Altern und Spielberg widersprechen

It is only that youth is still able to believe
It will get away with anything, while age
Knows only too well that it has got away with nothing

(aus The Sea and the Mirror von W.H. Auden)

Ich möchte Steven Spielberg widersprechen. Das heißt, ich möchte ihm begegnen, entgegnen. Ich möchte etwas zu seinen mich nachhaltig störenden Filmen sagen, was nicht gesagt wurde oder etwas verneinen, widerlegen, anzweifeln, auflösen. Ich kann und möchte nicht, seine Bedeutung für das Kino hinterfragen. Ebensowenig soll sich das hier wie eine Kritik an seinem Schaffen lesen, dafür fehlen mir die Instrumente und die Laune. Vielmehr möchte ich über ihn verstehen, was mich am Kino stört. Sein neuer Film The Fabelmans bietet sich als perfektes Beispiel für diese Unternehmung an, schließlich liefert er eine selbstmythologisierende, irgendwie alles zusammenfassende Genese seiner durch die Filme schimmernden Persona, seiner überlappenden Vision eines Kinos und der durch das Kino verformten Welt. Wann immer hier also von The Fabelmans geschrieben wird, ist eigentlich und unbedingt das Werk Spielbergs an sich gemeint.

Ich kann mich noch genau erinnern, ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, als ich den Namen Spielberg zum ersten Mal bewusst hörte. Bei einem Abendessen im Nachbarhaus erzählten sich die allesamt älteren Kinder von weißen Haien und Dinosauriern und in meinem Kopf entstand neben manch furchterregender Phantasie ziemlich schnell eine Verbindung zwischen Namen und Beruf. Spielberg und Regisseur. Ein bisschen so wie Becker und Tennisspieler, Matthäus und Fußballspieler, Clinton und Präsident. Meine erste Begegnung mit einem Film Spielbergs habe ich vergessen, da muss ich ihm also gleich widersprechen, da er in The Fabelmans doch allzu dick aufgetragen von bestimmten Filmen erzählt, die ihn geprägt hätten. So ganz stimmt das natürlich nicht, denn auch ich hatte solche Erlebnisse im Kino. Die aber kann ich kaum mit weit aufgerissenen Augen und Lichtstrahlen verknüpfen. Vielmehr erlebte ich sie, zum Beispiel bei meiner ersten Begegnung mit Antoine Doinel ganz bei mir selbst, gar nicht so stark auf die Leinwand fixiert, sondern mehr von ihr durchdrungen, das, was sie zeigte, durch mich fließend erspürend. Ich entdeckte das Kino weniger im Kino als in dem, was von ihm in mir fortlebte. Für mich hängt das Altern an den geheimsten Momenten, dann, wenn ich alleine bei mir erahnte, dass es etwas gab, was ich nicht kannte.    

Spielberg aber zeigt Erkenntnisgewinn in penetrant lichtdurchfluteten Nahaufnahmen, er behauptet, dass man (ich, du, die Kamera und vor allem ein ominöses Wir) sieht und deshalb empfindet. Das war immer anders für mich. Gerade weil ich dem Sehen so viel Bedeutung beimesse und stets beigemessen habe, empfinde ich stärker in der Erblindung, dann also, wenn sich etwas über das Sehen stülpt, sei es eine Berührung, ein Geräusch oder ein körperliches Erinnern (die leichten Zuckungen, mit denen ich einschlafe, der Phantomschmerz, der sich gegen das innere Vergessen sträubt, ein plötzlicher, verlorengeglaubter Geruch, der mich am Leben hält). Wenn je etwas in mir gereift ist, dann geschah dies in der Dunkelheit, eben dort, wo mich niemand sehen konnte, am wenigstens ich selbst, in einem Zustand entblößter Intimität, geborgener Vertrautheit, mich umgebender Sicherheit. In diese Dunkelheit, die es bei Spielberg schlicht nicht gibt, weil er alles ausschließt, was sich nicht erzählen lässt, zerre ich bis heute meine Ängste und Begehren. Diese Dunkelheit ist paradoxerweise das Kino für mich. Ich weiß aber nicht, ob das so widersprüchlich ist. Es spielt auch keine Rolle, es führt nur letztlich dazu, dass mir die Formen des Erinnerns, des Konstruierens eines Lebens in The Fabelmans unerträglich falsch vorkommen, ein bisschen so, als hätte Proust geschrieben: Ich sah den Sandteig und alles war klar. Spielberg filmt immer nur die Blüten und behauptet, dass sie Samen wären. Warum? Wahrscheinlich weil die Blüten den größeren gemeinsamen Nenner erzeugen, sie lösen die Emotion aus, die er einfangen will, während die Samen viel zu unberechenbar und ehrlich wären für dieses Kino der Gefühlskontrolle. 

Nun mag man mir entgegnen (ich kann mir keinen Dialog mit Spielberg vorstellen, weil ich tief in mir überzeugt bin, dass ihm das alles egal ist), dass dieser Mann nun mal filmt und wenn man filmt, dann geht es ums Sichtbare und dann kann ich nicht erwarten, dass er das filmt, was man nicht sieht. Das ist wiederum mir egal. Mal abgesehen davon, dass ich glaube, dass es Filme über das Heranwachsen gab, die diese Dunkelheit erahnt haben (zum Beispiel von Maurice Pialat), behaupte ich im Gegensatz zu diesem Regisseur keineswegs, dass meine Form des Älterwerdens kollektive Gültigkeit hat; ich bin nicht dazu in der Lage und ich bin nicht dazu bereit, mich selbst so sehr zu entleeren, dass andere sich auf mich, in mich projizieren sollen. Diese Form der Projektion (in diesem Wort werden jene, die Spielberg zusprechen, die gewünschte Doppeldeutigkeit finden) beseelt beziehungsweise pervertiert jede Sekunde in The Fabelmans, einem Film, der angeblich aus Kindheit und Jugend seines Machers berichtet, während man dazu eingeladen wird, in jedem Bild sich selbst zu entdecken. Man blickt in den großen, alles überblendenden Spiegel der westlichen Mittelklasse. Die daraus folgende Rührung ist lediglich narzisstische Flucht in überladene und schlichtweg falsche Bedeutungen von Familie, Mutter, Vater, erste Liebe, die auch deshalb so anwidernd effektiv arbeiten, weil diese limitierte, auf eine bestimmte Bildungsschicht zielende Art des Fühlens längst den Ereignissen vorausgeht. Wie ich bereits erwähnte, kannte ich Spielberg bevor ich mich in eine Klassenkameradin verliebte und bevor ich mich ins Meer wagte. Sein larger than life Kino erzeugt Erwartungen an das eigene Leben. Bis zur Verwechslung. Spielberg würde mir, so denke ich, ohne mit der Wimper zu zucken, sagen, was es bedeutet, meinen Vater zu lieben. Aber er kennt meinen Vater nicht und das macht mich stutzig.

Das Älterwerden in The Fabelmans ist ein sentimentales Unterfangen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, auch wenn die im Film vorherrschende Sentimentalität eher der überhöhten Erinnerung an die Jugend, als dem tatsächlichen Durchleben selbiger geschuldet scheint. Das Sentimentale, Glorreiche, Überwältigende der Jugend äußert sich auch nicht stilistisch, wie das zum Beispiel in den Kindheitserinnerungen von Danilo Kiš geschieht, dafür ist Spielberg viel zu industriell, brav. Er behauptet (und viele folgen ihm), dass man in diesem industriellen, von bekannten Grammatiken beherrschten System persönlich erzählen kann. Das muss man sich erstmal trauen. Aber seis drum. Spielberg behauptet auch, dass man entlang einer nachträglich nachvollziehbaren Linie altert, dass sich das, was zählt, aufeinander schichtet und ergänzt, dass es einen Ariadnefaden gibt, entlang dessen man sich irgendwann zurück durch das eigene Leben bewegen kann. Eine Begegnung hier, ein Scheitern dort, ein Trauma, eine Erfahrung, ein Erfolg und schon ist man wer und kann davon erzählen. Mein Älterwerden dagegen bestach stets dadurch, dass das, was mir eben noch wichtig schien, kurz darauf bereits wieder vergessen war. Das ist auch heute noch so, schließlich werde ich noch immer älter und möchte mich auch weigern, je so alt zu werden, dass ich zurückblicke auf etwas, das ich als abgeschlossen erzählen möchte. Wenn ich unter Einfluss von unerwünschten Gefühlsregungen doch einen Blick zurückwerfe, dann empfinde ich meist Entfremdung. Meine Ich-Erzählungen lassen keine Fäden erkennen, sie verirren sich ununterbrochen, enden in Sackgassen und ja, es sind diese Sackgassen, in denen ich vielleicht etwas von mir erkenne. Eine Begegnung mit meinem jüngeren Ich würde nicht diese von Hollywood propagierte Lebensweisheit auslösen, sondern schlicht Irritation. Jedes Jahr ist letztlich eine Aneinanderreihung genuiner Fehler, die mich ein bisschen mehr verstehen lassen, dass ich nicht bin, wer ich glaubte zu sein. Es mag ein Bild geben, das dadurch entsteht, aber ich könnte dieses Bild nie selbst erzeugen, empfinde mich vielmehr im ständigen Widerspruch zu diesem Bild. Ich muss ständig Rollen aus meiner Vergangenheit spielen, die mir keineswegs entsprechen. Spielberg dagegen bedient sein eigenes Bild, er erschafft es gleich mit, weil er weiß, dass die Mythenbildung Teil der Filmwelt ist. Es lässt sich bestimmt auch besser leben, wenn man sich selbst narrativeren kann. Wer nun sagt, dass es nun mal zum Kino gehört, ein Leben in Plot-Points und derlei Stumpfsinn einzuteilen, hat nie Filme gesehen. Und irgendwann muss auch ernsthaft darüber diskutiert werden, dass Filme enden, das Älterwerden aber nicht. Es fällt auf, dass kaum ein Film je über die dust to dust Religiosität hinweggegangen ist, um wirklich zu zeigen, was passiert, wenn man immer weiter altert, selbst wenn man schon tot ist. Körper scheinen ohnehin nicht so wichtig für das Kino-Altern, zumindest bei Spielberg, bei dem nie wer müde wird oder lasch, bei dem es nie das Gefühl gibt, dass vor drei Jahren noch schmerzfrei war, was heute höllisch wehtut. Auch das ist vergeistigt, spirituelle Blicke in den hell strahlenden Himmel. Das wahre geistige Symptom des Alterns jedoch, das sich an sich selbst berauschende Selbstmitleid, spart er aus. Es ist zu wenig tröstlich für seine Art des Kinos. Er überlässt es den Zuschauern, die unterstützt von penetranter Musik weinen sollen. Diese Musik entspricht selten dem Raum des Geschehens, sie kommt aus dem Raum des Betrachtens. Spielberg zeigt wiederholt sein Alter Ego beim Setzen von Musik auf bereits existierende Bilder, man könnte es musikalische Untermalung nennen, nur dass die Bilder hier eher die Musik untermalen; hier verrät er sich, denn sein Erinnern ist nicht subjektiv, es sucht nach einem allgemeingültigen Effekt. Und was ist daran schlimm? Gar nichts, nur dass eben nichts gezeigt und gesagt wird. The Fabelmans ist reines Suggestivkino, eine leere Samthülle, in die sich jene (vor allem Männer) einkuscheln können, die ihren eigenen Bezug zur Kindheit verloren haben. Kind sind ohnehin alle geblieben, nur die Jugend verliert man zu schnell (auch dieser Satz lässt mich schneller altern). Es ist nicht wirklich traurig, dass sich die Eltern des jungen Fabelmans oder Spielbergs trennen, traurig ist, dass ein Gefühl der Geborgenheit nicht haltbar ist, und das haben letztlich alle schon, aber alle anders erlebt. Würde einer schreiben: Wir alle verlieren das Gefühl der Geborgenheit, würde man ihn als Schriftsteller kaum ernst nehmen. Im Kino dagegen scheint dieser Allgemeinplatz auszureichen, weil das Kino nur allzu gern die Wahrheit betrügt, für ein egal wie billiges Gefühl kollektiver Erinnerung.

Zum Spielberg-Mythos gehört beispielsweise, dass er als kleiner Junge gerne Züge kollidieren ließ und weil er das immer wiederholen wollte, zum Kino gekommen ist. Ist es nicht spannend, dass ein destruktiver, auf die reine Freude an der unvorhersehbaren, zerstörerischen Bewegung gerichteter Impuls zu einem Kino führte, das für sich beansprucht, alles fügen, in runde Formen gießen zu können? Was ist aus diesem Jungen geworden, der angeblich einen Zug in die Luft sprengen wollte für das Kino? Jemand, der glaubt rückwirkend alles zusammenfügen zu können, einer, der schwelgerisch lügt über das, was angeblich irgendwann alles Sinn ergibt, statt einfach weiter zu erkennen, dass das mit dem so innig geliebten Licht am schönsten ist, wenn es durch die Risse und Narben dringt. Einer, der klebt, statt sprengt. Spielbergs angeblich jüngeres Ich hat viel mehr über mein Älterwerden verstanden als dieser alte Mann, der darüber Filme macht. Am Ende steht dann auch in The Fabelmans eine Art offene Erkenntnis, etwas Erbauliches, mit dem man weiter altern kann. Ich muss nicht betonen, dass mir Derartiges noch nie widerfahren ist. Je älter ich werde, desto unabgeschlossener jede Erkenntnis. Jeder Abschluss führt nur zu weiteren Verästelungen. Kann man darüber nicht erzählen? Ist es so viel wichtiger, das Gegenteil zu behaupten? Für jede letzte Einstellung, in der wer auf einen wie auch immer kadrierten Horizont zusteuert, stirbt jemand, weil von rechts oder links zufällig genau dann ein Auto kommt. Es war John Ford, der in seinem Young Mr Lincoln verstanden hat, wie man eine solche, dem Horizont zugeneigte Schlusserkenntnis zeigen könnte: in einem Gewitter, in dem klar wird, dass das, was kommt, alles was war, wegwischen wird.

Liebesbrief an Jeanne Moreau

Liebe Jeanne Moreau,

ich habe dich gesehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob du auch mich gesehen hast. Es muss in einer regnerischen Nacht gewesen sein, irgendwo, wo wir nicht zuhause sind. Ich muss dir einfach schreiben. Vielleicht sitzen wir eines Tages auf einem Golfplatz und du liest mir diesen Brief vor. Ich verspreche dir, dass ich mich daran erinnern werde, dass ich ihn dir geschrieben habe.

Eva Losey
Ich bin mir nicht sicher, ob du jemals kleiner bist, als die Leinwand, die dich zu mir bringt. In vielen Filmen bist du allein mit dem Licht und dem Schatten, selbst wenn du von Männern umgarnt wirst. Du wartest an Ufern, du scheinst nie auf etwas zu warten, sondern immer im Warten selbst zu existieren. Oft sind es reiche Männer, schöne Männer, die um dich tanzen. Du bist zwischen den Armen von Jean Gabin und Lino Ventura gehangen. Vielleicht muss das so sein in Frankreich. Aber ihrer maskulinen Art bist du mit einem Trotz der verführerischen Verachtung begegnet. Mit deinem herunterhängenden Mundwinkeln (ich fand es immer passend, dass du einen Film über Lilian Gish gemacht hast, die in der berühmtesten Mundwinkel-Szene der Filmgeschichte gespielt hat, ja du bist eine zerbrochene Blüte, aber auch ein blühendes Zerbrechen), der hohen Stirn und dem Gang, dem man Stunden zusehen kann. Für mich hast du deinen Kopf immer leicht im Nacken, deine Nase etwas in der Luft. In der Sonne, im Regen, in der Stadt. Du bist der Widerstand im Regen. Der Widerstand gegen die eigene Schwäche, gegen die Blicke, die dich verfolgen. Manchmal schäme ich mich fast, dich anzusehen. Du blickst zurück, ohne mich anzusehen. Du bleibst unerreichbar.

Du trägst eine natürliche Schwere in dir, die mal gelangweilt wirkt, mal arrogant, mal zerbrechlich, mal leidenschaftlich, mal aufrichtig und mal geliebt. Aber du hast auch eine leichte, verspielte Seite, ich habe sie gesehen zwischen zwei Männern, mit Musik, mit Mützen. Hast du mir da zugeblinzelt?

Eleveator Gallows
Du hast zu oft traurig gesagt: Je t’aime. Kann ich dir noch glauben? Ich bin mir da nicht sicher und jetzt muss ich dir ein Geständnis machen. Ich habe dein Tagebuch gelesen. Ich weiß, dass der Mann, der den Schuhfetisch hat dich mag. Der dicke Anwalt, der sich kaum aus seinem Bett erheben kann, mag dich auch. Du verwirrst mich. Ich versuche nicht eifersüchtig zu sein, aber ich würde dir gerne meinen Garten zeigen. Außerdem würde ich dir gerne meine neue Waschmaschine präsentieren, wenn du mal wieder gelangweilt in deiner Wohnung sitzt. In deiner Langeweile liegt etwas, was einen Blick in dich ermöglicht. Du öffnest dich für Zeit-Bilder, dein Spiel existiert immer mit der Zeit, die man nicht mehr sehen kann. Vielleicht hattest du deshalb Probleme älter zu werden. Du singst dann: Each man kills the thing he loves. Ich mag das, es passt zu dir.

Ich muss dir noch etwas gestehen, vielleicht ist es blöd: Ich mag dich lieber in schwarz und weiß als in Farbe. Es scheint für dich gemacht, es betont den Schatten unter deinen Augen, die minimalen Regungen in deinem Gesicht, die mir sagen, dass du dort ,wo du bist, nicht du sein kannst. Die Farblosigkeit unterstreicht deine Traurigkeit, die so viel Würde in sich trägt. Nur du kannst bei deiner Hochzeit schwarz tragen. Ein Trauerzug, wie alles an dir und mir dir, sich abwendend, hinfort fahrend in das Unbewusste einer Sehnsucht.

In der reflektiert ein Licht, das kein Licht kennt.

Nathalie Granger

Il Cinema Ritrovato 2017: La nuit américaine von François Truffaut

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Lass uns gleich ins kalte Wasser springen. Es gibt in La nuit américaine mehrere Szenen, in denen sich Cast und Crew in einen freien Nachmittag oder Abend verabschieden. Der Schauspieler Alphonse, der im Film von Jean-Pierre Léaud gespielt wird, sagt seinen Kollegen dabei jedes Mal ab und geht lieber allein ins Kino. Eigentlich ein running gag, aber als Kinobegeisterter findet man sich denke ich automatisch in dieser Figur wieder. Es ist prinzipiell sehr charmant von Truffaut die cinephile Schrulligkeit – hier, aber auch in anderen Szenen – zu würdigen, aber so sehr ich mich mit diesen Figuren und Momenten identifizieren kann, so sehr erschöpft sich diese Geste aber auch, wenn ich länger darüber nachdenke.

Sebastian: Du hast natürlich recht. So charmant dieser Witz ist, es wirkt manchmal fast so, als ob Truffaut versucht seine Cinephilie zu beweisen. Dass gerade Jean-Pierre Léaud, diesen Satz immer wieder sagt, ist auch auffallend. Obwohl Truffaut selbst in diesem Film spielt, erscheint Léaud immer noch wie eine Art Alter Ego. Aber irgendwie ist das Ganze sehr passend für den Film. Allgemein entwirft er ein Bild, das vor allem behauptet, dass alle Filmschaffenden absolut verrückt nach Kino sind. Es gibt ja auch die Szene, in der Truffaut selbst verschiedenste Bücher über große Filmemacher (Bunuel, Godard, Dreyer…) zeigt. In einer Szene in der nicht gedreht werden kann, und deshalb Hintergrundgeräusche für den Film gemacht werden, muss der Tonassistent darauf hinweisen, dass sich bitte niemand über Filme unterhalten soll. Ob das Bild realistisch ist, darüber kann man wohl streiten. Es scheint natürlich sehr utopisch, andererseits habe ich vor kurzem ein Interview von Kogonada gehört, in dem er erzählt, wie überrascht er war, dass Johnnie Cho ein riesiger Truffaut-Fan ist (wie passend), und das einer seiner Produzenten, der bei Twilight mitgewirkt hat, ein riesiger Ozu-Fan ist. Vielleicht ist die Darstellung der Filmlandschaft in La nuit américaine gar nicht so realitätsfern, wie man zuerst denken mag.

Außerdem passt das Ganze (auch wenn es schon sehr dick aufgetragen ist) ganz gut zu einem der Themen des Filmes. Truffaut scheint zu behaupten: Film ist gegenüber dem wahren Leben zu bevorzugen.

Rainer: Es geht mir da gar nicht um Realitätsnähe oder -ferne, und auch nicht darum, ob ein Filmemacher seine Vorbilder so offensiv nach außen tragen sollte, sondern darum, was er daraus macht. Er macht das ja zunächst sehr raffiniert: ein Film über das Filmemachen, der aber nicht den Anspruch erhebt, einen authentischen Blick hinter die Kulissen eines Filmdrehs zu werfen, sondern eine Art Parallelwelt konstruiert. Diese Welt setzt sich aus diversen anekdotenhaften Episoden zusammen, bei denen auch ohne viel Fantasie vorstellbar ist, dass sie sich tatsächlich hätten zutragen können. Die Frage, die ich mir stelle, ist nur, wo darin die Liebeserklärung an das Kino aufhört und wo eine narzisstische Liebeserklärung an sich selbst beginnt. Das ist jetzt gar nicht als rhetorische oder Suggestivfrage gemeint, sondern ich stelle sie mir tatsächlich. Ich mochte den Film auch, aber irgendetwas daran, lässt mich doch sauer aufstoßen.

Sebastian: Wenn man dem Film eines vorwerfen kann, dann wahrscheinlich das. Truffaut spielt selber den Filmregisseur und lässt seine Figur keine böse Tat vollbringen. Er ist oft gestresst, vielleicht sogar etwas überfordert (sein Kontakt mit den Schauspielern ist immer unbeholfen), dennoch immer gutmütig. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, dann nur, dass er einen schlechten Film macht. Auch die Tatsache, dass er die Figur zumindest scheinbar biographisch anlegt (die Episode mit dem Stehlen von Filmbildern in seiner Kindheit) lässt das ganze als verherrlichendes Selbstbild wirken.

Die Liebeserklärung an das Kino ist eine Liebeserklärung an den Filmschaffenden. Dieser wird von Truffaut gespielt. Ob der Film weniger selbstverherrlichend wirken würde, wenn Truffaut nicht die Rolle des Regisseurs selbst übernommen hätte?

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Vielleicht hilft es, sich genauer anzusehen, welcher Film da eigentlich gedreht wird. Ein junges Ehepaar reist zur Familie des Mannes, um die Schwiegertochter vorzustellen. Die brennt aber schließlich mit dem Vater durch. Der Cast ist international, die Finanzierung ebenfalls und allgemein scheint der Film eher ein mittelgroßes Allerweltsprojekt eines Studios zu sein, als ein Autorenfilm. Truffaut dreht hier einen Film im Film, den er auf diese Weise so wohl nie gedreht hätte, aber in einem System und in einer Größenordnung, die den Hollywood-Produktionen nahekommt, die seine cinephile Generation in Frankreich sehr stark geprägt hat. Umso mehr ich darüber nachdenke, umso weniger sehe ich den Film vor lauter Verbeugungen.

Die Vermischungen zwischen tatsächlicher, imaginierter und vergangener Produktionsrealität, zwischen Parodie und Loblied, zwischen Verherrlichung des Autorengenies und seiner Dekonstruktion sehe ich dann doch etwas problematisch, denn sie verleihen dem Film keine Brüchigkeit, sondern nehmen ihm ganz einfach seine Transparenz, seine Ehrlichkeit. Mit Ehrlichkeit meine ich, wie gesagt, nicht eine vermeintliche Realitätsnähe, sondern die Frage, ob sich der Film seinem Publikum auf Augenhöhe annähert.

Sebastian: Ich verstehe schon, welche fehlende Ehrlichkeit du da ausmachst. Der Film scheint sich jeglicher Haltung zu entziehen. Als Godard Truffaut für diesen Film kritisierte, nannte er ihn einen Lügner. Vielleicht ist Truffaut gar nicht so sehr ein Lügner. Die Frage ist, ob der Film nur ein naives Loblied aufs Kino ist, oder ob mehr dahinter steckt. Allerdings ist das unmöglich auszumachen. Der Film hat im Endeffekt keine Haltung.

Das Einzige, was ich ausmachen kann, scheint die Behauptung zu sein, dass Filmemachen eine Tugend ist. Dabei ist egal, ob der Film gut, oder schlecht ist. Hauptsache man macht Filme. Gesund erscheint mir die Haltung nicht. Dennoch ist sie die einzige, die ich stützen kann. Truffaut selbst sagt im Film „Cinema is King“, alles andere ist irrelevant. Wenn Filme wirklich „wie Züge in der Nacht“ sind… Wohin fährt dieser Zug?

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Ich würde glaub ich nicht ganz so weit gehen, wie Godard, aber gerade wenn man sich ansieht, wie konsequent Godard in seinen Filmen eine Haltung zur Welt artikuliert, dann lässt La nuit américaine so eine Haltung schon vermissen. Denn, wie du sagst, interessiert sich der Film weniger für die Welt, als für eine filmische Sphäre, die nach ihren eigenen Regeln abläuft und ganz gut ohne die Welt zurechtkommt. Diese Fantasie ist natürlich sehr schön und verführend – gerade für jemanden, der das Kino liebt –, aber sie ist auch gefährlich.

Es tut mir fast etwas leid, dass ich so hart mit dem Film ins Gericht gehe, weil es gibt ohne Zweifel viele, viele Filme, die in vielerlei Hinsicht problematischer sind. Der Film hat auch mich bis zu einem gewissen Grad verführt, aber in Retrospektive fällt es mir ein wenig schwer zu akzeptieren, dass diese Verführung kaum einer Reflektion standhält.

Sebastian: Man kann dem Film vielleicht zugutehalten, dass er selber Bescheid weiß. Darüber, wie sehr er sich der Welt verschließt. Er ist wie eine Einladung diese falsche Welt zu akzeptieren. Alles weist auf diese Falschheit hin. Der Titel „Die amerikanische Nacht“ weißt auf ein filmisches Verfahren hin, bei dem Nachtszenen untertags gedreht werden mit einem besonderen Filter. Es könnte also eine Einladung zu einer Abwendung von weltlichen Problemen sein. Genauso wie eine Filmcrew sich ein paar Wochen zusammen zurückzieht, um einen Film zu drehen (mit ihren eigenen Konflikten und Problemen), so ist dieser Film ein Rückzug für zwei Stunden.

Das ist natürlich legitim. Truffaut beschränkt sich in gewisser Weise in diesen zwei Stunden nichts anderes zu tun, als das Kino zu preisen. Es geht um Freude, um Emotionen und für Truffaut um einen Sinn fürs Leben.

Liebe im Kino

In Anlehnung an einen Text von Tuli Kupferberg (Love in the Movies) in Film Culture No.25, Summer 1962.

Dieser Text soll sich nicht mit dem unergründlichen Thema der Liebe und ihrer kinematographischen Darstellung befassen, sondern mit der Liebe vor der Leinwand. Dem Kuss in der letzten Reihe, der heimlichen Berührung am Oberschenkel und dieser endlosen Sehnsucht, die sich in einem rührt, wenn man die Einsamkeit der Kinobilder vor sich schwimmen sieht, während man seinen eigenen Körper nicht mehr spüren kann.

Aber Cinephile sind einsam. Sie sind blass und können nicht sprechen. Hans Hurch hat gesagt: „Cinephilie ist eine Krankheit.“ Leichen der Umnachtung, sozial unfähige Trinker und Träumer…wie wollen wir von Liebe im Kino sprechen? Sprechen wir von der Einsamkeit des Cinephilen. Das Problem: Ein Kuss während eines Films ist ein Verbrechen. Geht man als Cinephiler mit einem Partner oder einer Person des Begehrens ins Kino steht man wie zwischen zwei Lieben. Man muss eine betrügen. Dort die Unendlichkeit von Bildern und Tönen, die sich wie die aufregendste Fremdheit in der Heimat anfühlt und in uns all die Sehnsüchte und das Begehren einer potenzierten Liebe verdichtet einflößt. Und hier die, in der Reflektion dieser Sehnsucht erstrahlenden Augen einer anderen Unendlichkeit, in die man mit weitaus weniger Sicherheit eintauchen möchte, die eine andere Sinnlichkeit und Körperlichkeit offenbart, eine hinter der man nicht unsichtbar bleiben kann, eine die verpflichtet und zur Handlung verführt. Ein unlösbares Problem. Ist das nicht so? Bevorzugt man das eine, verletzt man das andere. Nein, gibt man dem einen nur eine Sekunde, stiehlt man dem anderen alles. Man fragt sich, warum nicht beides gleichzeitig geht und denkt an die verstohlenen Blicke zur Leinwand in The Last Picture Show (ein Film von einem krankhaft cinephilen Casanova) oder das Entdecken einer Liebe im Kinosaal von Antoine Doinel (in einem Kurzfilm von einem besessen-cinephilen Casanova).

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Doch trägt diese Dunkelheit überhaupt noch ein Versprechen in sich? Das Kino als Rückzugsort für Jugendliche ist heute Vergangenheit. Ein Kuss in der Dunkelheit ist heute kaum mehr Zauber, er ist eher Schüchternheit. Wer würde schon noch davon sprechen, dass man einen Ort für Intimität und Dunkelheit sucht? Doch dann betritt eine junge Frau den Kinosaal, sie gibt sich große Mühe, um die geheimnisvolle Aura der Leinwand zu übertreffen, sie kommt immer kurz bevor es losgeht, damit alle sie sehen können, sie kommt immer alleine, sie ist abwesend und doch verspielt, sie dreht sich durch die Eingangstür, als würde in jeder Sekunde ein Scheinwerfer auf ihr erblühen, sie ist Marlene Dietrich in Morocco (von einem Mann, der vielleicht verstanden hat, wie man diese zwei Lieben vereinen kann), sie ist die Fahrt wie ein Wind auf Gene Tierney in Heaven Can Wait, sie dreht sich in das Kino, jemand flüstert zu sich selbst: „Sie sieht aus wie Sylvia Sidney,“ sie ist ein Pick-Up Artist, mit ihren traurigen Augen, die einladend lächeln… machen wir uns nichts vor: der von Augenringen des Leids umnebelte Junge in schwarz, der immer auf dem selben Platz in der zweiten Reihe sitzt und auffällig häufig mit dem Finger über seine Lippen streicht und auf jeden Fall so aussieht, als wäre ihm alles egal, ist auch ein Pick-Up Artist, Cinephile sind Pick-Up Artisten der Einsamkeit, sie bemerken kaum, dass sie nie jemanden berühren, aber dafür in den Träumen der blickenden Doinels und Bogdanovichs landen bis diese ihnen die wichtigste Frage nach einem Film stellen: „Ich fand One Hour with You ja besser als The Marriage Circle. Was meinst du?“

Kann man sich auf den Film konzentrieren, wenn man verliebt ist? Vielleicht haben Verliebte gar nichts im Kino verloren, obwohl Filme für sie gemacht sind. Das Kino ist ein Betrug, eine Lüge, die Wahrheit in 48fps. Eigentlich ist es anders. Cinephile haben diese Regungen nicht. Sie sind kalt und zu neurotisch für Liebe. Sie sind krank, ungepflegt und es ist ihnen egal. Sie tragen nur mehr ihre Sinne in den Kinosaal, der das Grab und die Blüte ihres Lebens in einem Licht ist. Oder sie kennen keine Proportionen. Weil sie in den Filmen leben, ist ihnen nichts im echten Leben gut oder geheimnisvoll genug. Sie erstarren und warten auf eine Nahauaufnahme. Es müssen sich zwei Cinephile finden, damit sie es nicht merken. Das stimmt nicht. Das Kino kann einen zur Liebe bringen.

Carax

Godard hat eine Seelenverwandte gesucht, um Filme mit ihr zu drehen und er hat Hunderte gefunden. Heute gibt es nur noch den verstohlenen Blick. Carax hat gesagt, dass für ihn das schönste im Kino der gefilmte Nacken einer Frau wäre. Was passiert, wenn er im Kino sitzt und ein Nacken auf der Leinwand erscheint, während die Frau vor ihm sitzend, vielleicht weil sie gerne in seinen Filmen spielen würde, vielleicht einfach so, sanft über den eigenen Nacken streicht. Wohin schaut Carax? Wer spaziert mit uns nach den Filmen durch die Nacht? Wollen wir nicht alleine sein, alleine mit den Erinnerungen an den Film? Suchen wir jemanden, der mit uns über den Film spricht? Nein, wir wollen entweder schweigen oder unendlich reden. Es gibt sie/es gab sie. Paare, die sich und das Kino lieben. Tarantino hat einmal gesagt, dass er, wenn er eine Frau kennenlernt, ihr zunächst Rio Bravo zeigen würde: „And she better fucking like it.“ Es ist klar, dass die Liebe im Kino davon beflügelt wird, dass man dasselbe liebt. Eine Art Menage à Trois zwischen den Augen zweier Liebenden und der Leinwand. Das funktioniert im Bezug zu den Bildern selbst besser, als wenn es um einzelne Personen auf der Leinwand geht. Die Liebe zum Kino kann besser geteilt werden als die Liebe zu Grégoire Colin.

Es gibt noch ein weiteres Problem mit der Liebe im Kino. Filme geben einem Zuseher einen Wissensvorsprung. Wer Filme von Garrel gesehen hat, kann sich nicht einfach blind in eine Liebe stürzen. Das Kino bereitet uns auf den Schmerz vor. Das ist natürlich kein Grund ihn nicht erleben zu wollen, aber wir sind gewarnt. Nur zu ihrem Glück sind Cinephile auch naiv. Sie suchen diesen Schmerz und finden ihn bereits in der Traurigkeit eines Blicks. Sie nehmen ihre Liebe mit in einen Garell-Film, sie tragen sie weiter in ihrem Herzen und danach wirkt ihr „Ich liebe dich“ wie eine Lüge. Wie im Zug bei Les Rendez-vous d’Anna von Chantal Akerman fliegt an uns die Welt und ihre Geschichte vorbei während wir uns in einem Flirt verlieren, den wir nicht haben wollen. Wir berühren, aber fühlen nichts, weil in uns noch die Tränen des letzten Films versickern. Wie soll man im Kino damit umgehen, dass Liebe blind macht? Renoir hat gesagt, dass Kino eine private Kunst sei, er meinte damit unter anderem, dass das Kino ganz direkt zu einem persönlich sprechen würde, wie ein Sänger, der einem in die Augen sieht, wenn er keine Kraft mehr hat. Nein, das ist kein Statement gegen die Liebe im Kino, es ist ein Statement dafür. Zu wenige stehen auf und küssen die Leinwand.

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Wie weit darf man gehen mit der Liebe im Kino, fragt Kupferberg 1962. Im selben Jahr dreht Antonioni L’eclisse, einen Film über das Ende der Liebe. Klar ist, dass es unterschiedliche Regeln gibt im Kino. Haben wir jemals geklärt, ob das Kino ein Ort der Freiheit oder der Disziplin ist? Man wird schließlich eingesperrt, aber dieses Eingesperrtsein fühlt sich an wie Freiheit. Wenn man sich küsst in dieser Gefangenschaft löst sich womöglich die Freiheit auf. Lieber blicken wir, begehren wir und stellen uns vor. Dann nach dem Kino halten wir unsere Hände, aber sie halten meist zitternd Zigaretten. Wir versuchen uns Dinge zu sagen wie wir sie im Kino gehört haben, aber sie klingen gekünstelt, wir lieben uns so wie im Kino und merken nicht, dass wir nur eine Projektion lieben. Was wir eigentlich lernen müssen, ist dass Liebe das Kino mit einschließt. Es gibt einen Drang, der sich für manche wie eine Krankheit anfühlt, für andere wie eine Lust und wenn man diesem Drang folgt, dann liebt man. Er führt direkt an die Lippen des Kinos, in die Zärtlichkeit von Augen, die das Kino sehen, in eine gemeinsame Flucht vor der Welt und in die geöffneten Arme einer weißen Leinwand, die man spürt, wenn man alleine ist und wenn man gemeinsam ist. Das Kino war immer ein Ort für Liebe, nicht nur weil man sich dort in der letzten Reihe geküsst hat, sondern weil dort Wahrnehmungskanäle in einem geöffnet wurden, die neben den Schmerzen, der Intelligenz, der Politik und der Wut auch von der ganzen Zärtlichkeit und Liebe der Menschheit durchzogen waren. Das ist aber nur ein Traum. Der Cinephile ist einsam voller Liebe.

Naturalismus der Liebe: L‘Enfant Sauvage von François Truffaut

Derzeit gibt es im Österreichischen Filmmuseum viele Tiere zu sehen. In Kooperation mit der Viennale begibt man sich dort in eine kleine Zoologie des Kinos. Dabei wird natürlich auch und immer wieder die Frage nach dem genuin Menschlichen gestellt: Was definiert ein menschliches Wesen als solches? Ein besonders spannender Film im Hinblick auf diese Frage ist François Truffauts L‘Enfant Sauvage. Dort verarbeitet der Filmemacher in einer seiner formal bewusstesten Arbeiten die Schrift Rapports et mémoires sur ‚le Sauvage de l’Aveyron von Itard. Der Film handelt von einem Jungen, der in einem Wald gefunden wird und sich wie ein Tier verhält und bewegt. Der Pariser Arzt Dr. Itard nimmt sich dem Jungen an. Von dort an folgt Truffaut, der den Doktor selbst verkörpert, dessen Berichten, Beobachtungen und Erlebnissen mit dem Jungen. L‘Enfant Sauvage ist narrativ letztlich ein Film über Beziehungen und Rollen in einer Erziehung, in der mehr und mehr die Frage nach Menschlichkeit entscheidend wird.

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Mit Truffaut verbindet man oftmals die bedingungslose Kinoliebe, die sich in seinen Filmen nicht zurückhalten kann und die durch die Liebe zu seinen Figuren oftmals in einem Blütenmeer der Identifikation ertränkt wird bis der gute Mann mehr und mehr vergessen hatte, wofür er sich eigentlich einsetzte. Aber das ist eine andere Geschichte. L‘Enfant Sauvage ist einer der wenigen Truffaut-Filme, die komponiert erscheinen, gesetzt und voller Bedeutung in der Wahl der Bilder und Töne. Man könnte auch sagen, dass es einer der wenigen Truffaut-Filme ist, in denen sich der Filmemacher der Bedeutung eines jeden Bildes bewusst war. Hier ist Truffaut politisch, politisch in der Form (weil man dort immer zuerst politisch ist…). Jacques Rivette hat von einer Notwendigkeit im Hinblick auf diese komponierten Bilder im Bezug zur erzählten Geschichte gesprochen. Er sagte, dass jeder Anflug eines dokumentarischen Stils fatal wäre für L‘Enfant Sauvage, da wir nicht im Jahr 1798 leben würden und es Victor nicht mehr gebe) Man kann sich darauf einigen, dass Truffaut dem gefolgt ist. Die Einstellungen wirken allesamt äußerst durchdacht und sie sind im Bewusstsein der Fiktionalität des Stoffes getroffen. Es ist vor allem deshalb so untypisch für Truffaut, weil er im Normalfall ein Filmemacher des Zeigens ist, die Politik des Filmemachens aber oft von dem dominiert wird, was man nicht zeigt. Die Frage ist also: Was zeigt uns Truffaut nicht und ist er damit wirklich genauso präzise wie er in den Fragen der Bewegung, der Musik, dem Spiel etc. ist?

Nun ist Truffaut ein Geschichtenerzähler, er liebt Dinge wie Dramaturgie, Figuren oder Effektivität. Daher werden wir das, was er nicht zeigt wohl vor allem auf dieser Ebene entdecken. Zum einen könnte man anmerken, dass Truffaut einige brutale Elemente der Aufzeichnungen Dr. Itards auslässt. So hielt dieser den Jungen einmal aus dem Fenster und auch das Ende war weitaus weniger offen, es endete nämlich im Tod. Letztlich sind dies aber keine Entscheidungen des Nicht-Zeigens, sondern des Etwas-Anderes-Zeigens, denn Truffaut interessiert sich offenkundig mehr für die Vaterfigur, die in der Cahiers du Cinéma als Filmemacher bezeichnet wurde, als für das wilde Kind, das demzufolge der Schauspieler war, mehr für den Vorgang der Erziehung, als um deren Resultate, obgleich diese immer eine Bedeutung erlangen, wenn sie emotionale Reaktionen hervorrufen. Interessanter ist da schon, dass Truffaut das Seelenleben der Figur, die ihn scheinbar am meisten interessiert, jene die er selbst spielt, im Dunkeln beziehungsweise nur im Halblicht einer Ambivalenz erscheinen lässt. Es gibt einige spannende Momente. So sperrt der Doktor das Kind einmal in eine dunkle Kammer, um es zu bestrafen. Truffaut verharrt in seiner halbtotalen Einstellung und schwenkt mit dem Doktor, der unruhig durch den Raum geht. Im Voice Over erklärt der Doktor jedoch sein Vorgehen. So ganz kann man Truffaut diese Brutalität weder als Schauspieler noch als Filmemacher abnehmen. Eine Geste auf dem Weg zurück zur verschlossenen Tür verrät ihn dann. Er greift mit dem Finger an sein Kinn. Eine Geste, die sein Seelenleben doch offenbart, denn was Rivette unterschätzt war, dass die Gesetztheit in diesem Fall etwas Dokumentarisches an sich hat. Der Stil ist sozusagen die Wiedergabe der Rationalität der Berichte und des Vorgehens des Doktors und gleichermaßen Ausdruck seines Innenlebens. Es geht Truffaut also nicht zwangsläufig um die Notwendigkeit einer Fiktionalität sondern vielmehr – wie so oft in seinem Ouevre – um das Potenzial einer Subjektivität, in der sich alles vermischt: Der Stil mit dem Inhalt und der Autor mit dem Protagonisten. Und darin liegt auch die Notwendigkeit seines Kinos und die entsprechende Distanz zum Historischen, denn Truffaut ist hier nicht an einer Repräsentation interessiert, sondern an den Elementen, die in einer Vergegenwärtigung der Geschichte für ihn und für uns interessant sind.

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Nein, was uns Truffaut nicht zeigt, das ist lange Zeit das Gesicht des wilden Kindes. In den ersten Bildern wird es immerzu verdeckt. Mal sind es die Haare des Jungen, mal die Hände, dann ein Schwamm und Dreck. Als der Dreck langsam aus dem Gesicht schwindet und wir zum ersten Mal das Kind erkennen, werden wir mit einer merkwürdigen Logik des Kinos, einer vielleicht gefährlichen Logik des Kinos konfrontiert. Truffaut unterstreicht diesen Augenblick und lässt die erhabene Musik Vivaldis just dann erklingen, wenn wir zum ersten Mal mit der Intimität des Gesichts von Victor in Berührung kommen. Hier hat Truffaut wirklich eine Entscheidung getroffen. Eine glückliche? Es ist klar, dass das Vorenthalten des Gesichts dramaturgischen Überlegungen unterliegt. Wir werden selbst in eine Unsicherheit über dieses Wesen gebracht, ein Wesen ohne Gesicht, ohne Identität.

Die Nahaufnahme war vor allem zu Beginn der Filmtheorie ein unerschöpflicher Hort der Inspiration. Die wohl berühmtesten Gedanken dazu hat sich Béla Balázs in seinem Text Der sichtbare Mensch gemacht. Für ihn sprach der Film vor allem über seine Gesichter, Gesichter die nationale, ethische Grenzen überwinden würden. Er nannte die Nahaufnahmen den Naturalismus der Liebe. Wieso also hält sich Truffaut zurück mit den Nahaufnahmen in diesem Film? Die Erklärung könnte wieder in der Vermischung von Form und Inhalt liegen, auch wenn Truffaut selbst davon sprach, dass es leichter gewesen wäre in Totalen mit dem Kinderdarsteller (Jean-Pierre Cargol) zu drehen, da man so nicht in die Verlegenheit gekommen wäre, die Unterbrechung von Bewegungen zu erklären und Cargol seine Handlungen am Stück ausführen konnte. Nur, wenn wir die Form des Films als subjektive, freie, indirekte Rede des Doktors sehen, dann muss dieser erst das Menschliche im Jungen entdecken und dann handelt L‘Enfant Sauvage tatsächlich auch auf formaler Ebene vom Prozess des Verliebens in einer sich aufbauenden Nähe zum Fremden. Ein richtiges Urteil darüber, ob es nun fatal ist, dass Truffaut das wilde Kind erst dann in einer Nahaufnahme zeigt, wenn es das Fremdsein ablegt, fällt schwer, da der Film eben die Wiedergabe einer subjektiven Perspektive ist.

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Es bleibt die Frage der Nahaufnahme von Tieren. Wenn wir mit Balázs gehen und in der Nahaufnahme das Menschliche sehen, dann wird es immer spannend, wenn Filmemacher sich entscheiden, ein Tier in einer Nahaufnahme zu zeigen. Es ist klar, dass das Tier im Kino viel über den Menschen zeigt, aber diese zärtliche Zuneigung kann auch von einer Bedrohung heimgesucht werden. Bedrohungen, die oft durch übersteigerte Nähe, Defragmentierung oder Verweigerung greifbar werden im Kino. Und dann beginnen die Grenzen zwischen der Schönheit und den Monstern im Fremden und in uns selbst zu verwischen, es entsteht eine Verunsicherung, die eine haptische Wahrnehmung der Körper erlaubt, ein Gefühl der Präsenz der eigenen Ängste, die sich bei Truffaut in Empathie auflösen, anderswo in Horror. Insofern ist L‘Enfant Sauvage auch ein Film über die sich ekelnde Empathie, nicht weil man Ekel empfinden würde, sondern weil es eine Empathie ist, die bis zur ersten Nahaufnahme nur über die Rationalität funktionieren kann, als würde man wissen müssen, dass jedes lebendige Wesen eine Nahaufnahme verdient hat. Letztlich könnte uns das zeigen, dass Liebe eine Frage der Perspektive ist. Folgerichtig endet der Film mit einem Blick.

Copie Conforme: Entre onze heures et minuit von Henri Decoin

Man kann wohl unterscheiden zwischen Filmen, die mehr in einen Dialog mit der Welt treten und Filmen, die mehr in einen Dialog mit dem Kino treten. Entre onze heures et minuit von Schwimmweltmeister Henri Decoin gehört mit großer Sicherheit zu letzterer Kategorie. Es ist ein vogelwilder Meta-Noir-Doppelgänger-Film, besessen von den Welten des amerikanischen Genres und so sehr darin verhaftet, dass er ständig zur gleichen Zeit parodistisch und todernst daherkommt. Schon zu Beginn erfährt man die Gangart, als in einer Art Prolog vor einem Filmtheater über die Doppelgänger des Kinos philosophiert wird. Mit dabei sind neben Charlie Chaplin in The Great Dictator auch Edward G. Robinson in The Whole Town’s Talking und Louis Jouvet in Copie Conforme. Der Doppelgänger habe Hochkonjunktur im Kino. Es ist eben jener Jouvet, der auch in Entre onze heures et minuit die Hauptrolle spielt und so kann man diesen Beginn schon fast als eine ironische Rechtfertigung für den Film betrachten. Ähnliches konnte man vor kurzem in Abel Ferraras Welcome to New York sehen. Menschen treten aus dem Kino und Decoin beginnt hier sein Statement für eine Welt der Illusionen und Geheimnisse abzufeuern. Sie beschweren sich über die Unglaubwürdigkeit solcher Filme. Eine verbitterte, ältere Frau mit herunterhängenden Mundwinkeln, die ständig den Blicken ihres Gatten ausweicht und von einer Erzählstimme als „charmant“ bezeichnet wird, sagt diesem auf die merkwürdigste und desillusionierendste Art, dass er einzigartig sei. Die beiden rechtfertigen die Realität als dem Kino überlegen, aber sie haben ihre Rechnung ohne Decoin gemacht. Die beiden setzen sich in ihr Auto und plötzlich taucht ein Doppelgänger vor ihnen auf.

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Von diesem Zeitpunkt gibt es kein zurück mehr, es geht hinein in die Schattenwelten des Kinos, das Herauskommen aus dem Tempel des Films zum Auftakt war die sinnlose Geste einer Desillusionierung, denn was Decoin uns klarmacht ist, dass der doppelte Boden des Kinos überall lauern kann. Darüber hinaus ist es gerade die Unsicherheit über Original und Fälschung, die hier zur gleichen Zeit Spannung und Humor beinhaltet. Auf einmal befinden wir uns in einem Tunnel. Mit Blenden und extrem untersichtigen Einstellungen folgen wir Schatten an der Wand, Lichter spiegeln sich auf den dunklen Gangsterautos. Es gibt Schüsse, jemand geht zu Boden. Wer hat geschossen? Dann lernen wir Jouvet in der Rolle des Kommisars Carrel kennen. Ein grimmiger, wachsamer Mann, der einmal sagt, dass er ab jetzt lieben und geliebt werden will und das auf keinen und doch auf jeden Fall ernst meint. Er ermittelt in einem Haus, indem man sein eigenes Wort kaum verstehen kann, wenn die Pariser U-Bahn vorbeifährt. Solche Absurditäten am Rande ziehen sich durch den ganzen Film. So nehmen sich Polizisten gegenseitig Krümel aus dem Gesicht während Gangster sich beständig an ihren eigenen Plänen erfreuen. Auf einer Modeschau, die mit dem Gang einer Frau beginnt, bei dem man nicht weiß, ob es sich um eine Zeitlupe handelt oder nicht, werden die Kleider nach Bestsellerromanen benannt: „I killed a cop“, woanders kommt sich ein Kleingangster vor wie in einem synchronisierten Film.

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Ein Polizist flüstert Carrel etwas ins Ohr. Es geht um die Leiche im Tunnel: Diese würde dem Kommissar bis zu den Haarspitzen ähneln! Et voilà, willkommen im reigenhaften Spiel der Wendungen und irrsinnigen Situationen. Natürlich wird Carrel in die Rolle des eigentlich Verstorbenen schlüpfen und sozusagen under cover of his own face ermitteln. Original und Fälschung machen Liebe bis zur nebeligen Grenze der ironisch-düsteren Noir-Landschaft. So taucht der doppelte Boden bald auch in den kriminellen Plänen des eigentlich verstorbenen Vidauban auf, der sich bei einer Modeschau als Opfer inszenieren wollte, obwohl er ein Täter war. Vidauban, so wird einmal bemerkt, das könnte auch der Name eines Getränks oder einer Pille sein und so folgt die Logik des Films einer Unsicherheit über Wahrheit und Fälschung bis zu den Geldscheinen und natürlich der Liebe selbst, die sich womöglich im absurden Spiel zwischen dem Kommissar und der Leiche finden lässt.

Man darf sich hier nicht vorstellen, dass Carrel im Stil eines vorbereiteten Superagenten in die Rolle des Kriminellen schlüpft. Ganz im Gegenteil, er ist ein Improvisationskünstler, der ständig aus dem Verhalten, der Aussagen und der Mimik seines jeweiligen Gegenübers filtern muss, warum er eigentlich hier ist. Daraus entstehen äußerst komische Dialoge und Situationen. Ein Höhepunkt ist sicherlich eine Szene im Tanzlokal. Eine blonde Frau, rauchend, fordernd, sitzt am Nebentisch und starrt den verunsicherten Carrel als Vidauban beständig verlockend an. Carrel blickt immer wieder etwas hilflos und fragend zu ihr. Hier offenbart sich die ganze Kraft von Entre onze heures et minuit, denn zum einen ensteht aus dem Geheimnis um diese Frau ein Spannungsmoment, eine gefährliche Situation um eine mögliche Mörderin und Femme Fatale im jazzigen Dunst eines Blicks, der ganz im Gegenteil zu jenem der „charmanten“ Frau zu Beginn des Films tausend Geschichten in sich trägt und zum anderen liegt in der Hilflosigkeit und Verlorenheit von Carrel die Komik, das Parodistische. Dieser doppelte Boden hat es wirklich in sich, weil die für das Genre so entscheidende „Und dann?“ Logik hier wie so oft in ein Labyrinth führt, aber dieses Labyrinth besteht aus Spiegeln, die einem zum Lachen bringen. Oft denkt man mehr an Lubitsch als an Carol Reed, aber Reed verschwindet nie völlig.

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Es ist der verspielte Inszenierungsrausch, der aus einer augenzwinkernden Liebe zum Kino entsteht, die Decoin aufgesaugt hat und durch den Zigarettenrauch geheimnisvoller Gesichter wieder auf die Leinwand bläst. Dabei macht er keinen besonders gefährlichen oder außergewöhnlichen Film, aber in der handwerklichen Souveränität und Vielschichtigkeit entfaltet sich eine Wildheit, die einen diese Liebe zum Kino spüren lässt. Ich habe solche Filme lange Zeit Truffaut-Filme genannt, vielleicht lag das an persönlichen Erinnerungen und Erlebnissen, vielleicht, weil man nach einem solchen Film Truffaut sein möchte, mit Lederjacke und Enthusiasmus,das Kino gesehen und geküsst.