Wörter für die Welt da draußen #3 Flügelnuss

Kürzlich stand ich im kalten Schatten eines von Moosen bedeckten Felsens an der Donau bei Grein, als ich hinter mir ein Flattern bemerkte. Ich sah einen zu früh erwachten Falter, vom schmelzenden Schnee oder einem kalten Windstoß aufgeweckt. Er glitt mit schwachen, panischen Flügelschlägen langsam zu Boden. Als ich ihn inspizieren wollte, bemerkte ich, dass es sich gar nicht um einen Schmetterling handelte, sondern um eine trockene Ahornfrucht.

Als Kind nannte ich das einen Nasenzwicker. Diese im Winter ganz fahle, spitzwinklige Engelserscheinung mit ihrem kugelrunden Körper zwischen den Flügeln, nennt man auch eine Flügelnuss. Sie erwartet am Ast hängend, flügge zu werden und stürzt sich dann in einen rotierenden Todessprung, der eigentlich ein Lebenssprung ist.

Ich sah wie der Wind sie wieder aus dem nassen Moos hievte, sodass sie flackernd und unwirklich ihren kurzzeitigen Hafen hinter sich ließ, um weiter durch die Luft zu wirbeln, als würde sie von einem Propeller angetrieben, ehe sie hinabstürzte in eine dunkle Felsspalte, in der sie kein Wind mehr würde erreichen können. Vielleicht, dachte ich, wächst hier in hundert Jahren ein Ahornbaum aus dem Felsen.

(Ivana Miloš, Sjemenke javora noću, 2021, Cyanotypie auf Papier, 21 x 31 cm)