Die Kinomomente des Jahres 2020

Strenggenommen gab es sie ja kaum die Kinomomente, die man sonst so summiert am Ende der Jahre. Zweimal bin ich dieses Jahr mit einem T-Shirt im Kino gewesen (bei einer Pressevorführung von Tenet und bei unserer eigenen Vorführung von Va Savoir). Im Januar oder Februar war ich bestimmt auch im Kino, aber das kommt mir heute nicht so vor als wäre es in diesem Jahr gewesen, ist aber fast immer so mit dem Januar und dem Februar, nur diesmal eben mehr. Dann war da die Viennale, die auch schon wieder unwirklich scheint, die selbst unwirklich schien als sie war (auf jedem abgesperrten Sitz hockte eine Erinnerung an die Abwesenheit).

Wenn sich normal am Ende des Jahres irgendwelche Filme summieren, summierte sich in diesem Jahr das Kino selbst aus den Einzelteilen dessen was möglich war. Beim Versuch das zu rekonstruieren, kommt man an die Grenzen der eigenen Ehrlichkeit, weil das Kino einfach nicht Kino sein konnte (und durfte) dieses Jahr. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch schön gewesen wäre, wenn man manchmal nicht ins Kino ging, vor allem dann nicht, wenn der kollektive Gesang all jener, die man seit Jahren nicht im Kino sah, das Kino einforderte als wäre es ein Brot oder Wasser.

So oder so bleibt etwas hängen. Zum Beispiel eine Szene zwischen zwei schweigenden Frauen mit Fächern und auf besonderen Stühlen, die man wohl zum Prop des Jahres wählen würde, gäbe es eine solche Kategorie in Ma ma he qi tian de shi jian von Li Dongmei. Begleitet werden die beiden von tönenden Zikaden, die auch auf der betörenden Tonspur von The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin) von C.W. Winter und Anders Edström oder Genus Pan von Lav Diaz aus vollem Tymbal zirpen.

Was im Zeitalter von Federico Fellini oder Andrei Tarkowski der künstlich erzeugte Wind war (ein anhaltendes Geräusch, dass den Szenen einen erhöhten oder surrealen Hauch verlieh), sind im Zeitalter von Apichatpong Weerasethakul die Zikaden. Ob das alles nur eine eloquente Sorte von „la soupe“ ist wie Jean-Marie Straub, der mit La France contre les robots einen verfilmten Essay von Bernanos vorlegte, sagen würde oder einem tatsächlichen dokumentarischen Interesse (oder einer Offenheit) folgt, sei dahingestellt. Zikaden gibt es jedenfalls eher als künstlichen Wind.

Trotzdem wäre es wohl angebracht sich genauer mit dem Phänomen zu befassen, denn das ein Tier (zumal eines, dass man kaum sehen kann, auch wenn das hier eine eher untergeordnete Rolle spielt), ein Geräusch absondert, dass dem modernen Kino eine gewisse Dichte, ja Spannung verleiht, ist bemerkenswert. Nun hat die Zikade sich ja schon immer am Rand der Fiktion bewegt, das heißt vor allem der Mythologie. Man denke zum Beispiel an jene Zikade, die unter das Kleid von Chloe flog, sodass Daphne ihr zur Hilfe kommend sie ebendort berührte. Eine Berührung, die man nicht vergisst, die erste Liebe zwischen den sechs Beinen der Zikade, die hintersten immer angespannt, zum Sprung bereit. Wer hat mehr empfunden? Die verlorengegangene Zikade oder die Frau, an der sie sich versteckte? Das Zirpen erfüllt die Luft, kleidet alles in heimelige Unwirklichkeit. Tithonos, ein Sohn des trojanischen Königs Laomedan und Geliebter der Göttin der Morgenröte bekam von dieser durch Zeus’ Gnaden das ewige Leben geschenkt. Wie so oft aber vergas sie nach der ewigen Jugend zu fragen und so alterte Tithonos und alterte und alterte. Er alterte bis er nur mehr eine Stimme war und sich laut Ovid in eine Zikade verwandelte. Als weißhaarigen Schatten, umherwandelnd wie ein Traum und voller Liebe, die nicht gelebt werden kann, beschreibt Alfred Lord Tennyson diese Zikade.

Vielleicht, dünkt mir in kurzschließend, ist das Kino ja dieser Tithonos. Am kleinen See in der Dämmerung von Isabel Pagliais Tendre gibt es auch Zikaden, aber vor allem Kinder und deren (Un) Schuld. Der Film orientiert sich lose am fiktiven Land „Tendre“, das in der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts eine Rolle spielte. Der zugehörige See ist nach der Gleichgültigkeit benannt. Einmal sehen wir einen jungen, der mit einem glühenden Ast spielt, ihn so schnell er kann hin und her bewegt, auf dass die Funken ihn endlich mitnehmen. Auch dieses Land und diesen See gibt es wohl im Kino, aber festzustellen, dass alles, was im Kino geschieht irgendwie auf das Kino zurückgeworfen werden kann, macht auf Dauer auch nicht glücklich.

Was recht glücklich machte, auch wenn es viele gleichgültig ließ (vielleicht auch aufgrund eines unglücklichen Timings), war Autumn de Wildes Verfilmung von Emma. Ich bin kein Experte in Fragen von Jane Austen, habe aber so viel verstanden, um zu bemerken, dass hier jemand mit großer Liebe, dem nötigen Humor und Detailfreude gearbeitet hat (im Gegensatz zu den meisten anderen Austen-Verfilmungen). Einen wirklichen Moment hat der Film nicht zu bieten, aber vielleicht ein gelbes Kleid und eine anhaltende nervöse Eitelkeit, die es vermag unter der Affektiertheit etwas durchscheinen zu lassen, aus Mangel an Worten könnte man es eine Liebe nennen.

Zu Joshua Bonnettas An dà shealladh wollte ich schon längst etwas geschrieben haben, aber in der Recherche zu den Äußeren Hebriden (Artikel Tweet) bliebt ich an Samuel Johnsons „A Journey to the Western Isles of Scotland“ (“I sat down on a bank such as a writer of Romance might have delighted to feign.“) hängen und dort überdies irgendwo in den Highlands, also noch vor dem Erreichen der Inseln, was mich zwar unendlich fasziniert, aber mich letztlich nicht näher bringt, um zu verstehen, was mir so ungemein gefiel an Bonnettas Film, dessen vorherige Arbeiten mich interessierten, aber weniger überzeugten. Die Wahrnehmung der Inseln als „thin places“, also Schwellen zwischen den Lebenden und Toten überträgt sich im Sehen des Films. Der Fokus liegt derweil gar nicht auf dem Sehen sondern auf dem Hören, weil das Jenseits hörbar ist, nicht sichtbar. Was wie eine steile These erscheint, wird vom Film dokumentarisch bewiesen.

Es gab viele Kinder in diesem Kinojahr. Die Jugendlichen bei Pagliai, die weibliche Wilhelm Tell in Alice Rohrwachers Ad una mela und die dreijährige Tochter der Regisseurin in Ochite mi sini, rokljata sharena von Polina Gumiela. Was all diese Regisseurinnen schaffen, ist ein Gefühl für eine Wahrnehmung zu wecken, die nicht ihre eigene, sondern die der Protagonisten ist. Die Welt durch die Augen von Kindern sehen. Derart wird das Kino wirklich zur Zeitkapsel, nicht indem irgendwelche Schauspieler in Kostüme gesteckt werden, sondern indem der Blick der Kamera Anteil nimmt an einer eigentlich verlorenen Weltsicht. Dass Kinder (und auch Tiere, man entschuldige den Vergleich) als schwer kontrollierbar gelten und in Hollywoodratgebern (auch für diese Nennung des Unerträglichen eine Entschuldigung) gar vor ihnen gewarnt wird, kommt vielen Filmemachern geradezu gelegen. Denn man muss der dominierenden Digitalästhetik etwas entgegensetzen, was den in die Kameras eingebauten Bildstabilsatoren und Schärfeausgleichautomatismen widerspricht. Vielleicht liegt aber auch eine Hoffnung in diesen Bildern von Kindern und Jugendlichen. Blicken Filme heute auf die Erwachsenenwelt, so spürt man, können sie sich oftmals des Zynismus nicht erwehren.

Wer das kann ist Frederick Wiseman. Sein City Hall ist ein Film voller Augenblicke, aber insgesamt folgt er wohl (wie sein ganzes Werk) einem an Adam Smith erinnernden Interesse für die mechanischen Getriebe einer Gesellschaft. Es geht um Funktionsweisen (in diesem Fall der Regierung von Boston), weshalb man immer dann besonders aufmerksam wird, wenn die Kamera für einige Momente länger auf dem Gesicht der Menschen verharrt, die die Funktionen ausfüllen. Ihr Nachdenken unterbricht dann für wenige Sekunden die scheinbar unaufhaltsame Motorik des politischen Lebens, die hier mehr wie ein Kraftakt als eine logische Konsequenz erscheint. Insgesamt fällt auf, dass viele der besseren Filme dieser Zeit eher den Handlungen folgen als sie zu bestimmen. Es geht um das Reagieren, um das Sein zwischen Kino und Menschen.

Das gilt in besonderem Maße für Patric Chiha und seinen Si c’était de l’amour. Im Film, der sich an ein Tanzstück von Gisèle Vienne und dessen Protagonisten anschmiegt, offenbart das Kino vor allem einen Möglichkeitsraum. Man kann sein, sich fallen lassen, sprechen, vergessen, lieben. Irgendwann als getanzt wird, begreift man das plötzlich und man spürt eine ungeheure Freiheit. Diese Freiheit bleibt ein Thema. Egal ob wir von entfesselten Kameras sprechen oder kompromisslosen Autoren, das Kino will uns gern vermitteln, dass es frei ist. In fragwürdigeren Fällen wird diese Freiheit verkauft als wären es die glattrasierten Cowboys auf Pferden in Zigarettenwerbungen, in besseren lebt das Kino diese Freiheit vor und macht einem womöglich selbst klar, dass man nicht frei ist oder wie bei Chiha womöglich gar nicht lebt, zumindest nicht so wie man leben könnte. Wenn es stimmt, dass das beste Kino uns immer näher an das Leben bringt oder uns zumindest etwas aufzeigt, was wir im echten Leben fortan anders sehen, dann ist das eine immense Leistung, vielleicht aber ist es auch die Aufgabe des Kinos, hier etwas vorzutäuschen. Die Freiheit ist gerade so attraktiv im Kino, weil sie gegen den Widerstand des filmischen Apparats (und damit sind nicht nur die Maschinen gemeint) gerichtet ist. Sie behauptet einen bisweilen utopischen Raum, der nach anderen Regeln abläuft als das eigentliche Leben.

Rizi von Tsai Ming-liang ist ein Film, der diese Räume schafft. Hauptdarsteller Lee Kang-sheng lebt seit 1992 in der gleichen Rolle. Sein Leben ist längst Fiktion oder zumindest davon nicht zu unterscheiden. Seit spätestens 1997 und The River leidet er an Nackenschmerzen, die in der neuen Arbeit in einer schmerzvollen und scheiternden Heilungsszene einen neuen Höhepunkt erfahren. Dass Tsai Ming-liang überdies Bilder baut, von denen es nur noch wenige gibt in einem solchen Kinojahr geht fast unter, weil sein in diesem Fall entspannter Umgang mit dem Vergehen von Zeit weit über den Räumen liegt.

Weniger frei sind die Tiere in Victor Kossakovskys Propagandafilm Gunda. Zwischen der scheinbaren Idylle des tierischen Lebens und den immer enger kadrierten Zäunen setzt der Filmemacher, der Freude daran findet, Kranaufnahmen in einem Schweinestall zu bewerkstelligen, auf ein notwendiges Mitgefühl. Die letzten Sekunden, in der die titelgebende Schweinemutter nach ihrem Nachwuchs sucht, würden einen Stein zum Weinen bringen wie Orson Welles einmal über einen anderen Film sagte. Eigentlich bildet Gunda eine schöne Klammer mit Kossakovskys erstem Werk Belovy, nur dass die realen Zäune dort unsichtbar sind.

Orson Welles spielte dieses Jahr auch eine größere Rolle im Kino, auch wenn seine Repräsentation scheinbar nach wie vor größere Schwierigkeiten bereitet als jene von Adolf Hitler. In David Finchers alles in allem enttäuschenden Mank taucht er in einer Szene sehr zum Missmut der us-amerikanischen Welles-Brigade wie aus der Feder von Pauline Kael in egoistischer Eitelkeit und mit Hang zur Explosion auf, in seinem laut Credit eigenen Film Hopper/Welles sieht man ihn gar nicht und muss stattdessen über eine zu lange Zeit mit dem nervtötend, pseudo-intellektuellen Gelaber von Dennis Hopper zurechtkommen. Ja, das us-amerikanische Kino beschäftigt sich am liebsten mit sich selbst, wenn nicht in Form von Remakes oder Sequels dann eben mit einem alten Gefühl von Hollywood, dass man sonst ohnehin nicht finden kann auf Netflix.

Auf der entgegengesetzten Seite des Gefühlsspektrums befindet sich Cristi Puiu, dessen neuen Film Malmkrog ich mir aufgrund eines naiven Idealismus für das Kino aufheben wollte und den ich dann bei meiner einzigen Gelegenheit aufgrund eines spontanen Zwischenfalls verpassen und von dem ich daher nur berichten kann, dass es am Set wohl zu einem folgenschweren, weil die Maschinen zerstörenden Stromausfall kam, was den Filmemacher veranlasste, als neues Equipment angekarrt wurde, den örtlichen Priester zu bitten, die Gerätschaften doch dieses Mal zu segnen.

Zu lesen gab es auch viel über das Kino, zum Beispiel die beiden herausragenden Bücher zu Guy Debord und Gerhard Friedl, die das Österreichische Filmmuseum publizierte. Im Debord-Buch findet sich unter anderem ein einleitender Essay von Alexander Horwath, der zeigt, zu was diese Institution einmal fähig war auf filmvermittelnder Ebene. Das gilt auch für das gleich einer freiwachsenden Hyazinthe in alle Richtungen der Sprache und des Films wuchernden Korpus des Harry Tomicek, dessen Texte in einem schönen Buch des Klever Verlag zusammengetragen wurden. Darin schreibt der Autor auch neue Texte, etwa zu Angela Schanelec. Auch die Texte von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub erschienen in deutscher Übersetzung. Desweiteren wurde viel Gutes und viel Müll produziert, da unterscheidet sich dieses Jahr nicht allzu sehr von allen anderen. ( Einer der nachhaltigeren Texte zum Krisenmodus: Die Zukunft passiert nicht, sie müsste gedacht werden.)

Wenn etwas bleibt im Kinojahr 2020 ist das schon viel. Draußen singen die Zikaden, jetzt muss man leben.

This Human World 2018: The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Im Rahmen einer Kooperation mit dem This Human World 2018 präsentieren wir eine Auswahl von Filmen aus dem diesjährigen Festivalprogramm.

Menschlichkeit im Kino: Wenn jeder mitfühlen kann. Angst, Freude, Trauer, Hoffnung, Mitleid, Scham, Wut, Liebe, Hass und Euphorie. Die Geworfenheit eines jeden und das Umgehen damit. Erinnern Sie sich: Auch Sie sind ein Mensch. Auch wenn Sie nicht genauso sind wie jene, die sie auf der Leinwand sehen. Was kann aus dieser emotionalen Erkenntnis gezogen werden? Alles Mögliche. Rührseligkeit, Propaganda. Empathie, Einsicht. Oder ein allgemeines Unbehagen.

Krieg bildet eine Kontrastfolie für Menschlichkeit, wenn man das Unmenschliche an ihm betont (sprich: wenn man seine Menschengemachtheit so weit wie möglich im Off lässt). In The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont ist der Krieg wie ein langes und schreckliches Unwetter. Er schlägt am Anfang ein wie ein Blitz, im Zuge eines trüben Dashcam-Videos. Autos fahren eine graue Straße entlang. Plötzlich erschüttert eine Explosion das Bild, Schutt und Geröll hageln gegen die Windschutzscheibe. Schicksal.

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Es bricht herein über Hnutove, ein kleines Dorf im Südosten der Ukraine, etwa 100 km von Donetsk entfernt. Die Front mit ihren Kämpfen ist näher. Das Bellen der Hunde? Das Donnern der Geschütze. Die meisten Bewohner sind weg, doch der 10-jährige Oleg und seine Großmutter harren aus. Eingangs erscheint uns die Landschaft im Winter. Die Kälte starrt aus dem Weiß des Himmels, aus vereistem Gesträuch und der knorrigen Kargheit der Felder. Oma und Enkel besuchen das Grab der Mutter, streichen das blaue Kreuz neu, damit es ans Leben erinnert.

Denn Friedhofsruhe herrscht hier nicht nur am Friedhof. Ein Schatten der Bedrohung, des lauernden Todes, lastet schwer auf dem müden Schleier der Alltagsnormalität. In der Schule sagen die Kinder auf, vor welchen Minenarten sie sich besonders in Acht nehmen müssen. Sie steigen in den Schutzkeller hinab, proben den Ernstfall des Bombenangriffs. „Jetzt nicht mehr reden, die Luft wird knapp”, sagt die Lehrerin.

Doch Menschlichkeit gedeiht auch unter schwierigen Bedingungen. Wenn es Zeit und Raum findet, bricht sich das Kindliche, das Verspielte unweigerlich Bahn. Oleg albert mit seinem jüngeren Cousin Yarik herum, abenteuert mit ihm durch die Gegend, macht die Ödnis zum Spielplatz. Er liebt seine Oma, seine Oma liebt ihn. Die Ahnung einer unbefangenen Existenz. Im Jahreszeitenwechsel eine Einstellung, die Bauern bei der Heuernte zeigt. Abruptes Tauwetter. Für einen Augenblick hat man die Kälte vergessen – aber nur für einen Augenblick. Später erinnert die Großmutter: „Der Krieg kennt seine eigenen Jahreszeiten: Den Ernte-Waffenstillstand, den Schulbeginn-Waffenstillstand, den Oster-Waffenstillstand.”

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

The Distant Barking of Dogs erzählt von der Kontamination des Gewöhnlichen mit der Unsicherheit eines existenziellen Abgrunds. Das harmlose Spiel Olegs (wie ein Superheld rennt er mit Handtuch-Umhang einen schmalen Pfad entlang) lädt sich mit der Gewalt auf, die um ihn herum immer spürbar, aber selten sichtbar ist. Sie steckt in der überlieferten Erinnerung an Bombenangriffe, in den grausamen Sternschnuppen des Geschützfeuers am Nachthimmel, in den Videos von nahegelegenen Kriegsschauplätzen, die der ältere, abgebrühte Nachbarsjunge Kostya aus der Pandorabüchse seines Laptops in die Atmosphäre lässt (für uns bleibt das Entsetzen auf der Tonspur). Sie dringt in die Körper, die vor ihr zusammenzucken. Überall macht sich Angst breit, die man überspielen lernen muss, beim nächtlichen Spaziergang, am Lagerfeuer oder am Küchentisch, mit Lachen oder mit Selbstbewusstsein. „Wir Männer müssen alles aushalten können!”, hat Oleg irgendwo aufgeschnappt.

Wenn das nicht gelingt, wirft er blindwütig mit Steinen auf Flaschen oder rauft sich am Heimweg auf eine Weise mit Yarik, dass man Spiel und wutentbrannten Streit kaum voneinander unterscheiden kann. Wie der Ukrainekrieg selbst balanciert Wilmonts Film zitternd auf der Schwelle zwischen totaler Eskalation und brüchiger Stabilisierung. Politik spielt kaum eine Rolle, nur in Radionachrichtenfetzen, die von Siegen und Verlusten der ukrainischen Regierungstruppen berichten, oder in kleinen Randbemerkungen. „Wenn Putin es wirklich will, gibt es für uns kein Versteck mehr”, meint Kostya beiläufig. Der Mikrokosmos des Films ist auch ein Gegenentwurf zu sardonischen Systemanalysen wie Sergei Loznitsas Donbass. Oleg wurde am Pausenhof verprügelt, weil er Russisch spricht, beklagt seine Oma an einer Stelle.

The Distant Barking of Dogs von Simon Lereng Wilmont

Wilmont, der 2016 einen Film mit Victor Kossakovsky gedreht hat, bleibt stets nahe an den Menschen dran. Er sucht nach ihrer Umwelt in ihren Gefühlen und nach ihren Gefühlen im Ausdruck, den sie diesen im Alltag verleihen, im Umgang miteinander, in privaten Momenten, die er als teilhabender Beobachter einfängt, auch wenn sie unangenehm sind. Darin gemahnt The Distant Barking of Dogs stark an Roberto Minervinis eindringliche Milieuporträts eines marginalisierten Amerikas, etwa an die mit Wut und Zärtlichkeit, Machtlust und Ohnmacht aufgeladenen Flanier-Konflikte zwischen den jungen Halbbrüdern aus What You Gonna Do When the World’s on Fire? Aber es gelingt Wilmont – womöglich auch aufgrund prekärer Drehbedingungen – nicht immer, den Eindruck von Natürlichkeit zu wahren, der Minervinis Filmen bei aller „Gestelltheit” große Kraft verleiht.

Im teils hektischen Schnitt, im Musikeinsatz, in der Farbkorrektur, im bemühten Spannungsbogen samt Hoffnungsschimmerschluss spürt man zu sehr das Bedürfnis nach einem Narrativ. Am deutlichsten in einer markanten Sequenz, in der Oleg von Kostya beigebracht bekommt, mit einer Gaspistole umzugehen, sich dabei verletzt, danach trotzdem weitermacht, sich unter Druck des Älteren dazu bringt, einen Frosch totzuschießen und letztlich von der Enttäuschung der Oma ob seiner Verrohung in Tränen ausbricht – der Film hastet hier mit einem didaktischen Drall durch, der den einzelnen Szenen viel von ihrer Direktheit raubt. Dennoch schafft sein über weite Strecken bedachter Umgang mit Form, eine Grundstimmung aufzubauen, die lange nachhallt.

Viennale 2018: Aquarela von Victor Kossakovsky

Wirklichen Boden hatte Victor Kossakovsky noch nie unter den Füßen. Als Student, so erzählt er gerne, lud er andere Studierende zu sich nach Hause ein und wenn sie sich auf den Tisch stellten und ihm etwas erzählten, was sie erlebt hatten, kochte er ein Essen für sie. Einen Zweifel an der eigenen Größe gibt es nicht in seinen Bildern und Geschichten. Mit seinem ¡Vivan las antípodas! verlies er vor einigen Jahren seinen Pfad auf der dokumentarischen Suche nach Wahrheit, die mit dem wundersamen und herausragenden Belovy begann. Die Wahrheit genügt nicht mehr. Stattdessen ist es ein spirituell-abstrakter Reigen, der den dokumentarischen Blick loslöst von jedweder moralischer oder wissenschaftlicher Verpflichtung. Die Welt hat sich der Kamera anzupassen, nicht umgekehrt. Es geht um eine Wahrnehmung, die mehr sichtbar macht, als man sieht. Ein gefährliches Spiel, das mitunter an die Futuristen erinnert, aber aussieht als hätte National Geographic eine Experimentalschiene ins Leben gerufen.

Aquarela treibt diesen Impetus von Kossakovsky noch einmal weiter, denn sein Thema ist grob vereinfacht der Klimawandel. Der Film beginnt im ewigen Eis und folgt den Wegen des zerstörerischen Wassers hin zu Tropenstürmen und durch Dämme brechenden Strömen. Dabei gibt es drei Stränge im Film, die sich rund um diese Reise einer bisher so nicht gesehenen Destruktion und lodernden Kraft entfalten. Zum einen gibt es den Menschen in der Natur, mit der Natur, vor dem Hintergrund der Natur. Es ist der schwächste Strang, weil der Film sich nicht wirklich für Menschen interessiert. Unfassbare und schockierend ist das trotzdem, wenn die Kamera im erhabenen Schwebezustand teilnahmslos dokumentiert wie Autos im schmelzenden Eis des Baikalsees einbrechen, Menschen ums Überleben kämpfen und einer mutmaßlich sogar ertrinkt während die Kamera Gott spielt. Faszinierend ist das allemal, aber es wirft auch Fragen auf. Als der Film sich ähnlich schwebend und unberührt durch einen Sturm bewegt und sich in Bildern von im Hochwasser um ihr Leben strampelten Pferden suhlt, verhärtet sich der Eindruck einer völligen Teilnahmslosigkeit; es ist das Spektakel der (Selbst-) Zerstörung. Wir sehen es jeden Tag, aber selten so schön. Als Kossakovsky gegen Ende des Films einige Nahaufnahmen von durchnässten „Überlebenden“ in einer Höhle zeigt, weiß man nicht weshalb. Die Belanglosigkeit dieser Nahaufnahmen ist eine der schwächsten und inkonsequentesten Entscheidungen seiner Laufbahn. Warum sollte da plötzlich ein Mensch sein?

Denn was den Film eigentlich antreibt, sind nicht die Opfer oder Täter, nicht die Folgen oder Ursachen, es sind die neuen Bilder, die in den Katastrophen und Veränderungen entstehen. Kossakovsky hat nie aufgehört seine Mitstudierenden auf Möbel zu stellen, um neue Geschichten zu hören. Nur heute steht die Welt auf seinem Tisch. Im Ein- und Ausbrechen des Wassers finden sich neue Formen, Töne und Farben. Gedreht in 96 Bildern pro Sekunde, um mehr zu sehen: Blitzende Lichtspiegelungen im Wasser, eine sich wölbende Erde unter dem Eis, Eisberge, die wieder auftauchen, durch die Luft wirbelnde Tropfen, Delphine in Hochgeschwindigkeit und eine anhaltende Faszination mit dem Wellengang, die mitunter wie eine teurere Variante von Helena Wittmanns Drift die Naturpoesie des Meeres à la Jean Epstein kinematographisch wiederbelebt. Der zweite Strang des Films ist also die Schaulust. Man kommt aus dem Staunen auch kaum heraus. Die Bilder erschlagen einen mit Schönheit. Das gelingt auch deshalb so gut, weil Aquarela ein unheimliches Gefühl entwickelt für das Zusammenspiel von sehr nahen und sehr totalen Einstellungen. Immer wenn man sich beim Schauen eine Frage stellt, wie zum Beispiel, ob in diesem versunkenen Auto Menschen waren, wird sie mit dem nächsten Schnitt erklärt. Auf geographische Verortung und Erklärungen jedweder Art verzichtet der Film. Stattdessen macht er abstrakt und konkret die Kraft des Wassers spürbar. Dabei hilft hier und da der laute, ins metallene reichende Post-Rock-Score von Eicca Toppinen. Plötzlich wirken die Eisberge wie sich im Wasser wälzende Riesen, man spürt ein Jenseits der Bedeutungen, dem es tatsächlich gelingt die allgegenwärtigen und wichtigen Diskursfragen rund um den Klimawandel aussetzen zu lassen, um sich in einer Holzhammer-Sinnlichkeit zu verlieren.

Das ist auch zugleich der dritte Strang, der Strang der assoziativen Sinnlichkeit. Man denkt dabei zum Beispiel an Artawasd Peleschjan und seine Montage, obwohl Kossakovsky deutlich konventioneller arbeitet. Er setzt nicht auf Wiederholungen und Muster, die sich einzig durch den Schnitt freimachen. Dafür ist er viel zu sehr ein Bildgläubiger. In der Art und Weise aber, in der er etwas filmt, lösen sich die konkreten Orte und Gefahren auf zu einer Geschichte jenseits der Zeit. Mal wirken die Bilder wie aus einem (Alb-) Traum, mal erblindet man fast, ob der gewaltvollen Schönheit. Aquarela fordert eigentlich eine Positionierung vom Zusehenden. Es scheint aber ein wenig zu simpel zu sein, sich entweder in den Bildern zu verlieren oder sie zu verdammen. Beides zugleich geht schwer. Man staunt und fragt sich. Man ist sich nicht sicher und vor lauter Erhabenheit wird man ganz ergriffen. Oft ist das im Kino genau andersherum und man fühlt sich vor lauter Ergriffenheit erhaben. Vielleicht zeigt uns Aquarela auch den Preis einer neuen Schönheit. Ein perverser und spektakulärer Film.

Filmfest Hamburg 2015: The Assassin von Hou Hsiao-Hsien

Vor einiger Zeit durfte ich einen Programmtext zu einer Hou Hsiao-Hsien Retrospektive schreiben. Das Lektorat hat mir dabei meinen letzten Satz gestrichen, mit der Begründung, dass dieser zu poetisch sei und man lieber Klarheit wolle. Wenn man sich die Filme von Hou ansieht und insbesondere The Assassin, der ihm dieses Jahr in Cannes den Preis für die Beste Regie einbrachte, dann kann man mir schlicht nicht erzählen, dass es menschlich ist, nicht in lyrische Formulierungen zu fallen. Die Erfahrungen, die man mit Hou macht, sind jenseits nüchterner Beschreibungen. Dennoch werde ich mich zusammenreißen.

Acht Jahre sind vergangen seit Hous letztem Langfilm, Le voyage du ballon rouge. „Vergangen“ ist auch ein gutes Stichwort für das Kino des Taiwanesen…

Es ist schwer, wenn man nicht schwärmen darf. Wie soll ich mich halten? Ich gebe nach zwei Zeilen auf.

The Assassin

Gegen Ende des Films stehen zwei Frauen auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges. Nebel dringt aus der Schlucht zum Himmel, man fühlt sich erinnert an das titelgebende und im Vergleich irgendwie billig wirkende Wolkenphänomen bei Hous Freund Olivier Assayas in dessen Clouds of Sils Maria. In seinen bisherigen Arbeiten konnte man durchaus davon sprechen, dass Hou das Vergehen von Zeit wie den Wind filmt, ein Wind, in dem sich Erinnerungen und die Gegenwart umschlingen zu einer bloßen Präsenz. In The Assassin nimmt Hou das wörtlich. Es ist – und ich verweise da gerne auf diesen Text von Serge Daney – der vielleicht dritte Film nach The Wind von Victor Sjöström und Trop tôt/Trop tard von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, der den Wind filmt. Wir sehen den Wind in den Blättern der Bäume, den Gewändern, den seidenbehangenden Räumen, in die Vorhänge wie von anmutiger Geisterhand zitternd geschoben werden, Seide, die vor Bildern weht, die unseren Blick selbst zum Wind macht und schließlich die Kamera, die Kamera des größten Kameramanns unserer Zeit, Mark Lee Ping Bin, die wieder hypnotisch und in einer derart scharfen Klarheit, dass man glaubt, zum ersten Mal zu sehen, zwischen den Figuren schwenkt, nicht wirklich auf der Suche, sondern bereits mittendrin. In 35mm und im alten Academy Ratio, das mehr Platz für den Wind außerhalb des Bildes lässt, filmt dieser auch die beiden Frauen auf dem Gipfel, der kein wirklicher Gipfel ist, sondern eine Zwischenebene. Muss man wissen, wer diese Frauen sind? Vielleicht später, zunächst muss man die bloße Erhabenheit und Dynamik dieses Bildes erfassen, das wie fast jede Einstellung des Films zu viel ist, zu viel für meine Augen. Die eine Frau steht schon von Beginn an dort, sie steht auf einem Felsen, es ist eine Unmöglichkeit, dass sie dort steht und wer die übermenschlichen Bewegungen des übersinnlichen wuxia-Genres hier und da vermisst, hat nicht hingesehen. Sie ist die Meisterin. Nennen wir es so. Ganz in weiß gehüllt, wie eine Erscheinung, thront sie über einem Abgrund, den wir nur durch die aufziehenden Wolken erahnen können, Wolken, die gelenkt scheinen. Hinter dem Felsen erscheint die Protagonistin, ein schweigender Schatten, der wie ein Licht in schwarz durch die Bilder schwebt und deren inneres Leben Hou in jedes einzelne Bild zu legen scheint: Die titelgebende Nie Yinniang gespielt von Hous Muse Qi Shu.

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Wie habe ich das gemeint, mit dem inneren Leben und dessen Verhältnis zur Bildsprache Hous? Pier Paolo Pasolini, ein Mann, der Hou sehr beeinflusst hat, hat einmal einen Text geschrieben über die freie indirekte Rede im Film. Dabei geht es – sehr vereinfacht – um die Möglichkeiten eines Filmemachers, durch den Stil etwas über das Innenleben von Figuren auszudrücken. So hängt etwa die Wahl des Objektivs in Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni am nervösen Seelenleben der Protagonistin. Und wie zeigt sich das jetzt in The Assassin, ein Film, der meiner Meinung nach beständig von einem solchen inneren Konflikt erzählt? Nicht alleine in der Schönheit der Bilder, sondern auch in diesem harrenden Schwebezustand, diesem zögernden Warten und der Antizipation der Gewalt, die Hou viel mehr interessiert als die tatsächlichen Kampfszenen, die er fast im Stil eines Robert Bressons nur in ihrer Essenz zeigt. Nie Yinniang hängt ebenfalls in dieser Antizipation, sie ist zerrissen zwischen ihrer Aufgabe, ihrer Emotion und ihrem eigenen Urteilsvermögen. Der Film beginnt in drei Vignetten in den Farben schwarz und weiß (wie Godard einst über Bresson geschrieben hat) und erzählt vom Töten und Nicht-Töten-Können der Protagonistin. Zunächst wandelt sie tänzerisch in einem Wald mit nackten Bäumen, um einen Mann mit tödlicher Eleganz zur Strecke zu bringen. Der Martial Arts Aspekt ist hier eher eine Drohung, ein Versprechen, als ein ästhetisches Vergnügen. Wie seine Hauptfigur, so will auch der Film diese Kämpfe umgehen, sie minimalisieren… Nie Yinniang will auch nur das Nötige tun, sie ist wie der Wind, wie der Film. In der zweiten Vignette kann sie einen König nicht töten, weil dieser gerade mit seinem Kind spielt. Sie lässt ihn am Leben. Es ist als würde plötzlich die Schönheit der Welt zwischen ihr und der Gewalt stehen. Diese Dinge sind Hou offensichtlich wichtiger als wuxia Verweise, die in diesem China des 9. Jahrhunderts inspiriert von der chuangi Literatur eher einen Rahmen bilden. Hou geht es in diesem Genre um zwei Dinge: Die Moral und die Frage wie sich die Geschichte in eine Gegenwärtigkeit übersetzen lässt.

Nie Yinniang, das schwarze Licht (solche Formulierungen könnte man streichen, aber wer, der den Film kennt, würde nicht sagen, dass man die Protagonistin so beschreiben muss?), die sich oben auf dem Berg unter die Meisterin auf dem Felsen stellt, wird für ihr Versagen bestraft. Sie soll ihren Cousin Tian Ji’an töten, dem sie einst versprochen war. Von diesem Augenblick an folgen wir ihr und mit ihr dem Leben des Cousins mit seiner Familie und seinen politischen Entscheidungen, wir können uns nicht wirklich nähern, weil wir tödlich sind. Es ist eine derartige Konzentration in den Bildern, in denen das Beiläufige und Zwingende zu einer absoluten Notwendigkeit verschmelzen. Es ist eine Notwendigkeit, die jedes Bild mit Leben füllt und es dennoch über dasselbige hebt. Dabei entsteht das Bild einer Zeit vor unseren Augen. Zeit wird erfahrbar, weil wir den Wind spüren, weil wir die Töne hören (Hou drehte zwar in mandarin, aber angeblich in einer völlig befremdlichen Syntax, die selbst für jene, die diese Sprache beherrschen, nicht verständlich ist, aber genau darum geht es auch nicht, es geht darum diesen Rhythmus zu hören und in ihm zu verschwinden während man sich gleichzeitig einer unendlichen Distanz bewusst sein muss) und weil wir die Materialität der Orte, Kleider und Menschen fühlen. Hou hat wie in City of Sadness, The Puppetmaster oder Flowers of Shanghai eine Möglichkeit gefunden, dass die Re-Präsentation einer Zeit gleich einem Wind durch unsere Augen weht. Es ist zugleich Erinnerung, Präsenz und alles dazwischen. Es geht nicht um die Informationen der Geschichte, sondern um das Leben in und wegen der Geschichte. Immer wieder sehen wir das einfache Leben, Kinder, die spielen, ein Gespräch, Arbeit. In diesen Bildern treffen sich die Moral und die Vergegenwärtigung. Die Moral ist der Zweifel, ob man im Angesicht dieses Lebens töten kann und die Vergegenwärtigung ist die akkurate Beiläufigkeit einer Distanz, die wie ein schüchterner Beobachter nicht eingreifen will in diese Welt, sondern sie schlicht sehen und hören will.

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Zum Sehen und Hören gibt es einiges zu sagen. Wir sind zurück am nebeligen Abgrund. Immer wieder tauchen diese Aufnahmen auf, in denen Hou Landschaften wie Körper zelebriert. Etwas lebt in ihnen und sie sind ein Spiegel der Zeit, des Innenlebens einer Geschichte und einer Figur, der Zeit und Geschichte dieser Figur. In ihnen liegt die ganze Präsenz dieser Vergänglichkeit, die ihr Ebenbild einzig in den melancholischen Augen der Figuren findet. Nein, es gibt nichts konkreteres in diesem Film, weil es konkreter gar nicht geht. Dabei wird The Assassin keineswegs von derselben Dekadenz heimngesucht wie Flowers of Shanghai. Vielmehr ist es eine Abkehr, ein Untertauchen in diesen massiven Bildern von Perfektion. Man kann sagen, dass Hou, der im Vergleich zum anderen großen Vertreter des Neuen Taiwanesischen Kinos, Edward Yang, immer als ein Filmemacher der Natur und Ländlichkeit galt, hier zum ersten Mal tatsächlich mit der Landschaft atmet statt sie im Stil seiner frühen Arbeiten, als pastoralen Hintergrund einer Erinnerung zu verwenden. In dieser Ländlichkeit erfährt The Assassin die Meisterschaft eines Filmemachers, der es geschafft hat eine eigene Sprache nicht nur zu finden, sondern zu meistern. Das ist aber auch gefährlich. Die Perfektion der Bildsprache ist derart hoch, dass dem Film trotz seiner fragmentarischen Ezählweise, in der wichtige Ereignisse zum Teil im Off geschehen oder nur ganz kurz an einem vorbeihuschen wie die Schleier im Wind, manchmal an Kantigkeit fehlt. Statt der jugendlichen Desorientierung, die sich auf die Bildsprache von Goodbye South Goodbye oder Millenium Mambo übertrug, gibt es hier eine überzeugte Zerbrechlichkeit. Alles ist perfekt. Wie könnte man das kritisieren? Man kann nicht. In dieser Hinsicht erinnert mich der Film an ¡Vivan las Antipodas! von Victor Kossakovsky. Ein Film, über den der Filmemacher sagte, dass es nicht (mehr) um Realismus ginge, sondern um etwas Größeres. Hou scheint hier auch an etwas Größerem interessiert zu sein als bisher.

Außer der Natur gibt es Räume, die verwinkelt sind mit Farben, die Fieber haben. Immer wieder filmt Mark Lee Ping Bin durch Seidentücher und erzielt hypnotische Effekte mit Kerzen vor seinen Linsen…es brennt in unseren Augen, der Schleier der Zeit, der Hauch der Unsicherheit. In einer der unfassbarsten Sequenzen, die ich je im Kino gesehen habe, unterhält sich der Cousin mit seiner Konkubine während die Kamera hinter den Vorhängen ganz zart bewegt lauert. Wir wissen lange nicht, ob es ein Point-of-View-Shot der Auftragsmörderin ist oder nicht. Es ist ein Spiel mit Blicken und der Distanz, die sich mal vor uns schiebt und dann wieder verschwindet. Hier liegt die Sehnsucht nach einem anderem Leben und der Horror der drohenden Gewalt derart greifbar vor uns, dass wir nicht anders können, als sie gemeinsam in ihrer Gleichzeitigkeit oder gar gelöst von Zeit oder gar mit der Zeit verwoben zu begreifen, obwohl wir das niemals könnten. Wir spüren diese Welt und die Unsicherheit einer Figur, die wir erst später als eine Silhouette, als fremden Eindringling in ihrem eigenen eigentlichen Leben erkennen. Sie erscheint wie der Nebel aus der Schlucht. Man blinzelt und sie ist da, man blinzelt und sie ist weg. Sie wäre wohl am liebsten ganz da oder ganz weg.

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Der Ton ist das leise Flüstern aus der Schlucht, aus der dieser Nebel dringt. Jedes Geräusch ist klar und voller Kraft und Zerbrechlichkeit. Manche Sachen hören wir nicht, weil wir sie nur sehen können, andere Sachen sehen wir nicht, weil wir sie nur hören können. Es ist eine Abstraktion, die etwas entstehen lässt, was man vielleicht mit „Gefühl für die Umgebung“ umschreiben könnte. Für die Musik war wieder Lim Giong zuständig. Vor allem ein beständiges Trommeln ist beeindruckend. Zweimal hören wir es ganz klar und laut bevor ein Schnitt in einen Innenraum es in ein Trommeln aus der Distanz transformiert. Abstände werden uns bewusst, zeitlich und räumlich. Auf einer Zither spielt eine Frau in einer Mischung aus Aggresivität, hinbgabe und vollkommener Zärtlichkeit ein Lied. Dazu singt sie von einem Vogel, der nicht singen konnte bis er seine eigene Reflektion sah und dann so lange vom Leid sang bis er starb. Im Film sehen wir so manche Reflektion. Einmal in einem See, dann in den Lichtern von Kerzen und schließlich in diesem Leben, dass Nie Yinniang nicht haben konnte, jene Frau, die nicht töten konnte, weil sie sich selbst nie gesehen hat oder weil sie sich immerzu gesehen hat und deshalb so lange töten musste, bis sie den Gesang des Lebens hörte. Ein anderes Mal sehen wir einen Tanz, der mit uns tanzt und/oder mit Farben.

Nie Yinniang gesteht ihrer Meisterin am Abgrund stehend, dass sie den Cousin und seine Familie nicht töten konnte. Sie liefert ein politisches Argument (kein emotionales). Sie wird als schwach bezeichnet. Inzwischen verdeckt der Nebel den gesamten Bildhintergrund. Ist das Magie? Dann verschwindet sie im Wald. Ein harter Schnitt, von denen es ein paar in The Assassin gibt, wirft uns mitten in einen Kampf zwischen ihr und ihrer Meisterin. Doch Nie Yinniang kehrt sich ab, sie erstickt diesen Kampf erneut. Sie hat kaum etwas gesagt, wir haben sie kaum gesehen, sie ist nur ein Schatten und genau deshalb das Licht dieses Films, der vielleicht letztlich auf einer Suche nach einer zeitlosen Moral und deren Gegenwärtigkeit erfolgreich ist, in dem er sich von der Welt abkehrt und in eine unfassbare Reinheit taucht, die wiederum vom Wind wie ein flimmernder Schimmer am Leben gehalten wird, sei es durch die Vergangenheit oder Gegenwart. Irgendwie habe ich nur ein Bild des Films beschrieben. Und weil das vielleicht zu poetisch klingt, ende ich mit einem Zitat des Filmemachers: „Hollywood-style films are popular all around the world nowadays, and they need a strict story structure. If the story is not told that way, not continuous enough, the audience will have difficulty following along. But that’s only one of the many ways of telling a story: there are hugely different ways of filmmaking in world cinema. Only because of the huge impact of Hollywood, young people want to imitate that style. Actually, almost all filmmakers want to imitate the style of Hollywood. But I don’t see it that way. A good film is when you continue your imagination [of it] after seeing it.”

Kossakovsky-Retro: Losev

Den letzten Atem filmen in einem Moment, in dem keiner hinsieht. Die letzten Blicke und die letzten Gedanken festhalten. Dann zum filmischen Ritual erheben, was nicht vergehen darf, jemanden wiederbeleben, wie Carl Theodor Dreyer, in erhabener Stille, ihn weiter leben lassen. Intimität und Gott sein, nicht Gott spielen, nein Kossakovsky will Gott sein und er will auf keinen Fall Gott sein. Es ist sein erster Film. Er beginnt mit einer langen und fiebrigen Blende und der aufgehenden Sonne. Diese Sonne beleuchtet aber einen Friedhof. Es ist die Geburt eines Todes und der Tod einer Geburt. Man erkennt nichts und alles und immer wieder neu. Als würde mit Kossakovsky das Licht neu geboren werden. Es ist nicht gerade Bescheidenheit, die den Filmemacher auszeichnet. Der letzte Atem und das erste Licht gehen schließlich einen Weg unter die Erde, der an etwas glaubt, das größer ist als das Irdische.

Hier kommen wir zu Punkt 9, der von Kossakovsky aufgestellten Regeln für Dokumentarfilmer: “Documentary is the only art, where every esthetical element almost always has ethical aspects and every ethical aspect can be used esthetically. Try to remain human, especially whilst editing your films. Maybe, nice people should not make documentaries.” In Losev besucht Kossakovsky seinen Mentor, den Philosophen Alexey Fedorovich Losev am Sterbebett und begleitet ihn gewissermaßen in den Tod. Dabei vermag Kossakovsky immer wieder äußert, nennen wir sie „heilige“ Momente einzufangen, Augenblicke, in denen die Stille und die Erhabenheit eine Anwesenheit der Kamera eigentlich untersagen. Nun vermag Kossakovsky durch seine gewählte Position, durch seinen Abstand, durch seine Montage und Musik allerdings filmisch etwas „Heiliges“ hinzugeben statt das „Heilige“ der Realität zu entweihen. Ein gutes Beispiel findet sich in der langen Totenwache. Es ist nicht nur derart, dass man den ganzen Raum zittern spürt, sondern auch so, dass man ein Gefühl für die Ewigkeit bekommt. Die Ethik untersagt es Kossakovsky nicht zu filmen, sondern lässt ihn ästhetische Entscheidungen treffen. Ganz ähnliches konnten wir in Pavel i Lyalya sehen als die Kamera von der weinenden Lyalya abwich und über das Schattenspiel einer sommerlichen Wand hinweg schwenkte. Die Fragen sind immer: Wann macht man die Kamera an? Wie macht man die Kamera an? Wo macht man die Kamera an? Weshalb macht man die Kamera an? Dabei geht es eben nicht nur um diese dokumentarische Angst vor dem Verpassen eines entscheidenden Augenblicks, sondern auch und vermehrt um die Frage, wann und wie ein Augenblick besser unberührt bleiben sollte. Das ist nicht nur eine ethische Frage im Bezug zur Realität, sie stellt sich tatsächlich dem Film. Denn wenn eine ethische Grenze überschritten wird, dann ist auch die ästhetische Wirkung verändert und in den meisten Fällen zum Schlechten. Wir sprechen dann von billiger Sensationsgier oder ähnlichem.

Losev ist auch ein Film über die letzten Gedanken, die bleibenden Gedanken eines Mannes. Er stellt die Frage wie ein Lebenswerk im Tod aussieht und wie sich menschliche Ängste mit der eigenen Philosophie vertragen im Angesicht des eigenen Endes. Losev ist fasziniert von der Vorstellung, dass man wissenschaftlich nicht in der Lage ist das Eintreffen eines Todes vorherzusagen. Daher muss es so etwas wie Schicksal geben. Der Tod trifft für ihn ähnlich ein wie für Kossakovsky der Film. Zum einen stellt sein Werk immer wieder die Frage wie der Blick der Kamera sich im Augenblick seines Vollzugs mit dem Wissen und den vorgefertigten Ideen und Konzepten verträgt und zu anderen ist das Eintreffen einer Emotion, eines Films, eines Ausbruchs keine Sache der Planung. Es ist eine Sache der Reaktion, des Zufalls und des Schicksals. Kossakovsky zielt mit seinen Filmen in einen Himmel, den er nicht kennt. In Losev beginnt er mit seiner Suche und er beginnt am Ende der Zeit und er stellt fest: Es gibt kein Ende der Zeit. Zumindest keines, das man filmen könnte.

Kossakovsky-Retro: Kossakovsky sehen

Meta

Wir schreiben hier auf dem Blog sehr oft über Filme und bemühen uns dabei einen möglichst „puren“ Zugang zu wahren. Das heißt weniger theoretisieren als beobachten, weniger Produktionskontexte referieren, als den Film selbst sprechen zu lassen. Oft geht es auch darum, zu beschreiben was ein bestimmter Film, eine bestimmte Szene, mit uns als Betrachter macht. Das sind subjektive Beobachtungen, denn schließlich können wir nicht sicherstellen, dass ein Film jeden Zuseher gleich anspricht (im doppelten Wortsinn). Ich denke, es ist sehr deutlich, dass es uns in unseren Besprechungen und Essays eher um die Beschreibung eines möglichen subjektiven Zugangs geht, als um Publikumsforschung und doch bleibt bei einer solchen Herangehensweise etwas auf der Strecke: das Kino als Ort der Massen. Das Kino als Ort, nicht bloß der solitären Rezeption, sondern des gemeinschaftlichen Erlebnis.

Meta

© Daniel Bogan/Flickr

Zu Beginn der Retrospektive zu Victor Kossakovsky auf Doc Alliance trafen wir uns zu viert zu einem Filmeabend, um uns dem Regisseur gemeinsam anzunähern. Für drei von uns war Kossakovsky überhaupt Neuland, einzig Patrick hatte schon zuvor zwei seiner Filme gesehen. Wir einigten uns mit Svyato zu beginnen (Patricks Besprechung dazu hier), ohne wirklich zu wissen was auf uns zukommt – um Kossakovskys Sohn sollte es gehen, eine persönliche Geschichte also.

Der Film beginnt abstrakt, mit einem Textzitat, einigen langen Einstellungen und etwas Musik. Schließlich das Bild eines spielenden Kindes in einem Korridor, nach einer Zeit beginnt die Kamera langsam wegzuzoomen. Plötzlich, ein Rahmen! Das Kind wurde über einen Spiegel gefilmt. Ein echter Schockmoment, mir fällt die Kinnlade herunter, den anderen, so stellte sich später im Gespräch heraus, ging es ähnlich. Eine halbe Stunde später ist der Film zu Ende, man schenkt sich ein Glas Wein ein, lässt den Film etwas auf sich wirken oder macht sich sogleich daran zu diskutieren. Während ich mir also noch ein Glas Wein einschenke, unterhalten sich Patrick und Andrey schon angeregt über den Einsatz von Musik und die Bedeutung bestimmter Szenen und Sequenzen (was haben diese verträumten, poetischen Passagen am Teich mit dem Kind im Spiegel zu tun?). Die beiden kommen langsam zu einem Ende, wir wollen mit Pavel i Lyala fortsetzen, ich habe bis dahin nicht mitdiskutiert, denn ein Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf: Kossakovskys lange Einstellung des spielenden Kinds, das er über den Spiegel aufnimmt, wird irgendwann von einer anderen Kameraperspektive abgelöst, die scheinbar frontal in den Korridor filmt – die Einrichtungsgegenstände sind allerdings in dieser Einstellung nicht spiegelverkehrt – der Gang sieht aus, wie zuvor in der Spiegeleinstellung.

Ich teile meine Beobachtung, und wir alle sind zunächst ratlos. In einer ad-hoc Filmanalyse sehen wir uns die betreffenden Stellen noch einmal an. Sind da Schnitte? Wechselt er die Linse? Macht das überhaupt einen Unterschied? Aus der ad-hoc Analyse wird eine ad-hoc Recherche: das Internet wird befragt, wie dieser Film gemacht worden ist, ob das irgendjemand anderem auch aufgefallen ist. Wir kommen nicht voran, immer weiter versuchen wir den Raum dieses Films nachzuvollziehen und immer weiter verknoten sich unsere Gedankengänge. An Pavel i Lyala denkt nun keiner mehr, zu wissensdurstig sind wir. Wie lang dauerten die Diskussionen? Zehn Minuten vielleicht, wir kommen noch immer nicht weiter, ich resigniere, Andrey resigniert, Patrick kann nicht loslassen. Ein letzter Versuch: Youtube! Dort findet sich eine Masterclass von Kossakovsky aus dem Jahr 2012. Das Video dauert fast zwei Stunden aber Patrick lässt sich von unseren Protesten nicht abhalten. Aus wenigen Ausschnitten schließt er, dass das Gespräch chronologisch vorgeht und findet tatsächlich die Stelle, wo Svyato besprochen wird. Der Moderator stellt die „richtigen“ Fragen. Es wird spannend für uns. Und tatsächlich, die Auflösung: drei HD-Kameras, vier Spiegel. Wir sind baff. Wir geben uns geschlagen. Das hätten wir aus den Bildern selbst nie herausfinden können. Aber wir sind auch zufrieden, in nur wenigen Minuten haben wir eine Antwort gefunden, wenngleich das Rätsel dadurch nicht gelöst ist, denn wie Kossakovsky nun genau gearbeitet, seine Kameras und Spiegel positioniert hat, lässt sich nicht erschließen – das muss man aber auch gar nicht, das kann man vielleicht gar nicht, darum geht es nicht. Es geht vielmehr um das Verblüffen, die Multiplikation von Aha-Effekten. Die Vielschichtigkeit, die Rezeptionsebene, den Austausch, die Auflösung. Cinephilie ist nicht nur Filme zu schauen, sondern auch Filme zu befragen. Nicht nur das fertige Produkt zu betrachten, sondern auch die Arbeit die dahinter steckt. Nicht nur Svyato, sondern auch Kossakovsky zu sehen.