Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen von Eva Hiller

Ob sich in der Nacht Unvorhergesehenes, Ungeahntes, aber doch Ersehntes zu erkennen gibt, wird sich erst erfahren lassen, wenn sie vorüber gegangen ist. Dies könnte sowohl für Eva Hillers einzigartigen Film Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen gelten als auch für die Retrospektive der diesjährigen Berlinale. In erste Linie ist es die Bildsprache dieses Films, dank der Kameraarbeit Thomas Mauchs, in der sich seine Besonderheit auszeichnet. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um die konzentriert-heimliche Komposition oder präzise Belichtung des Filmmaterials bei Nacht, sondern dass etwas in den Bildern entsteht, was sie gewissermaßen selbst verfolgt, indem die innerste Entsprechung des Kinos ausgelebt werden darf: Nächtliche Lichter und Schatten in urbanen Räumen zerstreuen die Aufmerksamkeit. Plätze, denen untertags keine Bedeutung zuteilwird, entwickeln plötzlich sonderbare Existenzen, sie erwachen und lösen sich von der umgebenden Welt ab. Ihre Erscheinungen fallen aus den dunklen Ecken auf die weiße Leinwand. Dem entgegen beschäftigte sich Eva Hiller, bevor sie die Arbeit am Film begann, mit den grellen Oberflächen der Alltagswelt: Fahrkartenschalter, Telefonzellen, Geldautomaten, Reklamen – leuchtende Virtualität, deren Abläufe nicht mehr nachvollziehbar sind. Nur dem Anschein nach steckt darin das Gegenteil der schmutzigen Grautöne in Berlin oder Frankfurt nach Sonnenuntergang, wenn sich der unbescholtene Blick enthebt, sei es aus Gewöhnung oder Angst. Jedenfalls will der nächtliche Blick übersehen, er zerteilt und überbrückt, er hält sich fest am Display, nur noch 14 Prozent, oder der Betrachtung einer Abfahrtsanzeige, immer noch 2 Minuten. So heißt es im Film einleitend, dass gerade die jüngeren Kulturen die Nacht am allermeisten fürchten. Für Hiller besitzt jener Macht, der über das Licht verfügt: Wer im mittelalterlichen England ohne Fackel anzutreffen war, musste mit dem Kerker rechnen, denn man verschafft sich einen Vorteil zu sehen, ohne gesehen zu werden. Der Film atmet insofern nicht nur die verführerische Luft der Nacht, sondern begegnet ihr mit einer kulturkritischen Perspektive, einer modernen Furcht, die ausgehend vom Kino wieder zu diesem zurückkehrt. Es heißt, dass der Kapitalismus die Nacht zum Verschwinden gebracht hätte, er verlängert den Arbeitstag und gräbt dem Traum das Wasser ab. Oder anders: Schlaf dient zur Erholung des Realitätsprinzips – Schlaflosigkeit verlebendigt die Alpträume. Einsamkeit ist das Produkt der Moderne. In diesem Sinne wird Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen von der Erzählung einer Frau in einer fremden Wohnung begleitet, die auf einen Mann wartet, nicht ihr Ehemann. Stunden mit kreisenden Gedanken vergehen, deren Hoffnungen von einer Dämmerung zur nächsten ins Nichts gleiten. Hier erinnert Hillers Film, dem seit 1991 beachtlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, an Chantal Akermans zehn Jahre älteren Toute une nuit. Während Akermans Nächte in ihrer eigenen Dynamik und Geschwindigkeit verlaufen, sieht Hiller in ihnen einen monoton-treibenden, stampfenden Rhythmus, der von Fritz Langs Metropolis’ Moloch in die Technokeller des wiedervereinigten Landes hallt. Diese Entfremdungserfahrung saugt die Montage in einer Weise auf, die für das Gesprochene keine Entsprechungen oder Entgegnungen findet, eher Entgleisungen wählt, suchend und ahnend. Die postmoderne Nacht hat unter dem unbeirrbaren Druck hydraulischer Zylinder alles Abseitige, von Wünschen bestimmte, durch vorgegaukelte Authentizität, wie in der Pornografie, überformt. So bliebe für Hiller nichts am überstrahlten Schattendasein der Nacht übrig, wenn es nicht die Legende der weißen Krokodile gäbe, die ungesehen in den Abwässern New Yorks aber auch andernorts leben. Nur in den Fundamenten der Moderne könnte der Mythos überdauern oder neu entstehen. Was bedeutet das für die Retrospektive? Auch wenn die Kritik an der mangelhaften Programmierung aufgrund des gestrichenen Geldes ihre Berechtigung hat, ignoriert sie die Filme, die immerhin zu sehen sind. Eher müsste man fragen, warum ein Programm damit beworben und unwidersprochen bemessen werden muss, wie sehr es sich im Bereich des Abseitigen bewegt. Es spricht daraus ein aufgeregter Drang nach Entdeckungen, die sich vor lauter Verheißung gar nicht einlösen können. Hätte es unvorstellbarer sein sollen oder authentischer? Als stünde man noch tief in der Nacht, eher sinnierend als träumend, will man die Enttäuschung kaum fahrenlassen, dass bereits der nächste Tag begonnen hat. Zeit lässt sich auch in Retrospektiven nicht zurückdrehen: Sie sind weniger kollektive Träume als deren einsame Wiederkehr und notwendige Reflexion.