Die wahren Kinomomente des Jahres 2014

Nun habe ich in meinem letzten Post etwas gezwungen die eindrücklichsten Momente des Kinojahres 2014, anhand von Filmen aus dem Jahr 2014 festgemacht und damit einen völlig falschen, aber vielleicht notwendigen Rahmen um ein Kinojahr gelegt. Ein Jahr mit, im und durch Film zeichnet sich natürlich durch mehr und vor allem durch Anderes aus als die Filme, die im jeweiligen Jahr geboren wurden. Ich habe das Gefühl, dass ich erst dieses Jahr begonnen habe, Film wirklich zu sehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich auch gelernt habe wegzusehen. Damit meine ich, dass sich die Wirkung der Leinwand für mich über das Kino hinaus vergrößert hat. Mir wurde klar, dass dort meine Heimat ist. Der Ort, an dem mir plötzlich Vertrauen entgegenkommt, der Ort, an dem ich mich immer wohl fühle, der mich auffängt an zu schlechten und zu guten Tagen, der mich lehrt, belehrt, entschuldigt, entblößt, angreift, verteidigt, liebt, hasst, zerstört, aufbaut, antreibt, belebt. Dort werde ich immer verstanden. Es gibt tatsächlich noch einen Unterschied für mich im Vergleich zu den vergangenen Jahren. Es ist einfach so, dass ich nicht mehr nur aus dem Drang nach dem Sehen ins Kino renne, sondern dass ich auch außerhalb des Kinos mit dem Kino sehe. Das meine ich auf einer persönlichen, ästhetischen und politischen Ebene. Es ist nicht mehr wie eine Sucht, auch wenn ich noch mehr gegangen bin. Es ist wie die Freiheit, die es verspricht. Das Kino lebt immer in diesem Paradox. man lässt sich einsperren, um Freiheit zu erfahren. Diese Freiheit existiert in der Zeit. Diese Zeit ist – um Truffaut zu paraphrasieren – mit der Ausnahme weniger Dinge reicher als das Leben. Oder sie macht das Leben reicher.

Hou Hsiao-Hsien

Flowers of Shanghai von Hou Hsiao-Hsien

Denn 2014 ist das Jahr, in dem ich Jacques Tourneur habe flüstern hören. Seine Kamera ist die Zärtlichkeit gegenüber einer Angst. Ich bin aus The River von Tsai Ming-liang nicht mehr herausgekommen. Ich habe gelernt wie man Schmerzen filmt. Körperliche Schmerzen und imaginierte Schmerzen. Ich weiß noch wie wir in einer Gruppe fassungslos und hypnotisiert nach Flowers of Shanghai von Hou Hsiao-Hsien standen. Es war als hätten wir gerade zusammen Opium geraucht, der Asphalt und mit ihm die Mauern flossen statt zu stehen. Alles wurde in eine elegante Schönheit getunkt. Ich stand auf dem Crossing Europe in Linz und wartete bis ein Freund aus Under the Skin von Jonathan Glazer kam. Ich hatte den Film wenige Stunden zuvor gesehen, aber als er aus dem Kino kam, sah ich nicht nur sofort, dass er denselben Film gesehen hat sondern war auch selbst wieder mitten im Rausch der Töne und Bilder dieses großartigen Werks. Ich meldete mich, um Agnès Godard zu sagen, dass sie mit der Kamera nicht nur tanzt, sondern im Tanzen malt. Ich melde mich normal nie bei Publikumsgesprächen, aber nach der geballten Ladung ihrer Werke auf der Diagonale in Graz musste ich es tun. Ich weiß nicht, ob es was gebracht hat, aber ich empfand es als gerecht. Meine Mütze ist bei Jean-Luc Godard verschwunden. In Nouvelle Vague hat jemand meine Mütze geklaut, in Adieu au Langage 3D hat mir ein Zuseher gedroht, dass er mir den Schädel einschlägt, weil ich zu groß bin, ich nahm meinen Kopf nach unten und lehnte mich nahe an meine Freundin, um nicht im Kino zu sterben, obwohl ich im Kino sterben will…

The Music Room Ray

Jalsaghar von Satyajit Ray

Nach Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan fuhr ich mit dem Rad durch eine Herbstnacht. Ich konnte nicht fassen wie viel in diesem Film war und wie wenig man selbst ist und immer sein wird. Ich hatte Fieber nach Jalsaghar von Satyajit Ray. Ich bin mir ganz sicher, dass dieses Fieber aus dem Film kam. Ich hatte es bis zum nächsten Film. Es war wundervoll und unerträglich. Wir haben Tsai Ming-liang und Pedro Costa über ihr Kino sprechen hören. Das Kino war ganz leise als Henry Fonda auf der Veranda sitzt in My Darling Clementine. Es war einfach still. Wir waren Stunden mit Jakob Lass am Tisch gesessen und haben mit ihm über Love Steaks gestritten. Es wurde klar, dass es Blickwinkel gibt, denen man nicht mit Unzufriedenheit begegnen darf und es vielleicht gerade deshalb muss. Danach waren wir alle zusammen in Dracula 3D von Dario Argento und das Publikum war euphorisch (vor dem Film). Eine Euphorie, in der ich mich mehrmals fand im Angesicht der schrillenden Filme des Altmeisters und in der ich mich immer fremd fühlte. Dennoch und gerade deshalb bleiben sie in meinem Gedächtnis.

Immer wenn jemand Antonioni sagt, dann springe ich.

Zangiku monogatari

Zangiku monogatari von Kenji Mizoguchi

Ich habe Tokyo Story zum ersten Mal auf einer Leinwand gesehen und ich habe geweint. Zu den wenigen Filmen, die ich mir 2014 zweimal im Kino ansah, gehörte Maurice Pialats L’enfance nue. Ich musste verstehen, was er mit dem Schnitt macht, seine schneidenden Ellipsen erreichen einen poetischen Kern, der mit Wahrheit, Realität und Weltsicht zusammenarbeitet. Ich war ein nacktes Kind im Angesicht seiner Bilder. Ganz anders und doch ähnlich beeinflussend war die Größe von Wim Wenders in seiner Pracht Der Stand der Dinge. Wir haben Kubelka reden hören mit einer kräftigen Wut, die durch ein Glänzen in den Augenwinkeln befördert wird. Bei den Fahrradständern hat er über Straub&Huillet geschimpft. Wir haben ihn belauscht, ich habe Kubelka belauscht. In den ersten 103 Minuten von Cavalo Dinheiro habe ich nicht geatmet. Ich habe über Carax gelesen, von Carax gelesen. Er hat Recht. Wir wurden nicht müde in P’tit Quinquin. Es war zu unglaublich. Ich habe langsame Boote in nächtliche Bilder fahren sehen bei Kenji Mizoguchi. Es waren Augenblicke, in denen ich ganz einfach nicht mehr existierte. Sie lösten mich auf und ich berührte nichts mehr. Elegischer Rausch, es war ein asiatisches Jahr. Die endlosen unscharfen Schwenks in Millenium Mambo, die Nostalgie in Goodbye Dragon Inn, der Nebel in Zangiku monogatari.

Chelsea Girls Warhol

Die mich auffressende Nacktheit in Andy Warhols Chelsea Girls, die Performance einer Projektion, wir waren nicht viele im Kino und wir saßen ausnahmsweise ganz weit hinten, ungestört und ohne Pause. Es war genauso unglaublich wie alles von Warhol, was ich dieses Jahr sehen durfte. Danach wollten meine Beine weiter schauen. In Wavelenght von Michael Snow bröckelten die letzten Fassaden meiner Wahrnehmung. Sie fielen in tausend glitzernden Blüten auf ein Erdbeerfeld. Sehr viel habe ich mich mit Ingmar Bergman beschäftigt. Wenn man ihn sieht, wenn man über ihn liest, dann erkennt man, dass sich das Kino bewegt. Und etwas im Kino bewegt sich in uns weiter. Deshalb kann das Kino auch etwas zur äußeren Bewegung bringen, was in uns passiert. Pasolini hat mir in zwei Atemzügen gezeigt, dass ich Katholik und Atheist bin. In seinem Il vangelo secondo Matteo erfuhr ich die Kraft einer Spiritualität, die unseren Gefühlen und unserem Denken vielleicht etwas abhanden gekommen ist. Es ist eine politische Spiritualität. Ich habe seine Gedichte gelesen. Er hat Recht.

Dovzhenko ist auch so ein Name, wenn seine Frauen stehen, wenn sein Wind durch die Gesichter weht, wenn seine Geschichte einfriert in einem Moment voller Würde. Die Dokumentationen von Jean Eustache haben mir zusammen mit jenen von Sergei Loznitsa einen neuen Blick auf die Frage nach Perspektive, Erzählung und Film gegeben. Ich habe viele Menschen sterben sehen. Manchmal ganz beiläufig wie bei Hou Hsiao-Hsien, manchmal sind sie wieder gekommen, sie sind gar nicht gestorben, vielleicht waren sie schon tot, vielleicht war alles ein Traum, ein Wort, ein Film. Ein Mann saß neben mir in Four Sons von John Ford und er lachte sehr laut und eigentlich durchgehend. Er war ein wenig zu breit für seinen Sessel, aber ich fühlte mich wohl, denn es war Ford im Kino. Auch Resnais habe ich gesehen. Alain Resnais, er ist verstorben. Aber er konnte gar nicht wirklich sterben. Wir haben im Freiluftkino Chris Marker gesehen. Ihre Erinnerungen, diese Erinnerungen, jetzt meine Erinnerungen, keine Erinnerungen sondern Fiktionen, ich habe sie gesehen, sie haben mich gesehen, wir haben uns nicht gesehen.

Tagebuch eines Landpfarrers Bresson

Journal d’une curé de campagne von Robert Bresson

Dann gab es diesen magischen Moment am Ende von Non si sevizia un paperino von Lucio Fulci als die Musik nach dem Abspann nicht aufhören wollte und uns in einer epischen Dunkelheit erglühen ließ, die das Kino niemals enden lassen wollte, obwohl Ignoranten es verließen, weil sie im falschen Glauben leben, dass ein Film mit seinem Bild aufhört und beginnt. Ich will immer tanzen nach Claire Denis. Verblüfft hat mich der grandiose Voy-age von Roberto Capanna und Giorgio Turi. Er lief vor Antonioni. Ich springe.

Robert Bresson hat mich mit seinen Händen getötet. Er war ganz alleine und ich war ganz alleine.

Es gab noch viel mehr im Kino 2014. Es gibt auch meine Träume vom Kino. Diese könnte ich aber nicht aufschreiben.

Die rote Wüste Antonioni

Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni

Crossing Europe: Abus de faiblesse von Catherine Breillat


In ihrem biografischen “Abus de Faiblesse” erzählt die französische Regisseurin Catherine Breillat von der Filmemacherin Maud, die gleich in der ersten Einstellung, unter dem weißen Schimmern ihrer Bettdecke, in glasklaren Bildern eine Hirnblutung erleidet, die sie halbseitig lähmen wird. Maud setzt nach einer wie gewohnt körperlich inszenierten Rehaphase alles daran, ihre Arbeit fortzusetzen. Dabei stößt sie in einer Talkrunde im TV auf den Kriminellen Vilko, für den sie eine Faszination entwickelt. Maud möchte ihn in ihrem nächsten Film haben und sie beginnt eine merkwürdige Beziehung mit dem Mann, der bald beginnt den Reichtum von Maud auszunutzen und die körperlich leidende Filmemacherin auszunehmen. Die Geschichte basiert auf wahren Erlebnissen der Regisseurin mit ihrer eigenen Krankheit und dem Kriminellen Christopher Rocancourt, der sie um 700000 Euro erleichterte und später verurteilt wurde. Breillat hatte 2009 bereits ein Buch über die Ereignisse geschrieben, das sie unter demselben Titel nun verfilmte.
 
Spannend natürlich, wenn in einem Breillat-Film Isabelle Huppert zu sehen ist, denn wie die Regisseurin ist auch die Schauspielerin für ihre Furchtlosigkeit im Umgang mit Körperlichkeit und Welthass bekannt. Außerdem ist es für Breillat eher ungewöhnlich, mit derart bekannten Gesichtern zu drehen. Huppert spielt den körperlichen Schmerz deutlich nachvollziehbarer als das blinde Vertrauen in Vilko, sie wirkt nicht fremd in der Welt von Breillat, aber nimmt dieser auch viel von der moralischen und ästhetischen Anstößigkeit, da man einer großen Schauspielerin wie Huppert immer beim Spielen zu sieht, nie aber beim sein. Dadurch geht auch die mögliche selbstreflexive 
Interpretation des Titels auf das Schaffen der Regisseurin verloren. Die krampfhafte Krümmung des Armes von Maud lässt einen jedoch schwer schlucken. In den zitternden Gliedern von Huppert wird der ganze Körper zum Schauspiel des Schmerzes. Ansonsten ist Breillat weit davon weg Körperlichkeit zum Zentrum von „Abus de faiblesse“ zu machen. Vielmehr versucht sie sich an einem psychologischen Drama einer Frau zwischen Faszination, familiärer Vereinsamung, Krankheit und beruflichem Ehrgeiz.
Bei jedem Anfall von Maud bewegt sich die Kamera leicht um die sich krümmende Frau, fast wie in einer Liebeszene wird hier der körperliche Verfall zu einer ästhetischen Liebkosung. Zusammen mit der klaren Bildsprache, den präzise gesetzten Farbtupfern und der kühlen Beleuchtung ergibt sich so ein Gefängnis, indem man sich als Zuseher nie wohl fühlen kann, immer aber gespannt bleibt. Vilko selbst ist allerdings derart uninteressant, dass sich vieles nicht erspüren lässt oder erklärt. Der französische Rapper Kool Shen spielt ihn schlicht ohne Ausstrahlung. Was fasziniert diese Frau an diesem Mann? Gegen Ende wird sie sagen, dass dies nicht erklärbar sei, was nichts an der Tatsache ändert, dass es auch gefühlsmäßig schwer nachvollziehbar ist.
Am Ende weint Maud dann lange in die Kamera. Den perversen Humor ihrer bisherigen Arbeiten hat Breillat nicht abgeschüttelt, aber sie hat ihn wie hinter einer Glaswand erscheinen lassen.

Der Crossing Europe Selbstversuch: Dracula 3D von Dario Argento


Ich schaue den Film „Dracula 3D“ als Außenseiter. Als leidenschaftlicher Filmsnob mache ich normalerweise einen weiten Bogen, um jenen cinephilen B-Movie Trash, der die Herzen der Kinonerds bis zur Decke schlagen lässt und der den brachial gefüllten Saal schon beim Auftritt von Herrn Argento persönlich erbeben lassen. „Do you wanna say something about the aestethics or should the audience find out for themselves“, fragt der Moderator. Argento entgegnet italienisch grinsend: “The aestethics? It is my aestethics.” Lustiger Moment. Meine Beobachtungen zum Film sind nicht im Sinn einer klassischen Kritik zu verstehen, dafür fehlt mir einiges an Einblick und prinzipiellem Verständnis. Vielmehr versuche ich-von einem anderen Kinoplaneten kommend-die Faszination am Mitternachtskino nachzuvollziehen. Ich will verstehen, wenn mir Menschen begeistert erzählen, dass sie jetzt Hai-Horrorfilme schauen oder, dass sie Ameisenkillerfilme lieben oder eben Slasher-Trash-Bluspritzorgien, weiß der Teufel was. Also…
Es beginnt (nach einem sehenswerten Video aus Argento-Schnipseln und grellem Geschrei von Hélène Cattet und Bruno Forzani) die alte Geschichte vom Vampirfürsten in dreidimensionalen Bildern und Kinderfarben, ein Stück Irrsinn hier und da, wenn die italienischen Schauspieler auf Englisch mächtige Einzeiler von sich geben oder der (nicht bewegliche) deutsche Exportschlager Thomas Kretschmann mit rumänischem Akzent englisch spricht, um Dracula zu verkörpern. Highlight aber sicherlich Rutger Hauer als Van Helsing, der dem Zuseher nach jeder Szene ein Zeichen zu geben scheint, wie seltsam das alles doch ist. Sehr wahrscheinlich jedoch ist dieser Effekt nichts anderes als unfreiwillige Komik. Lachen tut jedenfalls kaum wer im Kino, ich trinke einen Schluck Wasser und kratze mich unter der riesigen, roten 3D-Brille.
Argento mischt zu/sehr/unheimlich große weibliche Brüste mit Blut, ein bisschen Romantik, Spezialeffekte und ein wenig Grusel und macht das in einem 3D, das aussieht wie frisch aus dem Kinderparadies. Sein Framing scheint oft wie aus einem „How to Film 3D“ Handbuch. Er stellt Büsche in den Vordergrund und platziert seine Figuren wie vor einem Greenscreen, sodass man immer das merkwürdige Gefühl hat, dass sie gar nicht in der diegetischen Welt sind, sondern irgendwo auf halbem Weg im Rechner steckengeblieben sind. Seine Blenden haben nichts in diesem Film verloren. Sie nehmen dem Film jedes Gefühl für seine Umgebung und durch die Technik evozierte Gefühl für Modernität. Außerdem geht jeder Rhythmus, jedes Einlassen auf diese Technik dabei verloren. Es scheint einen geheimen Kultcodex zu geben, den ich als Fremder in diesem Universum nicht ganz verstehe. Eine Grundannahme, die besagt, dass man solche Filme nicht gleich ansehen kann/darf/muss/soll wie andere, zumindest nicht dann, wenn man jede unschuldige Freude verspüren will, die Argento seinem Publikum zu geben scheint. Ich hinterfrage die Aussage, dass man sich jedem Film anders nähern muss. Ich hinterfrage, dass man die Qualität eines Films in den Grenzen seines Genres festlegen muss. So richtig zünden will der Film kaum, man kann nicht gerade von einem tobenden Publikum sprechen, ab und an ein Lacher, ab und an schrecken schreckhafte Menschen kurz hoch. 
 
Dracula verwandelt sich in bekannter Manier in so manches Tier. Eine animierte Eule (ich habe Angst, muss an Béla Tarrs circa zehnminütige Zufahrt auf eine Eule in „Sátántangó“  denken), ein animierter Wolf, ein merkwürdig animierter Schwarm von Fliegen (wundervoll) und in einem aufwühlenden Moment, eine riesige grüne, megaanimierte Gottesanbeterin, die ich zunächst für eine Heuschrecke halte, ehe man mich am Folgetag aufklärt. Ab und an muss ich lachen, aber ich zucke auch mit meinen Beinen leicht und voll Entzücken und Verachtung zugleich. Das passiert manchmal, nicht zu oft.
Dann gibt es auch die Musik, sie versprüht Klassik wie Argento Blut. Spannung, Romantik, die großen Themen und Gefühle. Manchmal langweile ich mich, nicht weil der Film einen Raum dafür geben würde, sondern weil er fast zu gewöhnlich scheint. Ich suche dann nach dem Hyper-Trash, den das Programmheft mir versprochen hatte, ich hatte irgendwie mehr Gottesanbeterinnen erwartet. Mir scheint es als wäre die Giallo-Kultfigur Argento inzwischen auf einem Boden gelandet, den seine Fans kaum wahrhaben wollen. Der Applaus nach dem Film ist deutlich müder als zuvor. Die Energie verliert sich in einer gezwungenen (im Gegensatz zu freudigen) sexuell und gewaltvoll überladenen Niedlichkeit, die weder schockiert noch wirklich verwundert, noch jene üppige Eleganz aufweist, für die das Schaffen des Regisseurs lange Zeit stand. „The aesthetics? Which aestethics?“ Ich habe es versucht, ich werde länger brauchen bis ich es wieder tue. 

Crossing Europe: A Mãe e o Mar von Gonçalo Tocha


„A Mãe e o Mar“ (int.: „The Mother and the Sea“) von Gonçalo Tocha ist ein würdevoller Film voller zarter Beobachtungen und Poesie. Er folgt den „pescadeira“ einer Gruppe von Fischerfrauen, die in einem kleinen portugiesischen Dorf (Vila Chã) noch bis vor einigen Jahren das Meer belebten, es zum Teil immer noch tun und damit eine rare Tradition in ihren letzten Lebenszügen begleiten. Dabei werden die Bilder von Tocha vom lyrischen Meer angezogen, immer ist es zu sehen und zu hören, man schmeckt die Meeresluft, spürt den Geruch in allen Gliedern. 
Tocha unterlegt das immer wieder mit einem Voice Over, der fast verfremdend, aber durch Tonfall und Wortwahl geradezu bebend vor Melancholie, die Bilder befruchtet. Immer wieder sieht er Gloria, der letzten Fischerfrau des Ortes bei ihrer Arbeit zu. Ganz still und irgendwie traurig, diese alte Frau und das Meer. Anderswo hängen die vom Meer getränkten Gesichter der Alten der Vergangenheit nach, sie diskutieren in langen Einstellungen über die Frauen, die Vergangenheit ist fester Bestandteil ihrer Gegenwart und damit auch der des Films. Alte Fischerscheine werden gefilmt, traditionelle Methoden und die wenigen verbliebenen Boote einer vergangenen Zeit stehen nebeneinander am Strand. Wie würden nun in eine Einstellungen passen, bemerkt die poetische Stimme.
Ein Mann behauptet, dass er mit dem Meer sprechen könne. Das Meer spricht mit dem Film. „A Mãe e o Mar“ reiht sich in jene Reihe anthropologischer Dokumentationen ein, die mit ihrem zurückhaltenden Stil eine Wirkung entfachen, die das Leben, auch wenn es nicht lebendig scheint, nicht nur oberflächlich oder wissenschaftlich betrachtet, sondern förmlich aufsaugt und damit erlebbar macht. Vorreiter für dieses filmische Erleben war „Forest of Bliss“ von Robert Gardner. Bei Trocha wird sein Treiben durch die Welt mit einem Bedauern kombiniert, das aus den Untiefen cinephiler Neurosen entstammt, ein mysteriöser, melancholischer Trip wie durch die Augen von Ventura in Pedro Costas  „Juventude Em Marcha“ gesehen, das Meer scheint zu sterben, das Fischerwesen als letzter romantischer Beruf. Der Überlebenskampf von Viscontis neorealistischer Meeressymphonie „La terra trema“ hat sich in jenes Bild verwandelt, das der italienische Regisseur beispielsweise mit dem Leuchten der Boote in der Nacht zeigte, ein Bild, indem das Leiden und Überleben eben nicht mehr so akut sind wie im Neorealismus, sondern eines indem eine hoffnungslose Dürre des Meeres, die letzten Augen der Fischerfrauen langsam erlischen lässt, indem man nicht mehr aufbegehren kann, sondern nur mehr seine Liebe zum Meer bewahrt.
Auch versäumt es der Regisseur nicht, immer wieder den Spiegel auf den Prozess des Filmemachens zu legen. Ein Tonmann steht im Meer, die Kamera am Strand, immer wieder fragen die Protagonisten, ob sie nun aufhören könnten zu sprechen. In langen Einstellungen, die Gloria bei ihrer Arbeit beobachten, entsteht ein wahrhaftig schönes Bild von Einsamkeit, berührend.

Crossing Europe: Exhibition von Joanna Hogg

D. und H. ein Künstlerpaar in einem Künstlerhaus: Joanna Hogg beleuchtet in ihrem neuesten Film mit einer fast beängstigenden und verachtenden Kühle eine Beziehung in einem eigenwilligen Stück Architektur. Dabei treten die beiden Figuren und das Haus in einen Dialog, der sich zwischen sexuellen Entladungen, fehlender Kommunikation und Angst vor Liebe und Hass abspielt und immer alle drei Beziehungsteilnehmer betrifft. Die Beziehung hängt und stirbt am Ort, an dem sie gelebt wird. Wir treffen D. und H. als sie gerade überlegen das Haus nach 18 Jahren aufzugeben. Ihre Kinderlosigkeit und ein nicht näher diskutiertes Ereignis in der Vergangenheit drücken auf die Beziehung, die sich immer wieder fängt, um weiter zu fallen.

 
Die kleinen Beobachtungen der schwindenden Gefühle zwischen Arbeit und Lust, Langeweile und stillem Drama sind die große Stärke von Hogg, die in diesem persönlichen Kammerspiel eine Kino-Psychologie zeichnet, die weit über ein bloßes Drehbuch hinausgeht. Damit ist gemeint, dass sich das Verhalten der Figuren immer zuerst auf ihre Lebensumstände und ihre Umgebung bezieht und erst in einem zweiten Schritt einer äußerst offenen Narration folgt.
Im Kern des Films steht wohl die titelgebende „Exhibition“. Das Haus mit seinen riesigen Fensterfassaden ist gleichermaßen eine lichtdurchflutete Aussichtsplattform (die auch durchaus für voyeuristische Überwachungen genutzt wird) und ein Ausstellungsraum, der vor allem für D., die als Performance-Künstlerin arbeitet, zur Versuchung wird. In den statischen Einstellungen zeichnet sich (wie häufig schon bemerkt wurde) in Verbindung mit der modernen Architektur eine Bildsprache, die an Michelangelo Antonioni erinnert ab. Ähnlich wie der italienische Meister folgt Hogg auch einem strengen Formalismus, der immer zugleich den Blick/das Kino und die Figuren im Auge behält. Reflektionen und der Blick aus dem Fenster widersprechen sich hier nicht, sie werden zu einem Bild, weil die Spiegelung immer im Fenster erscheint.
Erstaunlich oder bezeichnend, dass innerhalb der Beziehung nur wenig nach außen getragen wird. D. kann ihre künstlerischen Tätigkeiten nicht mit ihrem Mann teilen, H. kann seine Gefühle nicht mitteilen. Es entsteht eine Leere und Kommunikationslosigkeit. In einer sehr selbstreflexiven Geste inszeniert Hogg ein Publikumsgespräch im Kino zwischen den Partner, dem D. zu allem Überfluss auch selbst als Zuseher beiwohnt.
Hogg hat ihr Ehepaar mit Viv Albertine und Liam Gillick besetzt, zwei Menschen, die durchaus schon vor Kameras gestanden haben, aber noch nie in einem Film gespielt haben. Ihre Nähe zum Haus und untereinander belebt den Film, gibt ihm seine zärtlichen und einsamen Momente. Es ist erstaunlich wie nahe und abgenutzt die beiden in dieser Konstellation wirken. Hogg hat sie sechs Wochen lang während der Drehzeit tatsächlich im Haus leben lassen. Dieses wurde zum Teil vom Architekten James Melvin gestaltet, dem der Film gewidmet ist.
Außengeräusche und Geräusche im Haus werden äußerst sorgfältig eingesetzt. D. und H. telefonieren, um sich im Haus zu verständigen und wohl auch, um sich nicht bei der Arbeit zu stören. Nach jedem Telefonat hört D. wie H. im Zimmer über ihr Möbel verrutscht oder sich bewegt. Es ist ein Ächzen des Hauses, das als letzter Schrei des Partners zu vernehmen ist. Jenem Haus wendet sich D. auch sexuell zu. Sie versucht mit Hilfe ihres Stuhls etwas zu spüren, sie umarmt die eckigen Wände, sie reibt ihren Körper an den Jalousien. Hier treffen sich Symbolismus und Performance, vielleicht etwas gewollt, nie aber unnötig. Ein plötzliches Aufheulen eines Motors in der Nacht ist immer zugleich naturalistisch und ein Effekt.
Jener Naturalismus des Films entpuppt sich als lange entfremdet.  Dunkelheit und Stille werden gefolgt von plötzlicher Helligkeit und Lärm. Jeder Gegenschuss kommt aus dem Hinterhalt. Die Versuchung ist immer zugleich ihr Absterben und im Absterben entsteht schon der nächste Funken Hoffnung in einer leeren Seele, die sich Beziehung nennt, in einer leeren Hülle, die sich Haus nennt. Plötzlich gibt es eine Zeitlupe, Musik und einen Männer, die Feuer speien. Ob dabei Glas vor den Figuren ist oder nicht ist gar nicht mehr entscheidend, weil dafür ist „Exhibition“ zu sehr Film.