Die Handlung ist lediglich ein Potenzial und als Potenzial ist sie am wirkungsvollsten, denn so wie alle von Wittmanns bisherigen Arbeiten könnte jedes Bild in A Thousand Waves Away der Beginn eines weiteren Films sein. An den Anfängen, so könnte man sagen, herrscht eben die betörendste Harmonie zwischen Unsicherheit und Offenheit. Man kippt in andere Wirklichkeiten und kann die eigenen Schranken, die man über die Jahre im Angesicht der Fiktionen errichtet, leichter umgehen. Anders gesagt: Man versteht noch nichts, muss auch noch nichts verstehen, man kann noch sehen, hören, fühlen. In diesem Fall nimmt man eine langsam zwischen rosa blühenden Büschen umherschleichende Angst wahr. Menschen verbringen Zeit in einem Park, sie halten inne, pflücken Blüten, umgreifen Zweige, aber etwas stöbert durch ihr Sein und scheucht sie auf. Sie bewegen sich wie ein Rudel scheuer Tiere, wo ein kleines Zucken reicht, um alle in Panik zu versetzen. Sie fliehen, sie fliehen und landen in einer Art Zivilisation mit Gebäudekomplexen am Horizont und Parkbänken an Teichen mit elektrischen Fontänen und die Frage stellt sich, ob man sie erkennt und ob sie sich erkennen, ob es überhaupt noch ein Erkennen gibt oder nur sich rhythmisch aneinanderreihende Verlorenheit.
Die Zwischentitel berichten von einem Ort, an dem vieles keinen Sinn mehr ergeben hat. Einem Ort, der unter der Erde erzittert. Es braucht nicht viel Imagination, um zu erfühlen, dass es sich bei diesem Ort um eine Wirklichkeit handeln könnte, die man kennt, wenn man nur einige Tage in der Welt heute verbracht hat. Die Menschen blicken dem Licht entgegen und wagen, an Berührungen zu denken, zumindest das, aber sie stehen dennoch da wie entfremdet vor dem, was sie einst als «ihre Welt» beschrieben, den Bäumen und Strömungen, dem Grün und Blau. Die Entfremdung greift um sich, sie lässt sich nicht benennen, aber sie ist da. Keine Mythen entspringen mehr diesen Flüssen, keine Geschichten, nur noch ein verblassendes Schimmern, das die Menschen nicht erkennen, das ihnen überhaupt nichts mehr sagt. Vielleicht liegt es daran, dass es sich um eine von Menschen zugerichtete Natur handelt, die Wittmann hier auf 16mm festhält. Aber derart simple Interpretationen verpuffen im Rauschen der Eindrücke und des zögerlich entweichenden Lichts.
Wittmanns filmische Strategie widerspricht jenen im Kino vertretenen Haltungen, die sich dem Stofflichen zuwenden, wiewohl sie dieser Haltung gleichermaßen angehört, das bedeutet, sie filmt die Dinge in ihrer Materialität, aber sie erkennt deren Essenz im Unstetigen, Unfesten, Unstofflichen. Oder aber sie filmt Ahnungen, als wären es Stoffe.
Das Begehren und die Furcht äußern sich in Gesten und Posen. Das vergisst man, wenn man in Filmen heute meist mit Dialogen niedergebügelt wird, die dafür sorgen, dass man sie auch sehen könnte, ohne hinzuschauen. Wittmann dagegen setzt auf eine Art musikalische Doppelhelix, zum einen durch das, was man etwas platt gern als das Musikalische in Schnitt und Bildern beschreibt, zum anderen durch Nika Sons Indefinite cupboard, ein Stück, das die Komponisten bereits 2020 auf dem Album To Eyeore veröffentlicht hat (Eyore, der von A. A. Milne beschriebene, an Anhedonie krankende oder sich darin behaglich einrichtende Esel) und das sich perfekt in diese Wahrnehmung der ausgesetzten oder schwebenden Möglichkeiten einfügt. Was geschieht als nächstes, ist eine wichtige Frage für das Kino, die von Son und Wittmann als Zustand erfasst wird, in dem die Frage sämtliche mögliche Antworten in sich aufnimmt. Alles und nichts, alles und nichts, alles und nichts.
Dabei sieht das Gefilmte unfasslich schön aus, eigentlich zu schön. Fast möchte man sich dieser Schönheit verwehren, man fragt sich, ob sie nicht nur mehr ein Traum ist, eine unter dem Einsatz von Zelluloid und Licht und Farben hergestellte Illusion, ob man sie überhaupt sehen darf. Und es stimmt, Wittmann verliebt sich manchmal allzu sehr in das, was sie sieht, sie schafft Räume, in denen sie mehr und mehr Zeit mit dieser Schönheit verbringen kann. Als Barrikade gegen die Wirklichkeit oder als Errettung derselbigen? Das kommt wohl auf den eigenen Blick an. Über Mikio Naruse hat Serge Daney einmal gesagt, er suche nach jenem Augenblick, in dem ein Mensch brechen würde. Über Wittmann lässt sich sagen, sie sucht nach dem Augenblick, in dem ein Mensch oder eine Landschaft (wenn das nicht das Gleiche ist) am schönsten ist. Aber woanders, als in dieser Schönheit, lässt sich ein Unheil zeigen, das noch etwas bedeutet? Woanders zeigt sich das Gewicht, das die bedrohte Erde an jedem Tag verliert? Woanders lässt sich der Verlust einer sinnlichen Beziehung zur Schönheit der Welt erzählen? Alles und nichts, die Hölle, das Paradies.