our own cities.“. Dadurch bekommt jede Einstellung ihr eigenes Gewicht, existiert für sich allein und doch fest verankert in der Symphonie ihres jeweiligen Films. Das liegt auch daran, dass sie auch zwischen den Bildern Bilder findet. Analogien, Bewegungen, die sich wiederholen wie etwa eine Biene, die am Fenster um ihre Freiheit kämpft gefolgt von ihrer Schwester, die sich in den Farben und Gerüchen einer Blume verliert. Wie Margret Kreidl in der Alten Schmiede bemerkte, geht es dabei um Kreisläufe. Es geht um Wiederkehr, das Zusammenfallen eines Anfangs und eines Endes. Natürlich kann das Sehen auch blind machen. So wie man äußere Erfahrungen in sich anhäufen kann, ohne jemals zu lernen, versteckt sich auch im Sehen die Gefahr der Oberflächlichkeit. Im Sammeln von Bildern ähnelt Tait vielleicht tatsächlich der Biene, auf der Suche nach Nektar.
Das Missverständnis ist weniger eine Sache der Margaret Tait, als eine Sache mit Margaret Tait. Es hat zu tun mit ihrer Wahrnehmung von Dokument und Poesie. Für sie ist Poesie im Kern dokumentarisch. Das Wort „makar“, das in ihrem Land Makar im Titel verarbeitet wird, verbindet das Handeln, das Machen mit dem Dichten. In ihrem Gedicht For Using beschreibt Tait Kamera, Stifte und Bücher als Werkzeuge, um ein Leben zu gestalten. Sie existieren, um zu machen. Aber, warnt die Poetin, nicht zu viel davon, denn sonst wird alles nur ein Spiel, willkürlich. Man muss eine Verbindung aufbauen zu seinen Werkzeugen. Taits Filme und Gedichte beginnen an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeit. Es ist der Ort und die Zeit, in denen Tait sich befindet. Was sie von dort sieht, spürt, hört, ermöglicht schon Poesie. Die Verortung der Poesie ist dokumentarisch, das Zulassen des Sehens und Fühlens an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ist die Arbeit an der Poesie. In anderen Worten: Ihr Sehen ist ein bewusstes Handeln im Angesicht der Welt. Ihre Arbeit ist fiktional, weil sie dokumentarisch ist. Sie verwendet ihre Werkzeuge, um sichtbar zu machen, nicht um zu sehen.
“And only my eyes are left/For saying it all.“, schreibt Tait in ihrem Gedicht Ay, Ay, Ay, Dolores, obwohl sie auch mit Worten, ihrer Musikauswahl und den wiederkehrenden Tönen in ihren Filmen spricht. Was sagen diese Augen, wie sprechen sie? In A Place of Work dokumentiert sie das Haus ihrer Kindheit und ihren späteren Arbeitsplatz in Buttquoy auf den Orkneyinseln. Es ist ein starker Film, weil er die Zeit im besonderen Maße in das Sehen lässt. Die Blicke wirken hier nicht wie voneinander abgetrennte Sensationen, sie verweisen nicht auf die Blickende selbst zurück, sondern definieren die Zeit an einem Ort. Orkney wurde von Lucy Reynolds als psycho-geografische Landschaft für Tait, die dort geboren und aufgewachsen ist, beschrieben. Bewegungen, Veränderungen, das Leben haben sich in diesen Ort eingeschrieben. Im Garten verändern sich die Dinge mit der Jahreszeit, der Schneidetisch steht im Halblicht und wartet darauf benutzt zu werden. Jedes Licht ist Teil einer Existenz oder Erinnerung, meist beides zugleich. In diesem Film aus dem Jahr 1976 fällt der Blick der Filmemacherin endgültig mit ihr selbst zusammen. Es gibt keine Unterscheidung mehr, es gibt auch keine spürbare Technik zwischen ihr und dem Bild. Ihr Kino hinterfragt radikal, was ein Auteur ist. Weniger als einen Mann, der denkt und mit großer Kraft einen Kanal für den Fluss in die Landschaft gräbt, versteht sie einen Auteur als Frau, die am Rand eines wilden Flusses, ihre Hände in den reißenden Strom hält, um Wasser zwischen den Fingern zu sammeln und mit allen zu teilen.
Am Sehen muss man jeden Tag arbeiten. In diesem Sinn sind Taits Filme auch Tagebücher. Tailpiece, der dokumentiert wie Tait eben jenes Familienhaus auf Orkney verlassen muss, drückt aus wie stark Taits Kunst auf ihr Leben, ihre direkte Umgebung reagiert. Womöglich dreht sich in diesem Film sogar die Wahrnehmung von Poesie als Dokumentation hin zur Dokumentation als Poesie, denn nur in Letzterem findet Tait einen Schutz vor den Schmerzen, die das Verlassen einer Heimat mit sich bringt. Das Sehen als Hinwendung an die Wirklichkeit ist auch immer eine Flucht vor der Wirklichkeit des Unsichtbaren, des Nicht-Sichtbaren. Wie stark Tait in diesen Kategorien denkt, wird in ihrem On the Mountain deutlich. Dort verbindet Tait im Stil von Jean Eustaches La Rosière de Pessac Bilder der Rose Street in Edinburgh aus dem Jahr 1956 mit dem Jahr 1973. Die Zeit findet sich, in dem, was keine der beiden in sich verschränkten Filme allein sehen konnte. Erst durch Taits Montage, durch ihr Insistieren auf der gleichzeitigen Gegenwart von zwei unterschiedlichen Zeitebenen, öffnet sich ein Fenster, um wirklich zu sehen. Ich lerne es, ich stelle mir Tait vor, sie öffnet mir die Augen.