Locarno 2014: Ein Blick zurück

Der Lago Maggiore

Nach ein paar Tagen Ruhe und einer Staffel House of Cards (unter anderem) um einem Bewegbild-Cold-Turkey vorzubeugen, hier nun mein Abschlussbericht vom Filmfestival Locarno 2014. Die Gelegenheit möchte ich dazu nutzen, einige der gesehenen Filme näher zu besprechen, wozu mir während des Festivals leider die Zeit und Energie fehlte. Im Mittelpunkt stehen dabei die neuen Filme, wohingegen ich weder über die Filme der diversen Retrospektiven, noch über das Wetter schreiben werde.

Kristen Stewart und Juliette Binoche in

Sils Maria

Sils Maria von Olivier Assayas

Diese vielleicht größte persönliche Enttäuschung des Festivals habe ich in meinem Tagebuch mit nur wenigen Zeilen bedacht. Nach einiger Bedenkzeit, kann ich mit Olivier Assayas‘ neustem Film zwar noch immer nicht anfreunden, aber zumindest meine Haltung zum Film artikulieren. Vorweg möchte ich erwähnen, dass ich ein großer Fan des Regisseurs bin. In seinen besten Filmen vermag er es gleichsam jugendliches Lebensgefühl einzufangen, und eine politische Botschaft zu vermitteln. Seine Filme zeichnen sich formal durch seine unkonventionellen Schnitte und seine hochbewegliche Kamera aus, die eine intime Atmosphäre schaffen. Wiederkehrende Themen, die alle irgendwie zusammenhängen, wie Jugend, Revolution, Drogen Rock’n’Roll, Sexualität, Autobiographisches und sein dynamischer Stil ergänzen sich großartig. In Sils Maria fehlt mir all das. Zugegeben, es geht, grob gesagt um Generationenkonflikte, aber die Art und Weise wie Assayas diese Konflikte behandelt, unterscheidet sich stark von seinen früheren Filmen. Anstatt sich den Charakteren anzunähern und die Beziehungen der drei Frauen (großartig gespielt von Juliette Binoche, Kristen Stewart und Chloe Grace Moretz) in intimer Atmosphäre durchzuexerzieren, widmet sich Assayas zu oft dem Schweizer Alpenpanorama und lässt seine Schauspielerinnen kammerspielartig agieren, ohne jedoch aus der Raumdynamik zwischen der Weite der Berge und der Enge der Berghütten und Hotelbars einen Mehrwert zu ziehen. Das ist zwar auch schön, aber weder ist Assayas besonders talentiert darin Bergpanoramen zu fotografieren (wie oben erwähnt ist Intimität seine Stärke, und die steht in starkem Widerspruch zur Größe und Werte eines Bergpanoramas), noch gehe ich in einen Assayas-Film um mir die Alpen anzusehen. Das Assayas durch seine kammerspielartige Inszenierung die Handlung formal spiegelt, lasse ich nicht gelten, denn die Metaebene wird ohnehin schon inhaltlich (über-) strapaziert: Die gealterte Starschauspielerin Maria Enders (Binoche) soll eine Rolle im gleichen Stück übernehmen, dass sie einst berühmt gemacht hat. Nun soll sie aber nicht die junge Verführerin Sigrid, sondern die ältere Helena, die schließlich von Sigrid in den Selbstmord getrieben wird, mimen. Der Konflikt im Stück, wird durch den Konflikt zwischen Enders und ihrer Assistentin (Stewart) beziehungsweise ihrem jungen Co-Star Jo-Ann Ellis (Moretz) dupliziert. Auf dem Papier klingt diese Konstellation tatsächlich vielversprechend, so war ich auch nicht weiter verwundert, als der Film nach seiner Premiere in Cannes mit Lob überschüttet wurde. Heute kann ich darüber nur mehr den Kopf schütteln, denn die Inszenierung ist flach und blutlos, Binoche geht voll auf in ihrer Rolle als gealterter Star, ihr gegenüber versuchen Moretz und Stewart ihr bestes, ihre Charaktere haben aber nicht annähernd die Tiefe wie Maria Enders. Werden die Spannungen in der Figurenkonstellation wenigstens noch rudimentär in der filmischen Umsetzung berücksichtigt, so werden Raumdynamiken (und da bietet sich gerade die Gegenüberstellung von Alpenlandschaft und Theaterbühne an) geflissentlich übergangen. Auch der Medienrummel um Jo-Ann Ellis und der Tod von Marias Mentor Wilhelm Melchior, dem Autoren des Stücks werden nur nebenbei gestreift – kurz, Assayas schöpft das Potenzial des Sujets nicht annähernd aus. Nicht nur, dass diesen Film wohl auch ein Lasse Hallström passabel über die Bühne hätte bringen können und es dafür keinen Assayas gebraucht hätte, alles in allem, ist der Film ganz einfach einfallslos. Ein konsequent durchgearbeitetes Drama, das handwerklich so konventionell daherkommt, dass man es eigentlich kaum kritisieren kann, aber auch keinerlei Raum für große Ideen lässt. Ein Film, wie ihn aufstrebende europäische Regisseure machen, wenn sie das erste Mal nach Hollywood gehen und für das große Geld ihre Kreativität opfern. Assayas‘ internationale Filme rangierten in meiner persönlichen Wertung bis jetzt ohnehin schon am unteren Ende, aber selbst in Clean und Boarding Gate behielt er ein Mindestmaß an Rebellion und formaler Experimentierfreudigkeit. Die ist ihm in Sils Maria abhandengekommen. In einzelnen Momenten fühlt man diese Energie unter der Oberfläche brodeln (z.B. als Stewart nach durchzechter Nacht unter Metal-Beschallung eine Bergstraße entlangfährt, schließlich aussteigt und kotzt), das ist aber zu wenig um über die Enttäuschung hinwegzutrösten.

Das ominöse Boot in

Ventos de Agosto

Ventos de Agosto von Gabriel Mascaro

Einem der Film, dem ich ebenfalls zu wenige Zeilen gewidmet habe, ist Gabriel Mascaros Ventos de Agosto. Der Film wurde immerhin mit einer lobenden Erwähnung der Jury bedacht und ist von Presse wie Publikum durchwegs positiv aufgenommen worden. Auch hier frage ich mich, warum? Ventos de Agosto ist ein Film so sehr von seiner eigenen Coolness überzeugt, dass er darüber völlig vergisst, dass neben Coolness auch Faktoren wie Kohärenz, Dramaturgie und Vision einen guten Film auszeichnen. Der Film ist voll von Szenen, die zum Schmunzeln, wie Staunen einladen und es ist gut, dass es Filmemacher mit derartigem Esprit und Einfallsreichtum gibt. Dafür aber darauf zu verzichten, diese Ideen in ein großes Ganzes einzubinden, Verknüpfungen herzustellen, nicht nur oberflächliche Botschaften mitzugeben, und eine künstlerische Stellung zu beziehen, ist fatal. So bleiben zwar tätowierte Schweinen, Coca-Cola-Dosen und Sex auf Kokosnüssen in Erinnerung, aber die aufgesetzte Hipster-Deadpan-Komik und die „sieh mich an, ich bin ein Kunstfilm!“-Allüren im (Ton-) Schnitt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass man Selbstreflexivität nicht ohne Subtilität einsetzen sollte. Gegen eine Fortführung inszenatorischer Traditionen der Stummfilmslapstickkomik ist an und für sich nichts einzuwenden (ganz im Gegenteil), aber dann bitte nicht bloß als Gimmick, wie in Ventos de Agosto oder auch in Dos Disparos, sondern eingebettet in ein künstlerisches Gesamtkonzepte (wie man das macht, kann man z.B. bei Elia Suleiman sehen), sonst wirkt es aufgesetzt, ja selbstgefällig.

Vor dem Obdachlosenasyl in

L’Abri

L’Abri von Fernand Melgar

Dokumentarfilmen wird in Locarno, wie bei den meisten anderen großen Festivals, wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Im Gegensatz zu Experimental- und Animationsfilm, findet man aber doch einige wenige Vertreter dieser Gattung. Ein herausragendes Beispiel war L’Abri, einer meiner persönlichen Favoriten. Meines Erachtens ist der Film im allgemeinen Trubel etwas untergegangen. Selbst die heimische Presse schenkte Cure – The Life of Another mehr Beachtung als dem Schweizer Beitrag L’Abri. Nepotismusvorwürfe sind hier ohnehin fehl am Platz, denn seinen Platz im Wettbwerb hat sich L’Abri redlich verdient. Neben einem politisch und gesellschaftlich hochbrisanten Thema wie Armut und Zuwanderung, konnte der Film auch mit seiner Form überzeugen. L’Abri bleibt dabei trotz seines heißdiskutierten und emotional-geladenem Thema stets differenziert und hat auch über die Schweizer Landesgrenzen hinaus Bedeutung. Denn das Obdachlosenasyl in Lausanne, dass Melgar einen Winter lang studiert, könnte man so auch in diversen anderen europäischen Großstädten vorfinden. Obdachlosigkeit und Immigration (wenn ich mich richtig erinnere kommt im gesamten Film kein einziger gebürtiger Schweizer Obdachloser zu Wort) sind eng miteinander verknüpft und laden zu einseitiger Berichterstattung ein. Parolen wie „Ausländer raus!“ hört man aber ebenso vergeblich, wie Plädoyers für schrankenlose Zuwanderung. Dafür ist Melgar, wie mir scheint, zu intelligent. Vielmehr lässt er die Betroffenen selbst zu Wort kommen, in langen Gesprächen zwischen den Obdachlosen, in denen der Filmemacher unsichtbar bleibt, zeigen sich deren Lebenswelten und (zerbrochenen) Träume. Wie Melgar es geschafft hat das Vertrauen dieser Menschen zu bekommen ist beeindruckend und vielleicht der entscheidende Faktor für den Erfolg des Films. Auf der anderen Seite kommen auch die Angestellten des Asyls zu Wort. Jene Angestellten, für die die Hilfesuchenden nicht bloß statistische Kennzahlen, sondern menschliche Wesen sind, und die Nacht für Nacht die Regeln biegen und Menschen von der Straße holen, für die sie, laut Reglement, eigentlich gar keinen Platz haben. Nach für Nacht bleiben aber auch ein paar verlorene Seelen vor den verschlossenen Toren des Asyls zurück, und Nacht für Nacht lässt sich nur erahnen welch große mentale Belastung das Auswahlverfahren für die Türsteher sein muss. Da werden Familien zerrissen und mittellose Menschen bei eisigen Temperaturen in Todesgefahr gebracht. Der Film bietet keine Lösung an, aber lädt zum Nachdenken ein. Zum Nachdenken über soziale Verantwortung und die Stellung Europas in der Welt. Gleichzeitig ist L’Abri ein durchwegs heterogenes Werk, dass die Grenzen der dokumentarischen Form austestet. Zwischendurch gibt es Phasen in denen man sich fragt, ob die Protagonisten nicht doch Schauspieler sind. Die Bebilderung der Arbeitsabläufe im Asyl wiederum führen die große Tradition des Cinéma Verité und Direct Cinema fort. In dieser Hinsicht war der zweite Dokumentarfilmbeitrag The Iron Ministry sogar noch radikaler, allerdings wirkte der durch seine formale Strenge beinahe zu distanziert und observativ. L’Abri hingegen fühlt mit den Menschen und wehrt sich gegen die Sterilität, die einer solchen Milieustudie leicht anhaften kann.

Jason Schwartzman in

Listen Up Philip

Listen Up Philip von Alex Ross Perry

Kategorisiert man Listen Up Philip als typischen „Sundance-Film“ so liegt man mit dieser Einordnung nicht ganz falsch. Listen Up Philip ist die Quintessenz eines amerikanischen Indies (was auch immer das sein soll). Nur eine sehr beschränkte Anzahl dieser Filme schafft es auf die großen europäischen Festivals, noch weniger werden zu kommerziell erfolgreichen Hitfilmen und dürfen sich im Folgejahr im Oscarglanz sonnen. Listen Up Philip wird letzteres Schicksal wohl erspart bleiben, dazu fehlen dem Film einige wichtige Merkmale, wie zum Beispiel ein sympathischer Protagonist, positive Charakterentwicklung und ein Happy End (geschweige denn überhaupt ein zufriedenstellender Abschluss). Aber wieder zurück zu Sundance: Es hat sich mittlerweile eine ganze Industrie etabliert, die mit mittelmäßig großem Budget und ein, zwei großen Namen halbtragische, halbkomische Spielfilme produziert, in denen es meist um (gescheiterte) Künstler oder Exzentriker geht. Gibt es ein entscheidendes Attribut, dass man diesen Filmen zuschreiben könnte, so wäre es wohl „Quirkiness“ (frei übersetzt: Schrulligkeit). Listen Up Philip ist auf der Quirkiness-Skala sehr weit oben angesiedelt. Das liegt zum einen am namensgebenden Protagonisten, einem Schriftsteller, der gerade an seinem zweiten Roman schreibt und sich durch eine ausgeprägte asoziale und eigenbrötlerische Ader auszeichnet, und zum anderen an der Ästhetik des Films, die die im Moment so beliebte Deadpan-Komik mit einer Prise Wes Anderson, einem auktorialen Erzähler und sehr viel kitschigem Licht kombiniert. Dass der Film in Brooklyn spielt, ist eine Selbstverständlichkeit. Auf dem Papier klingt diese Mischung grauenerregend, nicht dass an amerikanischem Indie per se etwas auszusetzen wäre, aber die Formel wird, so scheint es, gnadenlos überstrapaziert – so sehr überstrapaziert, dass man sie eigentlich nicht mehr ernst nehmen kann.

Der amerikanische Indie ist alles in allem einem realistischen Postulat unterworfen, das heißt man versucht in der Regel eine Geschichte zu erzählen, wie sie auch im echten Leben vorkommen könnte, wenn tatsächlich einmal solch schrullige Charaktere aufeinandertreffen würden. In Listen Up Philip ist das anders, man kann dem Film einfach nicht mehr abnehmen, dass der Ungustl Philip sich unter die Fittiche des nicht minder unsympathischen Starautors Ike Zimmermann (ein grandioser Jonathan Pryce) begibt, eine Professorenstelle annimmt, und sich unter Anleitung Zimmermanns schließlich dazu entscheidet ein Leben als einsames Genie zu führen. Man kann dem Film ganz einfach nicht abnehmen, dass dieser präpotente Großkotz tatsächlich gut ist, in dem was er tut, und nicht bloß ein Aufschneider. Man erwartet nicht, dass gerade so ein Mensch tatsächlich Erfolg hat – so viele vergangene Filme haben uns das Gegenteil gelehrt und Charaktere wie Philip entweder auf den harten Boden der Realität fallen, oder eine Erleuchtung samt Lebenswandlung erfahren lassen. Listen Up Philip tut dies alles nicht und wird so zum Märchen, zum pervertierten amerikanischen Traum, zum Hipster-Manifesto – große selbstreflexive und ironische Erzählkunst.

Ausnüchtern in

Gyeongju

Ein asiatischer Doppelpack

Die beiden letzten Wettbewerbsfilme, die ich gesehen habe waren Alive von Park Jung-bum und Gyeongju von Zhang Lu. Diese beiden Filme vereint nicht nur ihre überdurchschnittliche Länge (drei bzw. zweieinhalb Stunden), sondern auch eine filmische Philosophie, die sich in einer bestimmten Herangehensweise an den Faktor Zeit äußert. Denn diese beiden Filme sind nicht lang, weil sie eine epische Geschichte zu erzählen haben, sondern spielen über vergleichsweise kurze Zeiträume (bei Gyeongju ist es gar bloß ein einziger Tag) und beobachten in erster Linie Alltagshandlungen. Dadurch, und das ist eine Strategie, die mir persönlich sehr nahe steht, entstehen Einblicke in die Lebenswelt der Menschen im Film. Ich habe mich im Laufe des Festivals öfters über aufgesetzte und platte Inszenierungen beschwert und tatsächlich musste ich mich nach Lav Diaz am Eröffnungstag bis zu diesem asiatischen Doppelpack gedulden, um wieder Lebensrealität im Kino wahrzunehmen (Pedro Costa habe ich bewusst in dieser Kategorisierung ausgespart). Geradezu ironisch also, dass Hauptcharakter Jung-chul von einer Auswanderung auf die Philippinen träumt. Es kommt nicht so weit und am Ende des Films befindet sich Jung-chul gar in einer verzweifelteren und aussichtsloseren Position als zuvor, doch das macht keinen Unterschied, denn für diese Art von Film ist nicht der Handlungsbogen, sondern die Handlungen an sich entscheidend. Jung-chul fällt einen Baum. Jung-chul kocht Suppe. Jung-chul prügelt sich.

Gyeongju ist die Idee eines „Handlungsbogens“ von vornherein fremd. Noch mehr als in Alive, wo es ja doch noch um etwas, das Überleben, geht, ist Gyeongju eine spirituelle Wanderung durch alte Teehäuser und UNESCO-Weltkulturerbe. Anders als Jung-chul fällt Choi Hyeon weder Bäume, noch kocht er Suppe. Er ist Professor für Politikwissenschaft und kein körperlicher Arbeiter, sein Metier ist das abstrakte Denken und demgemäß sind seine Handlungen auch geistiger Natur. In Alive geht es ums physische Überleben. Das ist in Gyeongju gesichert, hier geht es um eine spirituelle und geistige Suche – die Gegenwart wird über die Vergangenheit befragt und die Antworten bleiben unbefriedigend. Diese abstrakte Dimension macht Gyeongju zum besseren, zum mutigeren Film und zu einem der besten und mutigsten Filme des Festivals.

Locarno-Tagebuch: Tag 11: Arm, aber glücklich

Der Garten des Teehauses von "Gyeongju"

Gyeongju, der letzte Wettbewerbsfilm in meinem Programm, war um neun Uhr morgens nur spärlich besucht. Umso intensiver, kam mir vor, war die Erfahrung. Alles in allem, waren vielleicht fünfzig Zuseher im ca. 500 Personen fassenden Saal und diese Leere, gepaart mit der zweieinhalbstündigen Laufzeit verstärkte die Konfusion und Irre, in der sich der Protagonist Choi befindet. Choi ist Professor für Nordostasiatische Politik an der Universität von Peking und kehrt für das Begräbnis eines alten Freundes nach Korea zurück. Dort bleibt er aber nur kurz und zieht bald schon weiter nach Gyeongju. Gyeongju ist wegen seiner zahlreichen archäologischen Schätze und seines kulturellen Erbes, eine der beliebtesten Reisedestinationen Südkoreas. Dort hatte er vor sieben Jahren mit seinen zwei besten Freunden (darunter der nun verstorbene) einen Kurzurlaub verbracht und die Erinnerungen daran lassen ihn nicht mehr los. Warum genau das so ist, erschließt sich nicht ganz, aber Chois Begegnungen mit den Bewohnern des Ortes und seiner eigenen Vergangenheit, die sich immer wieder mit der Gegenwart vermengt, sind fein herausgearbeitet und offenbaren eine Sensibilität, die ich bei so vielen der anderen Wettbewerbsfilme vermisst habe. Locarno verstärkt meinen Eindruck, dass es sich die spannendsten Entwicklungen im Gegenwartskino in Asien abspielen.

Jung-chul am Fahrrad in "Gyeongju"

Gyeongju

Der letzte Film den ich am 67. Festival del Film Locarno gesehen habe war Rainer Werner Fassbinders Lola, der zu Ehren Armin Mueller-Stahls gezeigt wurde. Ich finde jedes Festival sollte mit einem Fassbinder-Film schließen, überhaupt Lola erscheint mir für solch einen Anlass als sehr geeignet. Ein Film, der gleichsam Wehmut und Erleichterung auszudrücken vermag. Beim Hinausgehen aus dem Kinosaal realisierte ich schockiert und irgendwie auch ein bisschen traurig, dass es nun vorbei war.

Barbara Sukowa und Armin Mueller-Stahl in "Lola"

Lola

Bevor ich zu den offiziellen Preisträgern komme, die die Jury ausgewählt hat, noch zu meinen persönlichen Favoriten. Der beste Film, den ich am Festival gesehen habe, war Jean Eustaches La Maman et la Putain. Der beste Film im Wettbewerb Mula sa kung ano ang noon, gefolgt von Pedro Costas Cavalo Dinheiro. Mein persönlicher Spezialpreis geht an Christmas Again von Charles Poekel, weil er ohne groß zu brillieren oder anzugeben, alles richtig macht (und weil ich Filme erwähnen will, die Patrick nicht mögen würde).

Die Jury des Concorso Internazionale unter dem Vorsitz vom letztjährigen Venedig-Sieger Gianfranco Rosi schloss sich meiner Einschätzung mehr oder weniger an:

Der Pardo d’oro ging an „Mula sa kung ano ang noon“, der Spezialpreis der Jury an Listen Up Philip und der Preis für die Beste Regie an Cavalo Dinheiro. Auch mit den Schauspielpreisen für Ariane Labed (Fidelio, l’odyssée d’Alice) und Artem Bystrov (The Fool) kann ich leben, einzig dass Ventos de Agosto als Special Mention gewürdigt wird, stößt bei mir auf Unverständnis.

Beautiful insanity in "Mula sa kung ano ang noon"

Mula sa kung ano ang noon

Die Preisträger des Concorso Cineasti del Presente habe ich allesamt nicht gesehen, gewonnen hat Navajazo von Ricardo Silva, der Preis für die Beste Regie ging an Simone Rapisarda Casanova für La creazione di significato und der Spezialpreis der Jury an Los Hongos von Oscar Ruiz Navia. Un jeune poète von Damien Manivel, den ich sehr gerne gesehen hätte, wurde mit einer lobenden Erwähnung bedacht.

Der Preis für den Debutfilm ging an Songs from the North von Soon-mi Yoo, Fidelio oder Christmas Again waren meiner Meinung nach bessere Filme, allerdings ist die Entstehungsgeschichte von Songs from the North wert ausgezeichnet zu werden.

In den Kurzfilmkategorien wurde Gott sei Dank keiner der furchtbaren, uninteressanten Filme ausgezeichnet, die ich so bekrittelt habe. Einzig Shipwreck von Morgan Knibbe, wurde zu Recht mit zwei Preisen bedacht (dem Pardino d’argento und der Nominierung für die European Film Awards).

Mula sa kung ano ang noon staubte neben dem Goldenen Leopard auch den FIPRESCI-Preis, den Premio „L’ambiente è qualità di vita“ und den Premio FICC/IFFS abes gibt sehr sehr sehr viele unabhängige Juries und Preise hier, um die Geduld meiner Leser nicht weiter zu strapazieren, verweise ich an dieser Stelle auf die komplette Liste auf der offiziellen Homepage

Mein erstes Fazit nach 11 Tagen Locarno: arm aber glücklich.

Locarno-Tagebuch: Tag 10: Lebendige Lethargie

"Alive" von Park Jung-bum

Zum Start eine Randnotiz: Sowohl Lauren Bacall, Harun Farocki als auch Robin Williams wurden kurzfristig mit einer Vorführung gewürdigt – Williams gar mit einer Aufführung von One Hour Photo auf der Piazza Grande. Ich habe es weder zu diesem Film, noch zu den beiden anderen geschafft, aber es war mir eine Erwähnung wert.

Nun zum Geschäftlichen, zum letzten vollen Tag für mich hier in Locarno. Mittlerweile fühle ich mich ein wenig wie in Trance, da hilft es auch nicht, dass der Tag mit zwei Kurzfilmen von Jean-Marie Straub beginnt. Dessen Filme sind immer schwierig – entweder herausfordernd oder anstrengend – A propos de Venise und vor allem Dialogue d’ombres würde ich eher der zweiten Kategorie zuschreiben. Zwei solch sperrigen, essayistischen Werke vormittags anzusetzen gehört eigentlich verboten. Danach sprinte ich ins Cinema Ex*Rex zu Cronaca Familiare, einem weiteren Zurlini-Film (dem dritten diese Woche). In Cronaca Familiare spielt Marcello Mastroianni ganz großartig den großen Bruder von Jacques Perrin. Abgesehen davon, dass der Film über einen Zeitraum von knapp dreißig Jahren spielt und Mastroianni zunächst einen 25-Jährigen, und Jacques Perrin später einen 28-Jährigen spielen, weckte er mich ein wenig aus meiner Straub-induzierten Lethargie.

Marcello Mastroianni und Jacques Perrin in

Cronaca familiare

Diese wurde allerdings spätestens mit The Voice of Sokurov wieder hergestellt. Die estnische Filmemacherin Leena Kilpeläinen bastelt darin aus sieben Interviews mit Aleksandr Sokurov (exzentrisch wie immer) und einer Menge an Ausschnitten von Sokurovs Filmen, auch aus dem selten gezeigten Frühwerk, einen passablen Dokumentarfilm über Sokurovs Sicht auf Kunst und die Probleme, die er im Laufe der Jahre mit diversen Regierungen hatte, die mit seiner Radikalität nicht umgehen konnten. Über Sokurov selbst erfährt man allerdings kaum etwas, ebenso wenig über seine Arbeitsweisen oder die Entstehungsgeschichte seiner Filme. So richtig politisch wird es auf der anderen Seite auch nicht, und so erschöpft sich das Ganze schon bald und wird zum Sokurov-Mantra, der sich für die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks starkmacht.

Aleksandr Sokurov beim Spazieren

The Voices of Sokurov

Park Jung-bums Alive, mit knapp drei Stunden der zweitlängste Beitrag im Concorso Internazionale, nützt seine Dauer vorzüglich. Ich mag es, wenn Filme lange Laufzeiten dazu nützen ein Stück Lebenswirklichkeit greifbar zu machen (hier auch so in Mula su kang ano ang noon und Le Maman et la Putain gesehen), und der Koreaner Park Jung-bum macht das ganz hervorragend. Der Film ist ein mächtiger Brocken, eine sozialkritische Charakterstudie, ein Überlebenskampf in einem Stil, der mich ein wenig an Jia Zhangke (und andere verwandte ostasiatische Filmemacher) erinnerte.

Gold von Thomas Arslan, der in der Jury des Concorso Internazionale sitzt, habe ich sowohl auf der Viennale, als auch beim regulären Kinostart geflissentlich übergangen, so war es spätestens hier an der Zeit dieses Versäumnis nachzuholen, und ich muss sagen, dass mir der Film gefallen hat, obwohl ich eigentlich kein großer Freund des Westerngenres bin. Diese Aversionen sind zwar unbegründet, aber sie sie sind numal da. Vielleicht liegt mein Gefallen an Gold auch daran, dass man kaum mehr von einem Western sprechen kann, sondern eher von einem Berliner-Schule Drama im Western-Setting.

Onkel und Nichte in

Alive

Was ich bis jetzt noch gar nicht erwähnt habe: Vielleicht ist es das hohe Durchschnittsalter des Publikums, aber Störungen durch Handyklingeln und leuchtende Displays kommen nur vereinzelt vor (das ist zwar immer noch zu oft, aber hey, sie brauchen hier nicht mal Ansagen dafür). Das cinephile Klima hier ist überhaupt recht angenehm – in keinem der Kinos ist es erlaubt zu essen, die Publikumsware spielt größtenteils auf der Piazza Grande und kann so einfach umschifft werden und die Vorstellungen fangen unglaublich pünktlich an.

PS: Ich freue mich schon wieder auf Kebab (gibt’s hier zwar theoretisch auch, kostet aber um die 10 CHF…).