Diagonale 2019: Avantgarde-Rundschau

ORE von Claudia Larcher

Wie immer habe ich meinen persönlichen Diagonale-Spielplan rund um die Programme des „Innovativen Kinos“ (wie hier jene filmischen Formen heißen, die sich weder sauber als Spielfilm, noch als Dokumentarfilm einordnen lassen – innovativ sind sie nicht immer) aufgebaut. Und trotzdem eines dieser Programme verpasst. Da diese „Rundschau“ keinen Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit erhebt, sondern (ohnehin subjektive) Wahrnehmungen präsentieren will, störe ich mich aber nicht weiter daran.

Ich habe schon im Rahmen früherer Diagonale-Ausgaben darüber geschrieben – und ich bin bei weitem nicht der einzige, der diese Meinung teilt –, dass Österreich als Filmland vor allem im Avantgarde-Bereich überdurchschnittliche Leistungen erbringt. Das hat sich auch 2019 nicht groß geändert. Problemlos ließe sich das untenstehende „Best of“ um zusätzliche Titel erweitern, ohne dass die Qualität massiv abfallen würde.

animistica von Nikki Schuster

animistica von Nikki Schuster

Unstet und sprunghaft schleicht die Kamera über den Boden. Die Pflanzen- und Tierwelt der mexikanischen Wüste zeigt sich in voller Pracht. Ornamentale Strukturen schmücken die Leinwand, sie sind nicht von menschlicher Hand geschaffen. Aus nächster Nähe werden hier die Oberflächen organischen Lebens (und Todes) untersucht. Was aus der Ferne als kompaktes, glattes Ganzes erscheinen mag, entpuppt sich durch die Lupe als porös und zerfurcht. Dünne Stacheln werden zu monströsen, furchterregenden Gebilden, das Fell von Säugern wird zu einem ruppigen Teppich. Begleitet werden diese Bilder von einem Sounddesign, dass ihnen eine weitere Dimension hinzufügt. Die Bewegungen der Kamera entlang der wundersamen Oberflächenstrukturen werden durch den Ton zum Horrortrip. Als würde sich ein mittelalterlicher Krieger am Ende einer blutigen Schlacht über Leichenberge kämpfen, wird der suchende Blick der Kamera von Knack- und Matschgeräuschen zu einer Studie des Ekels umgedeutet. Die Natur erscheint alles andere als unschuldig. Sie entblößt ihre hässlichen Seiten, zeigt ihre furchterregendsten Formen. animistica ist kein wissenschaftlich-objektiver Blick durch das Mikroskop, kein Naturfilm, der seinem Zuseher neue Perspektiven auf die Welt näherbringen will, er ist ein Test der Wahrnehmung, der zur Diskussion stellt, ob Schönheit und Grausamkeit nicht zwei Seiten einer Medaille sind.

Antarctic Traces von Michaela Grill

Antarctic Traces von Michaela Grill

Die Durchlässigkeit der verschiedenen filmischen Kategorien hat zugenommen, seit Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber die Diagonale leiten. Der zunehmenden Menge an dokumentarisch-fiktionalen Hybriden und essayistisch-experimentellen Formen kommt eine solche Auflösung der starren Grenzen entgegen. So wird Antarctic Traces von Michaela Grill im Katalog etwa als Dokumentarfilm geführt, aber in einem Programm des „Innovativen Kinos“ zusammen mit Avantgarde-Filmen gezeigt. Hier ist Grills Film sehr gut aufgehoben. Ein filmischer Essay über die South Georgia Islands und vor allem über den Walfang, der dort in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrieben wurde und beinahe zur Ausrottung der ganzen Spezies geführt hat. Eine Frauenstimme liest Exzerpte aus Logbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen und Erfahrungsberichten zum Thema. Dazu sieht man die Ruinen der verlassenen Walfangstationen an der Küste, die von der Natur (namentlich von Robben, Seeelefanten und Pinguinen) wiedererobert wurden und Fotografien des Meeres. Eindringlich und bildlich wird die Jagd auf die Riesen der Meere geschildert, ohne dass je Fotos oder Bewegtbilder von Walfängern zu sehen sind. Erst zu den Credits bieten historische Fotografien die Gelegenheit des Abgleichs der Schilderungen mit konkreten Bildern. Man ertappt sich dann beim Gedanken, dass es diese Bilder gar nicht gebraucht hätte. Die Wortgewalt der Erzählung vermag es, einen Film zu tragen (Duras wird in diesem Text auch noch Thema sein).

Armageddon von Kurdwin Ayub

Armageddon von Kurdwin Ayub

Gäbe es bei der Diagonale eine eigene Programmreihe für Animationsfilme, wäre Armageddon dort wohl am besten untergebracht. Da Kurdwin Ayub seit Jahren zu den Konstanten des „Innovativen Kinos“ gehört, hat man ihren doch recht konventionellen Animationsfilm Armageddon ebenfalls dort geparkt. Obwohl ich diese kuratorische Entscheidung nicht ganz nachvollziehen kann (wäre er nicht besser in einem Kurzspielfilm-Programm aufgehoben), gibt es mir immerhin Gelegenheit an dieser Stelle darüber zu berichten. Denn das Ergebnis – unabhängig von seiner leidlichen Kategorisierung – überzeugt durch Humor mit Stirnrunzelfaktor. Die Ausgangssituation ist einfach erklärt: Wir schreiben das Jahr 2138, die beiden Wiener Vampire Anton und Franz sitzen auf einer Couch und werden interviewt. Sie berichten von der Islamisierung des Landes und von der unterschiedlichen Blutqualität verschiedener Ethnien (Asiatinnen sind am begehrtesten, treten sie unseren Breiten doch nur in Gruppen auf). Gefährlich nah am Abgrund der political uncorrectness bewegt sich dieses Gespräch. Jede Pointe lässt einen unwillkürlich zusammenzucken: Es geht um Geschlecht, Ethnien, Religion – ist Lachen darüber überhaupt erlaubt? Das Fazit: Anton und Franz sind zwar keine Puppen, sondern aus Knetmasse geformt, doch was vor 40 Jahren bei Waldorf und Statler funktioniert hat, ist heute ungebrochen effektiv.

Cavalcade von Johann Lurf

Cavalcade von Johann Lurf

Eine Art Wasserrad in einem Bach. Es ist Nacht. Das Rad erwacht zum Leben. Immer schneller und schneller dreht es sich, bis es schließlich wieder zum Stillstand kommt. Dazwischen ein Test menschlicher Wahrnehmung und der Leistungsfähigkeit des Kinoapparats. Denn dieses Wasserrad ist kein normales Wasserrad, sondern mit verschiedenen visuellen Elementen besetzt und mit mathematischer Präzision ausgetüftelt. So scheinen die Schaufelräder ab einem gewissen Tempo stillzustehen (wenn sich ihre Umdrehungsanzahl mit der Aufnahmegeschwindigkeit der Kamera deckt), der Ring aus Farbfelder im Inneren verändern je nach Drehgeschwindigkeit scheinbar ihre Anordnung und die Spiralen verändern scheinbar ihre Drehrichtung. Man hätte daraus einen anschaulichen Lehrfilm über optische Wahrnehmung machen können, Lurf hat einen Abenteuerspielplatz für die Augen angelegt.

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

Rainer Kohlbergers Filme zählen zum außergewöhnlichsten, was das österreichische Kino zu bieten hat. Es ist eine Mischung aus technologischer Konzeptkunst und irren Herausforderungen an die menschliche Wahrnehmung. Mithilfe von Algorithmen verformt Kohlberger das Bild bis zur totalen Unkenntlichkeit. Mal sieht das aus wie ein TV-Testbild, mal wie eine fehlerhafte VHS und mal entsteht originär digitale Pixelkunst. Dazu dröhnende elektronische Musik, die sich nahtlos an den Rhythmus der Bilder schmiegt. Im spezifischen Fall von It has to be lived once and dreamed twice wird die Bild-Ton-Wucht durch ein Voice-over ergänzt. Letztlich wirkt die Stimme aber eher störend, verhindert das Versinken in Bild und Ton, lässt nicht zu, dass man sich voll und ganz auf das Wahrnehmungsexperiment konzentriert. Und zugleich lassen es die mächtigen Bildkompositionen nicht zu, dass man sich auf den Text konzentriert. Überfülle kann höchst befruchtend sein, hier entkräftet sie sich selbst.

Muybridge's Disobedient Horses von Anna Vasof

Muybridge’s Disobedient Horses von Anna Vasof

Anna Vasofs Muybridge’s Disobedient Horses ist die Dokumentation verschiedener para-kinematografischer Formen. Versteht man Kino und Film als etwas, das über die Grenzen des Kinosaals und die Versuchsanordnung Projektor-Leinwand-Publikum hinausgeht, dann handelt es sich hier quasi um einen Film im Film. Vom Daumenkino über das technisierte Daumenkino (bemalte Geldscheine in einem elektrischen Zählgerät) zum aufwendigeren Versuchsaufbau mit Pappbechern, Taschenlampen und Pendeln, setzen sich hier unbelebte Bilder in Bewegung (oder werden in Bewegung gesetzt). Die Kamera imitiert dabei nur die Rolle des menschlichen Auges und fängt diese Bewegung ein. Und verdoppelt somit das Spiel mit Licht, Zeit und Bewegung. Auf den ersten Blick wirkt das alles einfach und simpel – nicht mehr als ein show reel der eigenen Basteleien. Und doch mehr als das. Denn die Vorführung der Apparaturen vor dem Kameraauge werden verdoppelt durch die Vorführung des Films vor dem Menschenauge. Ein filmisches Impulsreferat über Wahrnehmung und Dispositivtheorie.

ORE von Claudia Larcher

ORE von Claudia Larcher

ORE beginnt in höchster Höhe. Aus der Vogelansicht wirft die Kamera einen Blick auf das weiter unter ihr liegende Erzabbaugebiet. Langsam wandelt sich der Drohnenblick in einen (unmöglichen) Kameraschwenk. Nahtlos geht die Vogelperspektive in einen irdischeren Blick auf die Maschine der Bergbaulandschaft über. Ebenso nahtlos bahnt sich der Blick schließlich seinen Weg von der Oberfläche tief ins Innere des Bergs. In den Stollen. In nur sechs Minuten von höchsten Höhen in tiefste Tiefen.

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Ein gutturaler Vortrag eines scheinbar dadaistischen Gedichts: „From the stomach in your chest through your throat to the world.” Immer und immer wieder wird dieser Satz vom etwas abgerissenen Mann in Rising wiederholt. Dabei filmt er sich mit einer Videokamera selbst. Was dieser Satz bedeuten soll, wird erst nach einiger Zeit deutlich. Er ist durchaus buchstäblich zu verstehen. Dann nämlich steckt sich der Protagonist den Finger in den Hals und erbricht. Und erbricht wieder. Bis man vor lauter Dreck auf der Linse kaum mehr etwas erkennt. Dazwischen manifestartig die Erklärung dazu. Das Kotzen soll das Sprechen als Kommunikationsmittel ersetzen. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei. Man weiß nicht so recht, was man mit dieser Performance anfangen soll. Im Publikum hat sie gleichermaßen für Gelächter als auch zu geekelter Ablehnung geführt. Eine Reaktion ist dem Film in jedem Fall gewiss.

Victoria von Lukas Marxt

Victoria von Lukas Marxt

Ein Ford Crown Victoria ist der titelgebende Protagonist dieses einstündigen Films von Lukas Marxt. Er durchquert das kalifornische Hinterland. Weite, eintönige Steppen, durchbrochen nur von Eisenbahnschienen. Schier endlose Kolonnen von Güterzügen durchtrennen die gleichsam endlose Landschaft und bilden einen visuellen Referenzrahmen, den sonst nur der verlorene, fahrerlose PKW liefert, der immer wieder auf oder neben der Straße die Landschaft durchzieht. Begleitet wird die Fahrt dieses ungewöhnlichen Protagonisten von Untertiteln, die Filmklassikern entnommen sind und eine humoristische Annotation des Geschehens liefern. Irgendwo an der Schnittstelle von Landscape Art, Structuralist Film und Film-Essay bewegt sich Marxt durch Kalifornien. Und obwohl man anhand der obigen Beschreibung meinen könnte, dass sich der Versuchsaufbau schnell erschöpft, erzeugt er einen immens starken Sog. Die verschiedenen textuellen Ebenen erleben gerade genug Abwechslung, dass es immer etwas Neues zu sehen oder hören gibt, wenn das Bildfeld erschöpft scheint. Ein bisschen (und nicht nur wegen der Züge) erinnert Victoria an die früheren, analogen Arbeiten James Bennings (als dieser noch nicht so sehr von seiner eigenen künstlerischen Brillanz eingenommen war).

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

Man denkt sofort an Lumière: Die Explosion eines Fabriksgebäudes wird zeitlich umgekehrt. Aus der Implosion richtet sich das Gebäude wieder auf. Die Gebäude, um die es sich handelt, sind Anlagen von Kodak in Rochester, New York. Bei den Aufnahmen handelt es sich um Youtube-Clips von der Sprengung von Teilen des Werks im Rahmen der Konsolidierungsmaßnahmen des Unternehmens. Nur mit Ach und Krach hat Kodak den unaufhaltsamen digital turn in der Filmindustrie überlebt. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen dieser Videos war das Überleben keineswegs gewiss. Die Ungewissheit über die Zukunft des Kinos und des Analogfilms und die Erinnerung an seine frühesten Gehversuche gehen hier Hand in Hand. In kurzer und recht simpler Form errichtet Viktoria Schmid hier ein turmhohes Gedanken- und Referenzgebilde.

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

Aufnahmen aus dem Zugfenster gehören zu den Konstanten der Filmgeschichte. Siegfried A. Fruhauf liefert eine doch recht ungewöhnliche Variation dieses Motivs. Er zerschneidet die Aufnahmen der Zugfahrt und ordnet sie neu an, lässt sie tanzen im Takt der gleichnamigen Schlagzeugkomposition von Jörg Mikula. Der Wirbel der Zugfahrt-Bilder steigert sich bis hin zum Fast-Flicker. Umso schneller, desto mehr scheint Fruhaufs Ästhethik in ihrem Element. Und bald geht es nicht mehr um Züge, sondern um das Blitzen und Blinken der Bilder auf der Leinwand.

Neregių žemė von Audrius Stonys

Honourable Mention: Mavericks

Es ist fast unfair, diesen Vergleich anzustellen, aber das beste Programm „Innovativen Kinos“ wurde gar nicht in dieser Programmschiene gezeigt. Im Rahmen der Personale zu Ludwig Wüst, bekam der Filmemacher auch Gelegenheit eine Carte Blanche zu programmieren. Das Resultat war eine Reihe von vier fulminanten mittellangen Filmen, die jeder für sich das meiste, was sonst so am Festival gezeigt wurde, mit Leichtigkeit in den Schatten stellte: ob das betont unsaubere Porträt des Zeitungsboten Bobby in Robert Franks Paper Route, die dystopisch anmutenden Industriebrachen in Audrius Stonys‘ depressiv-melancholischem Neregių žemė, die philosophische Bild-Text-Juxtaposition in Marguerite Duras‘ L’homme atlantique oder Artavazd Peleshians große Armenien-Symphonie Menq. Selten war auf der Diagonale 2019 ein klareres Bild filmischer Haltung zu erkennen, selten wurde das Publikum so auf den Prüfstand gestellt – denn die Aneinanderreihung der drei Filme am Ende in ihrer ultimativ Schwere und Schwermütigkeit in Kombination mit der akuten Sauerstoffnot und der Sauna-Atmosphäre im Rechbauer-Kino (könnte man hier vielleicht eine Lüftung einbauen?) erforderte einiges an Durchhaltevermögen. Wer blieb, wurde belohnt.

Viennale 2017: ★ von Johann Lurf

★ von Johann Lurf

Das Konzept von Johann Lurfs erstem Langfilm ★ ist schnell erklärt. Neunzig Minuten lang sind Sternenhimmel aus über hundert Jahren Filmgeschichte zu sehen. Lurf hat sich dazu einige Beschränkungen auferlegt – außer dem Himmel, den Himmelskörpern und gegebenenfalls Wolken und Satelliten darf nichts anderes im Frame zu sehen sein, auf der Tonspur ist immer der Ton des Originalfilms zu hören. Angeordnet hat Lurf die Ausschnitte streng chronologisch, das freilich lässt sich beim erstmaligen Sehen des Films nicht mit Sicherheit bestimmen. Zwar beginnt der Film mit Passagen aus Stummfilmen, die folglich ohne Ton präsentiert werden und man kann mit Fortdauer des Films erkennen, wie die Aufnahmen technologischer ausgereifter erscheinen, doch mit Ausnahme einiger Filmschnipsel, die man je nach filmgeschichtlicher Kenntnis verorten kann, löst sich das Rätsel der Logik der Montage erst mit den Ausführungen des Regisseurs. Man kann diese Form der filmischen Anordnung kritisieren, besteht die Arbeit des Filmemachers in diesem Fall eher in der Recherche der einzelnen Filmausschnitte, als in deren künstlerischer Zusammensetzung, doch das Resultat wirkt erstaunlich rhythmisch. Der Zufall als Cutter, ordnet die Sternenhimmel mal rasant wechselnd, mal langsam fließend an, Farben, Töne und Bewegungen folgen willkürlich aufeinander an, wirken aber weniger beliebig, als man meinen sollte. In seinen stärksten Momenten wirkt der Film wie ein sorgsam konstruierter Remix, ihn zu sehen ist ein manisches und zugleich sinnliches Erlebnis.

★ von Johann Lurf

Neben der visuellen Sensation, gibt ★ aber auch Auskunft über filmgeschichtliche Konventionen. Der Zusammenschnitt der Filme aus über einhundert Jahren lässt Rückschlüsse über die filmische Gestaltungsweise von Sternenhimmeln im Laufe der Jahrzehnte zu. Verschiedene Bewegungen kommen regelmäßig vor: das Eintauchen in den Sternenhimmel beziehungsweise dessen Gegenbewegung – das langsame Zurückziehen; später das langsame Abkippen vom Sternenhimmel in Richtung Horizontlinie (das im Film immer zu Ende geht, bevor die Oberfläche erreicht ist); der Blick in den Nachthimmel, wo Sternschnuppen (oder in einer parodistischen Variation, Satelliten) vorüberziehen; rasante Fahrten durch den Weltraum in Überlichtgeschwindigkeit, in der die Sterne ihre Erscheinung verändern. Auffällig ist auch die zunehmende, wissenschaftliche Präzision der Sternendarstellung. Während anfangs noch oft willkürliche Lichtpunkte vor dunklem Hintergrund zu sehen sind, werden in späteren Filmen öfter korrekte Darstellungen des Sternenhimmels ausgewählt. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass erst die technischen Rahmenbedingungen geschaffen werden mussten, um überhaupt in den Nachthimmel oder in Planetarien filmen zu können (das war in größerem Rahmen erst nach dem Zweiten Weltkrieg möglich), später erleichterte die Möglichkeit der Simulation des Himmels mittels Computertechnik die korrekte Darstellung von Himmelskörpern. Größer gedacht legt der Film auch inszenatorische Konventionen offen, die nicht direkt mit der Darstellung des Sternenhimmels zu tun haben: Der rhetorische Stil der Erzählerstimmen, die sehr oft zu hören sind, verändert sich, ebenso die Musikuntermalung und die Dialogregie – auch die Weiterentwicklung der Tricktechnik kann am Beispiel der Sternenhimmel nachvollzogen werden.

Im Gesamtwerks Lurf, der bisher in erster Linie mit streng komponierten und rhythmischen ausgefeilten Bild-/Tonkompositionen auf sich aufmerksam machte, ist dieses 90-minütige filmhistorische Hasardstück zugleich Ausreißer, als auch logische Weiterentwicklung. Ausreißer wegen der Länge des Films, dem Produktionszeitraum von mehreren Jahren und der Form der Montage, Weiterentwicklung, weil es sich bei ★, wie bei seinen meisten anderen Filmen, um eine experimentelle Untersuchung handelt, in der die Erfahrungsweise bestimmter Bild-/Tonfolgen getestet wird. Wenn in Twelve Tales Told noch in kleinerem Rahmen die Regeln der Selbstinszenierung von Filmstudios in Frage gestellt wurden, so setzt ★ dieses Interesse Lurfs mit seiner Betrachtung filmischer Sternenhimmel fort. Lurf hat angekündigt sein Sternenprojekt noch weiter fortzusetzen, um irgendwann alle Sternenhimmel der Filmgeschichte in einem Mammutfilm zu vereinen. Ein kaum zu erreichendes Ziel (abgesehen davon, dass sicherlich bereits etliche filmische Sternenhimmel für immer verloren sind), aber eine sympathische Utopie.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: NEBEL

Andersen Thoughts we had

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel bestreiten den vorletzten Tag des Festivals im Nebel ihrer Wahrnehmung, die gleich einer gegenwärtigen Erinnerung nicht mehr unterscheiden will zwischen Heute und Gestern und deren Morgen schon längst vergangen scheint. Dabei dringt durch diesen Nebel immer wieder ein kurzes Licht, das man festhalten will, damit es nicht wieder verschluckt wird, in den hunderten Kritiken, die man von Filmen liest und die alle voneinander abschreiben, weil die Kritiker vergesslich sind.

Mehr von uns zur Viennale

ThoughtsThatOnceWeHadThe

Patrick

  • Jemand sagte gestern zu mir, dass The Thoughts That Once We Had von Thom Andersen ein perfekter Abschlussfilm für die Viennale gewesen wäre, weil er voll wäre mit dieser sentimentalen Nostalgie und dem Glauben daran, dass Kino die Menschen (noch) verändern könne. Mir kam es ein wenig anders vor. Auf mich wirkte der Film, als würde er das Kino auf einem alternativen Kontinent verorten, einem Kontinent, auf dem man lebt, wenn man mit dem Kino ist (ein persönlicher Kontinent), der in einem Wechselspiel mit der Realität existiert und daher notgedrungen verändernd auf diese wirkt in der individuellen Wahrnehmung. Es ist für mich keine Frage einer konkreten Utopie, sondern einfach das Wirkungsprinzip des Kinos. Aber vielleicht zeigt das, wie stark ich in dieser Utopie lebe. Vielleicht geht es dem Film ja ähnlich und er lebt in einer Utopie, die persönlich ist, obwohl sie eigentlich von Dringlichkeiten erzählt.
  • Das Programm in Wien will natürlich etwas mit dem Kino und daher glaubt es auch an etwas aus dem Kino. Nur scheint mir das Festival (genau umgekehrt) dringlich zu sein, obwohl es eigentlich von Persönlichkeiten erzählt.
  • Jacques Rancière: “An infinity of emotions is created in cinema – gestures, gazes, movements of bodies, possibilities for bodies to relate to each other: this is the treasure we should cherish. It’s fundamental with regard to the formatting of fictions, of expressions, of expected effects. This is why cinema has to be thought of as a global historic adventure – we lose sense of it if we continue to focus on the ‚releases of the year‘. Rather than dabbling in actuality we ought to take up cinema as a whole, in relation to all its potentialities, which assumes a real militant cinephilia. We should rethink cinema as part of a history of possibilities of life” (https://mubi.com/notebook/posts/common-ground-pedro-costa-and-thom-andersen-in-dialogue)
  • John Ford, The Informer: Der Widerspruch aus einer fragilen und sinnlichen Welt mit Lichtern, die durch Holz dringen, Nebel, dessen Geburt Ford hier filmt und der Rauheit eines überdeutlichen Schauspiels von Victor McLaglen. Es endet in Vergebung, aber man muss genau hinsehen, weil es nicht so einfach ist.
  • The Exquisite Corpus erscheint fast wie ein Alien nicht nur im Kurzfilmprogramm der österreichischen Avantgarde-Filme, sondern im gesamten Schaffen im deutschsprachigen Raum. An einem anderen Tag hatte ich mich darüber unterhalten, dass im deutschsprachigen Kino oft das Begehren und die Schönheit fehlen würde. Tscherkassky ist einer der ganz wenigen Filmemacher aus unserem Kulturkreis, der – obgleich mit Dekonstruktionen – von einem Begehren erzählt und einer fast lasziven Dekadenz, die man spürt, weil seine Filme wegen ihrer formalen Brillanz, keinen Millimeter Film nicht mit Immersion und Zersetzung aufladen. Bei The Exquisite Corpus bedeutet das ein schlimmes Fieber, das man immer dann bekommt, wenn man penetrieren will, eine Angst vor Krankheit und Nacktheit, die man beide immerzu fordert und anlockt, ein Blick, der Körper verletzt, weil er aus Film besteht oder aber ein Film, der uns die Krankheit des Blicks erst bewusst macht.
  • Johann Lurf dagegen setzt seine Fragen an die Politik der Perspektive fort. Von wo man worauf schaut, wird bei ihm immer interessanter. Mit Capital Cuba liefert er gewissermaßen die politisierte Version von Tscherkasskys Shot/Countershot, wobei bei Lurf die Pointe im Subtext liegt.
  • Ich will mehr mit der Hand schreiben.

Andersen Hou hsiao Hsien

Ioana

  • Der Nebel in The Informer erinnerte mich an wie sehr ich The Long Voyage Home vermisse. Wahrscheinlich wird die Viennale von einer Serie von Filmabenden gefolgt, bei der ich die Filme zeigen werde, auf denen mir andere Filme Lust gemacht haben.
  • Sollte man Filmstudenten erst The Thoughts That Once We Had als Appetizer zeigen oder die Filme, die in ihm vorkommen?
  • Wieder ein Programm im Filmmuseum, das mich in Staunen darüber versetzt, was es alles auf Film gibt. Dieses Mal ging es um Tier- und Menschengärten. Wir sollten irgendwann Archive durchwühlen und Schätze finden, vorzugsweise vor Weihnachten. Auch wenn man eigentlich Bestandlisten durchwühlt.
  • Hat die Konzentration in den Filmen gefehlt oder ist das meine Reaktion auf fast zwei Wochen Festival?

 

Viennale 2015: Singularities of a Festival: GOLD

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel geben auch am vierten Tag Einblick in ihre Träume in den Nächten der Viennale. Träume, in denen man sich manchmal an Filmtitel erinnert, manchmal nur an Bilder, manchmal einen Gedanken fassen kann, manchmal nur ein Gefühl.

Tag 1 + Tag 2+ Tag 3

EXQUISITE_CORPUS_3

Ioana

  • “Vergessener Orgasmus des Kinos” hast du gestern über Carol geschrieben. Das war heute für mich The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky eine halluzinierende Orgie, bei der die Körper aus (größtenteils) vergessenen erotischen Filmen von dem dominierenden und langsam auch in Vergessenheit geratenen Körper des Filmmaterials selbst angemacht, penetriert, zersplittert werden. Exquisite indeed.
  • Es gibt nichts, was man Gaav vorwerfen könnte. Ich sehe nichts Redundantes, nur absolute Klarheit und Entscheidungen, die einem so stark schlagen, weil sie aus dieser verunsichernden Klarheit und Notwendigkeit stammen.
  • Rate, was sich in Johann Lurfs Capital Cuba zu bewegen scheint: das Ufer oder das fahrende Schiff, von dem aus er filmt? Die Antwort freut mich, sogar zum xy. Mal.
  • Ich weiß nicht, warum wir Heart of a Dog anschauen wollten.
  • Ich habe es endlich geschafft, mich auf dem 5-minütigen Weg zwischen Gartenbaukino und Metrokino nicht zu verirren. Nur dann musste ich, als ich beim Eingang ins Metro stand, zurück zum Gartenbau gehen, weil ich falsch nachgeschaut habe, wo der Film gezeigt wird.

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Patrick

  • Es war ein Tag des Begehrens: Ich habe Frauen gesehen, die ihre Oberschenkel entblößten. War das gefährlich?
  • Mit Lav Diaz und Storm Children, Book One fällt man in eine andere Zeit, eine Zeit, die einem im Festivaltrubel daran erinnert, dass es sowas wie Zeit gibt, dass man sich Zeit nehmen kann. Ich würde den Film aber nicht darauf reduzieren. Es ist auch eine Erkundung der Verlorenheit von Kindern im Angesicht einer Katastrophe, ein mit den Kindern treiben und mit ihnen entdecken, was eine furchtbare Katastrophe auch beinhaltet. In diesem Sinn ist es fast ein anarchischer Film. Allerdings liegt über ihm der bestürzte Schatten einer Distanz, die Lav Diaz in diesem wundervollen Werk wahrt.
  • Wo sind die Stative, frage ich mich. In Kaili Blues, der in meinem Kopf wächst wie eine sich öffnende Blüte und bei Lav Diaz gibt es an verschiedenen Stellen, die alle mit Wasser zu tun haben, eine auffällige Wackelästhetik. Währenddessen läuft mein Sitznachbar, ein guter Bekannter, mit einem Stativ ins Kino. Will er damit die Bilder stabilisieren? Sollte er?
  • Die Zahl 15 erscheint in meinem Kopf. Wie strukturiert man einen Film?
  • Hierba von Rául Perrone ist ein Film über die Laszivität der Blumen von Edouard Manet

 

Diagonale 2015: Avantgarde-Rundschau

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Die Reihe der Programme zum „Innovativen Kino“ gehören für mich bei der Diagonale zu den Fixpunkten. Man könnte sogar sagen, ich baue mein Programm rund um diese Avantgarde-Filmblöcke. Das liegt zum einen an meinem grundlegenden Interesse an der filmischen Avantgarde, und zum anderen, dass hierin (wie auch in der dokumentarischen Form) die besondere Stärke des österreichischen Filmschaffens liegt. Hinzu kommt, dass die Macher dieser Filme oft aus dem Bereich der Bildenden Kunst stammen, sich selbst sehr viel stärker als Künstler wahrnehmen als so mancher Spielfilmregisseur und dementsprechend exzentrisch daherkommen, was die Publikumsgespräche oft zu äußerst erquickenden Angelegenheiten werden lässt. In der Natur der Diagonale, als Festival, das einen Querschnitt des österreichischen Films bieten soll, liegt es natürlich, dass nicht jeder Film, der gezeigt wird ein Knaller sein kann, jene Werke, die mir besonders imponierten, will ich aber im Folgenden hervorheben (und dabei alphabetisch vorgehen).

back track von Virgil Widrich

back track von Virgil Widrich

Meine Hirnwindungen werden überbeansprucht beim Versuch über diesen Film zu schreiben, denn trotz Erklärungsversuchen des Kameramanns und Set-Fotografien habe ich nicht ganz verstanden, wie back track entstanden ist. Das Ergebnis ist eine lose zusammenhängende Geschichte, aus verschiedenen Ausschnitten von Filmklassikern, doch das Narrativ ist vernachlässigbar, denn es geht vielmehr um die technische Interpretation des Originalmaterials, die Widrich vornimmt. Eine Kombination aus Rückprojektionen, Spiegeln und Requisiten, mit dem Ziel ein möglichst eindrucksvolles 3D-Erlebnis zu schaffen, und das obwohl nur eine einzelne Kamera eingesetzt wurde, mit der im Stop-Motion-Verfahren aus leicht versetzten Perspektiven Bild für Bild abfotografiert wurde. Film als Konzeptkunst, denn das Wissen um den Arbeitsprozess vollendet erst den Eindruck, den der Film hinterlässt.

Black Rain White Scars von Lukas Marxt

Black Rain White Scars von Lukas Marxt

Die Skyline Hongkongs, im Vordergrund Vegetation, im Hintergrund Bürotürme eklektischen Baustils. Ein statisches Bild, die Kamera wird sich für die nächsten neun Minuten nicht bewegen, zunächst passiert auch im Bild selbst nichts außergewöhnliches, doch dann zieht rasch ein Gewitter auf, dass das Stadtbild mit einem grauen Schleier überzieht. Die zuvor sommerliche Atmosphäre wird zusehends von einer ungesunden Düsternis übermannt, die Bürotürme werden zu Raumschiffen und Phalli. Mittlerweile hat sich auch der Charakter der Tonspur verändert, denn der anfängliche naturalistische Begleitton, der ohne weiteres aus der unmittelbaren Nähe der Kamera hätte stammen können, hat sich zu einem abstrakten Hintergrundlärm entwickelt. Marxt fängt die nackte Welt ein und vermag es, sie ganz ohne Kamera- oder Montagetricks zu einer dystopisch-mysteriösen Schattenwelt zu verfremden.

EMBARGO von Johann Lurf

EMBARGO von Johann Lurf

Ein Film, der für uns alle in der Jugend ohne Film-Redaktion zu einem Highlight des Festivals zählte. Die Unschuld der ersten Sichtung lässt Aufnahmen eines Industriekomplexes in der Nacht vermuten, der von energetischer elektronischer Musik unterlegt wird und durch visuelle Brillanz besticht. Bei intensiverer Auseinandersetzung stellt sich heraus, dass es sich bei diesem Industriekomplex um Rüstungsfirmen handelt, die Lurf auch deshalb aus der Distanz filmt, weil es schlicht keine Möglichkeit gibt, ihr Inneres zu erkunden. Das „Embargo“ des Filmemachers entpuppt sich aber als Glücksfall, denn als geübter Erforscher ungewöhnlicher Architekturen kreiert Lurf eine angemessen gespenstische Atmosphäre und spiegelt so in der Form seines Films, den Charakter dieser zwielichtigen Orte.

Empört Euch! von Friedl vom Gröller

Empört Euch! von Friedl vom Gröller

Auch dieses Jahr war wieder eine Auswahl von neuen Filmen von Friedl vom Gröller zu sehen. Der spannendste unter ihnen, zeigt eine Würgeschlange beim Verschlingen ihrer Beute. Das ist erschreckend einfach und einfach erschreckend, Bilder roher Gewalt, aufgelöst in schwarz-weißen 16mm-Glück.

Exhibition Talks von Sasha Pirker und Lotte Schreiber

Exhibition Talks von Sasha Pirker und Lotte Schreiber

Eine Studie der Ausstellungsräume des Architekturforums Innsbruck, das in einer ehemaligen Brauerei untergebracht ist. Die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes ist in seiner Architektur eingeschrieben und wirkt nach dem Funktionswandel höchst ungewöhnlich, lässt es doch von außen Blicke bis tief in das architektonische Skelett zu. Die Filmemacherinnen bieten ausschnitthafte Fragmente der verschiedenen Räume und auch einige Außenansichten, die von einem gesprochenen Kommentar begleitet werden, der über die Geschichte des Hauses aufklärt. Der Kommentar wirkt jedoch nie redundant, sondern lässt den visuellen Fragmenten genug Platz zur Entfaltung, sodass man den Film auch getrost als sinnliches Bildgedicht in grobkörnigem Schwarzweiß wahrnehmen kann. Zieht man jedoch den Kommentar hinzu, verlässt man den Kinosaal nicht bloß ästhetisch beglückt, sondern auch um ein Stück schlauer.

Into the Great White Open von Michaela Grill

Into the Great White Open von Michaela Grill

Ein geradezu monumentales Landschaftsbild aus Eisschollen, Wolken und Meer, das von einer herumstreifenden Kamera immer so erfasst wird, dass man sich nicht ganz sicher sein kann, was man eigentlich gerade zu sehen bekommt. Der harte Schwarz-Weiß-Kontrast, der stellenweise ins Negativ umschwenkt, das Treiben der Eisschollen und das Treiben der Kamera. Ein Tanz am schmalen Grat zwischen Realität und Traum, am schmalen Grat des Horizonts, der die endlosen Wassermassen vom Himmel trennt. Dazwischen wir, dazwischen die polare Kälte, die sich in den Bildern materialisiert, dazwischen die unendliche Nichtigkeit des Seins, die im Aufeinanderprallen so substantieller Mächte wie Schwarz und Weiß, Licht und Schatten oder Himmel und Erde schmerzhaft deutlich wird.

moon blink von Rainer Kohlberger

moon blink von Rainer Kohlberger

moon blink ist ein Sonderfall in diesem Artikel, denn eigentlich habe ich den Film gar nicht gesehen. Wegen technischer Probleme, einer anscheinend fehlerhaften DCP, sah ich rund die Hälfte des Films gar nicht so, wie sie hätte sein sollen. Der Festivalkatalog beschreibt den Film als ein „codegeneriertes Gewitter, das dem Auge zunehmend den Halt versagt.“ Dieses Gewitter entwickelte sich in jenem Screening, bei dem ich anwesend war, zu einer Art statischem Rauschen, dass man von alten Röhrenfernsehern kennt. Kein „vibrierender Strobo-Bombast“, sondern eine farbintensive Halluzination, die aber ebenfalls als „lost in space and far beyond“ bezeichnet werden kann. Zeugt es von der Qualität eines Films, wenn er noch immer auf eine gewisse Art funktioniert, auch wenn die geheimnisvollen Algorithmen im Inneren des Computers verrückt spielen?

Odessa Crash Test von Norbert Pfaffenbichler

Odessa Crash Test (Notes on Film 09) von Norbert Pfaffenbichler

Eine humorvolle Studie zur berühmten Treppenszene aus Panzerkreuzer Potemkin. In unterschiedlichsten Versuchskonstellationen lässt Pfaffenbichler eine bemitleidenswerte Babypuppe die rasante Fahrt bergab nachspielen. Dabei wird deutlich, dass ein Kinderwagen keineswegs in geordneten Bahnen bergab fährt, sondern sich die Fahrt zu einem wilden, bockigen Ritt entwickelt, den mit der Kamera einzufangen, den Filmemacher vor einige Schwierigkeiten stellt – denn wie hält man diese Dynamik, diese Gewalt fest? Pfaffenbichler bedient sich ungewöhnlicher Kamerapositionen und einiger Montagetricks, die dem großen Sergei Eisenstein alle Ehre Wert sind.

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Ein kunterbuntes stummes Kurzporträt einer Frau im Garten, gefolgt von einem kontraststarkem Musikvideo in Schwarzweiß mit imposanten Mehrfachbelichtungen. Zuerst also ein Musterbeispiel an innovativer Postproduktion, gefolgt von einem in der Kamera geschnittenen Werk allerhöchster Handwerksgüte. Hunter bewegt sich in beiden Fällen auf den breit ausgetretenen Pfaden der Avantgardefilm-Geschichte irgendwo zwischen Len Lye und Kenneth Anger, ohne sich jedoch sorgen zu müssen, in diesen Fußstapfen zu versinken.

Video1 von Kurdwin Ayub

Video1 von Kurdwin Ayub

Der Lauf der Dinge wird zeigen, ob die selbstreferentiellen, ironischen und medienkritischen Filme von Kurdwin Ayub Werke von großem künstlerischem Gehalt sind, oder bloß die kleinen naiven Spielereien, als die sie sie präsentiert. Ayub stellt sich in diesen Arbeiten radikal zur Schau, überlässt sie aber dem Festival- und Kunstmarkt, anstatt sie, ihren Inspirationsquellen gleich, ins Netz zu laden. Dahinter steckt mehr Berechnung als sie zugeben will, und wenn sie sich mit Weinglas und gelebtem Desinteresse dem Publikumsgespräch stellt, spielt sie ihre Fassade so eindrucksvoll weiter, dass man geneigt ist zu glauben, dass das alles womöglich doch nicht mehr als postmodernes Herumgealbere ist. Ich glaube aber, hinter diesem exzentrischen Gehabe steckt sehr viel mehr als jugendliche Wurschtigkeit – selbst mehr als eine feministische Agenda oder eine ironische Kritik an der herrschenden Netzkultur – was genau, diese Filme aber ausmacht, darüber bin ich mir selbst noch nicht sicher.

Diagonale 2015: Was bleibt von einem Festival?

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Was bleibt von einem Festival und seinen Filmen, wenn man zu spät kommt und zu früh wieder fährt, wenn man mit den Gedanken immer wieder woanders ist und sich nie voll und ganz konzentrieren kann auf den Moment, wenn man mehr schlecht als recht seinem eigenen Sichtungsplan hinterherhechelt? Es sind eher Eindrücke als Filme, eher Szenen als Sequenzen, eher Bilder als Atmosphären.

Das Gesicht Zakaria Mohamed Alis, frontal und zentral auf der viel zu nahen Leinwand des Schubertkinos, der mit traurigem Blick in die Kamera von der Unmöglichkeit spricht, die Gesellschaft zu ändern, in Peter Schreiners unverkennbar glänzendem, digitalem Schwarzweiß. Die Frage, zu wem er das sagt.

Die seltsame Trance eines späten Publikumsgesprächs mit einer dispersen Gruppe von FilmemacherInnen nach der gestaffelten Projektion ihrer kurzen Arbeiten in der Sektion „Innovatives Kino“, das absurde Frage-Antwort-Spiel, das mir plötzlich vorkommt wie eine improvisierte Performance und ihren Höhepunkt erreicht, als jemand eine Erkundigung mit den Worten beschließt: „Why does it hurt so much?“

Der Anblick des dementen Vaters aus Albert Meisls schonungslos-voyeuristisch-liebevoller Familiendokumentation Vaterfilm, der am Esstisch sitzend wirkt, als hätte man den Heiligen Jeremias aus dem Caravaggio-Gemälde in das Setting eines provinziellen Einfamilienhauses verpflanzt und auf Video aufgenommen, die Tragik, die Natürlichkeit, das Nicht-Wegschauen-Können.

Die endgültige Erkenntnis, dass es völlig absurd ist, das Kino-Dispositiv mit irgendeinem anderen zu vergleichen, als ich im Festivalzentrum an einer Sichtungsstation sitze und die bespielten Bildschirme links und rechts von mir nicht ausblenden kann, ohne meine Nase gegen das LCD zu drücken, aus dem Augenwinkel wahrnehmend, wie sich Kollegen fahrig durch ihre Filme klicken, auf der Suche nach ich weiß nicht was, dem Money Shot vielleicht?

Die widersprüchliche Erkenntnis, dass es dennoch funktioniert, wenn es funktioniert, als ich an der gleichen Sichtungsstation von der unheimlichen Montage-Musik, dem Sirenengesang der Studiologos in Johann Lurfs großartigem Twelve Tales Told gebannt werde, trotz Ramschqualität und Kleinbild im Kleinbild.

Die belebende Wirkung von Michael Glawoggers Haiku und Die Stadt der Anderen, zwei strahlende, zuckende, überschäumende Kurzfilme, die ihr Ziel in dem Augenblick vergessen, als sie darüber hinausschießen, die alles, alles, alles vom Kino wollen, das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, aber auch die Melancholie und die Sehnsucht und die Trauer, am besten hier und jetzt sofort.

Der Anfang von Constantin Wulffs Ulrich-Seidl-Porträt, wo der Regisseur sich dem Blitzlichtgewitter der Fotografenmauer in Berlin stellt, bombardiert von unablässigen Signalrufen: „Hier! Ulrich! Herr Seidl! Herr Seidl!“ – eine Szene aus dem A-Festival-Alltag, die einem seiner eigenen Filme entstammen könnte.

Der Punkt in Ludwig Wüsts (Ohne Titel), an dem sich alles in konturlose Farbkleckse auflöst und Licht aus der Leinwand hervorzuquellen beginnt wie weißes Blut, womit es der Film nach zwei, drei misslungenen Versuchen doch noch schafft, mich zu überraschen und zu berühren.

Die schöne Heimfahrt, die im Halbdunkel beginnt und im Dunkel endet. Erst als ich zuhause in Wien bin, habe ich das beruhigende Gefühl, wirklich in Graz angekommen zu sein.